Vorgeblättert

Leseprobe zu Horacio Castellanos Moya: Der schwarze Palast. Teil 2

03.05.2010.
Montag, 27. März

Es ist merkwürdig, manchmal überkommt mich beim Tagebuchschreiben Sehnsucht nach meiner Jugend. Dann wird mir bewusst, dass ich letzten Oktober dreiundvierzig geworden bin, dass ich drei Kinder und drei Enkel habe und dass ich das Schreiben angefangen habe, um etwas an die Stelle der Gespräche mit meinem Mann zu setzen. Erst mit der Einsamkeit, mit Pericles? sich hinziehender Abwesenheit habe ich es fertiggebracht, dieses schöne Heft aufzuschlagen und den Kugelschreiber über seine elfenbeinweißen Seiten gleiten zu lassen. Ich habe es vor neun Jahren in Brüssel gekauft, kurz nach unserem Einzug in die Wohnung am Boulevard du Regent; damals bummelte ich jeden Vormittag, während Pericles in der Botschaft und Clemen und Pati in der Schule waren, ein paar Stunden mit Betito durch die Stadt; Betito war damals fünf und noch zu klein, um ihn in einen fremdsprachigen Kindergarten zu geben. Das Heft habe ich in einem Geschäft in der Gegend der Place Ste. Catherine gekauft. Ich sah es im Schaufenster, und das Bild vorne drauf hat mir so gut gefallen, dass ich mir augenblicklich vornahm, das Heft zu kaufen und darin meine Eindrücke als Fremde in der Stadt aufzuschreiben, wovon ich seit unserer Schiffsreise über den Atlantik geträumt hatte. Aber ich habe nie etwas hineingeschrieben, erst jetzt.
     Heute Morgen kam Maria Elena später als gewohnt aus dem Dorf zurück; statt wie üblich um acht war sie erst um kurz vor elf da. Sie erklärte mir, dass Belka, ihre Tochter, eine schlimme Grippe habe und sie sie gleich in der Früh ins Krankenhaus habe bringen müssen. Belka ist sechs und ein lebhaftes, entzückendes Mädchen. Sie wohnt bei Maria Elenas Eltern und Geschwistern, wir sehen sie nur, wenn wir auf Papas Finca sind; Maria Elenas Familie hat immer schon bei unserer Familie gearbeitet. Ich bat sie, die Fleischbällchen und den Reis fertigzumachen, die auf dem Herd standen, während ich die übrigen Lebensmittel in den Korb packte, den ich jeden Tag Pericles bringe: die Thermoskanne Kaffee, harte Eier, Milch und süßes Gebäck fürs Frühstück; Schinken- und Käsebrötchen fürs Abendessen. Hauptsache, er muss nicht den Fraß dort essen.
     Mein Mann war heute Mittag sehr schlechter Dinge: Er hatte erfahren, dass der Grund, weshalb der General ihn eingesperrt hat, gar nicht sein kritischer Artikel ist, in dem er dem General vorwirft, er würde die Verfassung verletzen, um sich als Präsident der Republik wiederwählen lassen zu können; vielmehr hat wohl jemand das Gerücht an den General herangetragen, Pericles habe sich der Gruppe um Agustin Alfaro angeschlossen; der ist der Wortführer der Kaffeeplantagenbesitzer und Bankiers, die sich gegen den General stellen - die meisten von ihnen sind Freunde von Papa. Ich sagte, das sei Unsinn, der General wisse doch, dass diese Leute sich mit Pericles? Ideen nicht anfreunden können und sie als kommunistisch abstempeln. Aber Gerüchte sind Gerüchte. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass so etwas passiert: Vor ein paar Jahren, als am Pazifik der Krieg ausbrach, sperrte der General Pericles eine Woche lang ein, keiner wusste, warum, erst im Nachhinein erfuhren wir, dass irgendwer mit dem Gerücht gekommen war, mein Mann würde verbreiten, dass der General Pläne ausgearbeitet habe, um die japanischen U-Boot-Besatzungen am Strand von Mizata mit Nachschub zu versorgen und von dort nach Kalifornien weiterzuschicken, was die Regierung der Vereinigten Staaten angeblich gegen "diesen Menschen" aufgebracht hatte. Auch diese Unterstellung war unsinnig, denn damals wusste jeder von den Sympathien des Generals für die Deutschen und Japaner und von seinen Plänen, diese zu unterstützen.
     Zu Hause habe ich meine Schwiegermutter angerufen, um ihr zu berichten, was Pericles gesagt hatte; ich bat sie, den Oberst darüber zu informieren, denn der hat einen besonders guten Draht zum General. Mama Licha versprach mir, das sofort zu tun, sie sollten ihren Sohn endlich freilassen, es gehe doch nicht, dass sie ihn bloß wegen dummer Gerüchte festhalten, sagte sie. Mein Schwiegervater gehört zur alten Garde, die den General bei seinem Putsch vor zwölf Jahren unterstützt hat und seitdem zu ihm steht; sowohl mein Mann als auch meine Schwiegermutter nennen ihn "Oberst" und nie bei seinem eigentlichen Namen, weswegen auch ich schon seit Jahren nicht mehr Don Mariano oder Schwiegervater zu ihm sage, sondern immer nur Oberst.
     Am Nachmittag bin ich in das Handarbeitsgeschäft der Estradas gegangen. Ich möchte Belka einen Pullover stricken; das arme Kind wird bestimmt so oft krank, weil es frieren muss. Mit der Älteren der Estrada-Schwestern, Carolina, bin ich zusammen in die Grundschule gegangen. Sie legte mir einen Wollknäuel in einem sehr schönen leuchtenden Rot hin; dann erkundigte sie sich nach Pericles, sie sagte, es sei unmöglich, dass mit anständigen Leuten so umgesprungen werde und dass der Nazihexer es sich mit seiner Willkür bei allen verscherzt habe. Dann ging ich noch in das Geschäft von Mariita Loucel, es ist ebenfalls im Letona-Haus, neben dem Handarbeitsgeschäft der Estradas. Zu meiner Überraschung traf ich dort meinen Neffen Jimmy, den Sohn von Pericles? Cousine Angelita. Mariita und Jimmy tuschelten irgendetwas auf Französisch. Kaum sahen sie mich reinkommen, verstummten sie, als hätte ich sie ertappt, doch sofort begrüßten sie mich dann, erkundigten sich nach Pericles und gaben ihre Kommentare zu den neuesten Gerüchten ab. Trotzdem blieb mir ein Verdacht, Gott bewahre mich vor Unterstellungen, Mariita ist ein Jahr älter als ich und Jimmy ein junger Spund wie Clemen. Etwas ganz anderes gibt mir zu denken: Mariita ist eine erklärte Gegnerin des Generals, Jimmy hingegen Hauptmann der Kavallerie.
     Als ich aus dem Letona-Haus ging, traf ich unseren alten Musiklehrer Cesar Perotti. Er erkundigte sich nach Pati und bedauerte wieder einmal, dass sie in San Jose in Costa Rica geheiratet hatte und nicht hier, er wäre doch so gern dabei gewesen und hätte seine schönsten Lieder dargeboten. Perotti war jahrelang Patis Klavier- und Gesangslehrer; er hat immer den Fleiß und die musikalische Begabung meiner Tochter gelobt und ihr zweimal in der Woche Unterricht gegeben. Manchmal habe ich Schwierigkeiten, sein italienisch-spanisches Gequassel zu verstehen. Aber diesmal hat er gar nicht erst zu langen Reden ausgeholt, sondern mitten auