Vorgeblättert

Leseprobe zu Hugh Aldersey-Williams: Das wilde Leben der Elemente. Teil 2

15.08.2011.
Au zinc oder An der Theke

Niemand hat der Stadt Berlin so sehr seinen Stempel aufgedrückt wie der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel. Zwar konnte er auf Verlangen auch gotisch bauen, doch gefeiert wird er dafür, dass er einen griechisch inspirierten klassizistischen Stil entwickelte, der seine Monumentalität durch herausragende Detailarbeit mäßigt. In diesem Idiom entwarf er viele der kulturellen Bauten, die Berlin heute seine strenge Würde verleihen - das Schauspielhaus, das Alte Museum, die Singakademie -, sowie Kirchen, Villen und Bauten für seine Gönner, König Friedrich Wilhelm III., und seinen Erben im nahen Potsdam.
     Diese Bauten sind ehrlich und beeindruckend, wie sie es sein mussten, um Preußens wiedererlangte Unabhängigkeit von Napoleons Armeen und dem damit einhergehenden Einfluss des kleinlichen französischen Beaux-Arts-Stils zum Ausdruck zu bringen. Doch manchmal trügt der Schein. Schinkel begann seine Laufbahn als Bühnenbildner - er entwarf die noch immer berühmte halbkugelförmige Sternenkulisse für eine Inszenierung der Zauberflöte -, und es ging ihm mehr um den Effekt als um Authentizität. Daher sind die in die Gesimse und Giebel seiner Bauten eingefügten Statuen nicht immer aus dem Stein oder der Bronze, aus dem oder der sie zu sein scheinen, sondern hin und wieder nichts als hohles Zink. Schinkel schuf auch das Eiserne Kreuz, die höchste militärische Auszeichnung Preußens, und auch dieser Orden war, seinen Namen Lügen strafend, manchmal zum Teil aus Zink.
     Zink war das erste nützliche metallische Element, das nach Eisen, Blei und Zinn bekannt wurde, die Jahrtausende früher entdeckt worden waren. In einem indischen Text aus dem 13. Jahrhundert wird beschrieben, wie dieses Metall durch Erhitzen von Galmei, einer traditionellen Arznei, die hauptsächlich aus Zinkoxid besteht, mit organischer Materie gewonnen wurde. Dies macht Zink zu dem einzigen Element mit zuschreibbarem Entdeckungsdatum, bei dem die westliche Wissenschaft nicht beanspruchen kann, die Erste gewesen zu sein. Nach Europa gelangten Nachrichten über das Metall aus China, das es als erstes Land im großen Maßstab nutzte. Der berühmte Alchemist Paracelsus berichtete im 16. Jahrhundert von Gerüchten über das neue Metall, und es dauerte nicht lange, bis Muster von Zinkwaren auf Handelsschiffen in den Westen gelangten. Erst im 18. Jahrhundert wurden Erzvorkommen ausfindig gemacht, die es gestatteten, das Metall in Europa zu erschmelzen.
     Zink befindet sich in einem Niemandsland zwischen den Metallen der
Antike und den modernen Metallen, die den Erzen durch die Findigkeit der Wissenschaft und die Wucht der industriellen Revolution entrissen wurden. Seine ungeklärte Stellung wird durch die Tatsache unterstrichen, dass es seit Tausenden von Jahren unwissentlich genutzt wurde, nämlich in Gestalt von Messing (einer Legierung aus Kupfer und Zink, die lange vor dem Zink selbst bekannt war, weil ihre Erze oft zusammen auftreten). Zink sollte rasch seine eigenständige Nutzung finden, aber da es nun einmal auf diesem Umweg bekannt geworden war, hatte es nichts von jenem kulturellen Gepäck, welches das Kupfer für Christopher Wren eindeutig besaß.
     Für Schinkel war diese Geschichtslosigkeit eine Verheißung von Möglichkeiten. Der Architekt, der zum Verfechter der in den 1830er Jahren aufkommenden Zinkgießereien wurde, benutzte das Metall für die Statuen und Verzierungen einiger seiner späteren Bauten, und er ermahnte andere Architekten, es ihm gleichzutun. Oft aus Blechen des Metalls gestanzt statt gegossen, wurde die "weiße Bronze" rasch für Statuen aller Art beliebt, insbesondere dort, wo echte Bronze aus Gewichts- oder Kostengründen nicht in Frage kam. Die Produktion beliebter Zinkfiguren von Friedhofsengeln und Gartengöttern lief bald auf Hochtouren. Der Trend griff auf die Vereinigten Staaten über, wo ein gewisser Moritz Seelig, der nach der Revolution von 1848 aus Deutschland geflüchtet war, in Brooklyn eine Zinkgießerei gründete. Sein Geschäft florierte, weil Bürgermeister aus ganz Amerika bestrebt waren, ihre Städte mit möglichst großartigen Skulpturen zu möglichst niedrigen Kosten zu verschönern. Die Statuen der Justitia und die Bürgerkriegsdenkmäler, die heute in den Parks und auf den Plätzen amerikanischer Provinzstädte langsam zerfallen, wurden zum großen Teil aus Seeligs Verkaufskatalogen ausgewählt.
     Zink hat in der Architektur einen Markt, aber vielleicht noch keine Rolle gefunden. Doch das könnte sich ändern, durch ein bemerkenswertes Berliner
Bauwerk.
     1989 gewann Daniel Libeskind den Auftrag für ein neues Jüdisches Museum in der deutschen Hauptstadt. Die Jury, die unter 165 eingereichten Wettbewerbsbeiträgen zu wählen hatte, bewertete den Entwurf des jungen Amerikaners, der auf der fragmentierten Musik Schönbergs, den Schriften Walter Benjamins und Motiven anderer jüdischer Intellektueller basierte, die das kulturelle Leben Deutschlands bereichert hatten, als den glänzendsten und komplexesten - auch wenn er möglicherweise unbaubar war. Er erwies sich jedoch durchaus als baubar, und als der Bau 1999 fertig war, hielt man ihn für so bemerkenswert, dass er für Besucher geöffnet wurde, noch bevor auch nur ein Exponat aufgestellt war. Das Publikum zahlte, um tunnelartige Hohlräume und verdrehte, ständig zurückweichende Räume zu erleben, die die Perspektive, ja sogar die Schwerkraft selbst zu manipulieren schienen und verstörende Effekte hervorriefen.
     Das Äußere ist kaum weniger befremdlich. Das Gebäude beschreibt einen Zickzackschnörkel auf dem Boden, aus dem sich auf allen Seiten nackte Wände erheben, die ganz und gar von Parallelogrammen aus Zink umkleidet sind. Streifenförmige Fenster durchschneiden diese Fassade diagonal und treffen unter scheinbar willkürlichen Winkeln aufeinander, und was sie auf diese Weise trassieren,könnte ein dekonstruierter Davidsstern oder ein Zickzackweg von Wanderung und Verlust sein.
     Libeskind hat erklärt, er habe sich für Zink entschieden, um Schinkels Aufruf zu folgen, und im Sinne einer erkennbaren Geste der Angleichung an das angrenzende Berliner Museum, dessen Fenster in Zink gerahmt sind. Doch eine tiefere Symbolik lässt das Material hier als besonders angemessen erscheinen. Ich stoße darauf, dass Zink in Traumdeutungen mit Wanderungen assoziiert wird. Es ist eine naheliegende Wahl für ein Gebäude, das eine Bürgerschaft von Emigranten feiert, die ein weiteres Mal emigriert sind. Diese Symbolik mag sich vielleicht durch das schlechte historische Timing des Zinks erklären, das zu spät kam, um einen Partner in dem alchemistischen Tanz zu finden, der die Metalle mit den Himmelskörpern des Sonnensystems paarte. Kupfer, Eisen, Zinn und Blei werden jeweils (etwas abweichend, je nachdem, welcher Tradition man folgt) mit einem Planeten assoziiert. Aber Zink tanzt allein. Von Zink heißt es aber auch, es symbolisiere den Fortschritt auf ein Ziel hin, was offenbar zu einem Gebäude passt, das, wie Libeskind sagt, "sich ständig dem Werden nähert".
     Offenkundiger ist der Zusammenhang des Zinks mit Zeremonien der Bewahrung und des Begräbnisses. Oft wird das Metall zur Auskleidung von Särgen benutzt, als eine relativ billige, sichere Alternative zu Blei: Mein Chemie-Berater Andrea Sella erinnert sich aus seiner Jugendzeit in Italien an Begräbnisvorbereitungen, die begleitet wurden vom Geräusch eines Schweißbrenners, mit dem man das Zink des Sarges versiegelte, bevor der Deckel zugeschraubt wurde. Der deutsche Künstler Joseph Beuys hat in einigen seiner Werke Zinkkisten als Behälter für Fett verwendet. Die Aufmerksamkeit der Kritiker galt zwar vor allem dem Fett, das zusammen mit Filz eines der für Beuys typischen Materialien war, doch auch das Zink ist beachtenswert, das nicht zuletzt gewählt wurde, weil es Gegensätze repräsentiert: als Gift und als Salbe, als ein Siegel, das letztendlich zerfällt. In diesem Kontext wird Libeskinds Bau zu einem riesigen Sarkophag, einem metaphorischen Behälter der Leichen der sechs Millionen Juden, die im Holocaust ermordet wurden, und zugleich zu einem Mittel, die Erinnerung an sie zu bewahren.
     Zink kommt auch bei der hygienischen Beförderung von Leichen über Staatsgrenzen hinweg zum Einsatz. Es soll das Eindringen von Keimen verhindern, die den Zerfall des Körpers beschleunigen würden, aber es dient auch dazu, potentiell infektiöses Material einzuschließen. In einem Gedicht von Bertolt Brecht, "Begräbnis des Hetzers im Zinksarg", ist es zugleich eine undurchdringliche Schicht, die ein finsteres Geheimnis bewahrt. Das Gedicht wurde zusammen mit einem anderen, "An die Kämpfer in den Konzentrationslagern", von Hanns Eisler, einem Schüler Schönbergs, in seiner gewaltigen Deutschen Sinfonie vertont. Das Werk sollte im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1937 aufgeführt werden, aber die Nazis nötigten die Veranstalter, Eisler den Vorschlag zu unterbreiten, die Gesangspartien durch Saxophone zu ersetzen, damit Brechts Worte nicht verbreitet würden. Eisler lehnte das natürlich ab und nahm stattdessen eine frühere Komposition ins Programm auf. Die Deutsche Sinfonie wurde erst 1959 uraufgeführt.

     Paris hat fröhlichere Assoziationen zum Zink. Wohin ich auch schaue, sehe ich Dachbedeckungen aus hellen Blechen, die sich an gerundete Mansarden schmiegen. Irgendwann muss das Material Blei und Schiefer abgelöst haben, mit der angenehmen Folge, dass die Dächer nicht mehr dunkle Deckel auf den Gebäuden sind, sondern sich mühelos in dem milchig-blauen Himmel auflösen.
     Doch nachts soll man das Metall angeblich in den Bars finden. Die englische Sprache kennt nicht wenige Synekdochen im Bereich der Elemente - wir benutzen irons [Eisen, gemeint sind Bügeleisen], wir bezahlen mit nickels und coppers [Nickel- und Kupfermünzen, "Fünfer" und "Zehner"], und früher machten wir von wichtigen Dokumenten carbons [wörtlich Kohlenstoff, hier Durchschläge]. Doch in Paris wurden in der Glanzzeit der frühen zwanziger Jahre aus den Bars zincs. Jacques Prevert machte aus dem trunkenen Gefasel eines zingueur, wie man die Zinkdachdecker in der Stadt nannte, an einer Zinktheke ein Gedicht, und Yves Montand verwandelte es in ein berühmtes Lied: "Et la fête continue". Ich finde eines der wenigen noch verbliebenen zincs im Quartier Latin gleich um die Ecke von den berühmten Deux Magots und dem Cafe de Flore. Möglich, dass Ernest Hemingway und Gertrude Stein einst auch diese Bar unterstützt haben. Jetzt von einer Restaurantkette betrieben, weiß man in dem Lokal, dass die einstige zinciness zu seiner historischen Identität gehört, und man kehrt sie entsprechend heraus. Die Stühle sind mit metallischer Farbe gestrichen, der Name des Restaurants ist aus Metallblech ausgestanzt, die Speisekarten sind in Grau gehalten. Doch von dem authentischen zinc ist kaum etwas übrig geblieben. Eine schimmernde neue Bar befindet sich am anderen Ende des Raums, aber sie glänzt verdächtig hell in den Tönen eines anderen Metalls.
     Das machte mich ratlos, und so spürte ich den einzigen Kunsthandwerker auf, der diese Bars noch beliefert und restauriert. Bei den Ateliers Nectoux gleich hinter dem Geschäftsviertel La Defense verrät Thierry Nectoux, dass alles, was er macht, tatsächlich aus Zinn ist, wie schon seit drei Generationen. "Zink haben wir in unserem Atelier nie verarbeitet", sagt er. "Zink darf man für eine Arbeitsplatte nicht verwenden, weil es nicht für den Umgang mit Nahrungsmitteln geeignet ist, und es oxidiert. Außerdem ist es nicht leicht kalt zu schneiden oder zu bearbeiten oder zu reinigen. Zinn ist das genaue Gegenteil." Das leuchtete mir ein. Jeder weiß noch aus dem Chemieunterricht in der Schule, dass Zink sich in Säure auflöst - mit verschüttetem Zitronensaft oder Coca-Cola würde es sich nicht gut vertragen.
     Aber wie kamen die Bars, wenn ihre Theken in Wirklichkeit aus Zinn sind, zu dem Namen zincs? Was Nectoux darüber denkt, klingt abstrus. Er meint zum Beispiel, sie hätten ihren Namen von den zingueurs, die vor der Arbeit bei diesen Bars hereinschauten, um sich gegen die Höhenangst Mut anzutrinken. Das erscheint mir nicht plausibel. Vermutlich wurden Zinkbars zincs genannt, weil sie früher wirklich aus Zink waren, und Zinn war eine Abwandlung dieser Tradition. Der Larousse de Poche meines Großvaters scheint diese Vermutung zu bestätigen. Das Wörterbuch, erschienen 1922, auf dem Höhepunkt der zinc-Ära, verzeichnet als umgangssprachliche Bedeutung des Wortes zinc eine Theke, über die Wein verkauft wird. Über seine Herkunft lässt es sich nicht aus, aber es sagt auch nichts, was darauf hinausliefe, dass die Bars in Wirklichkeit gar nicht aus Zink waren.

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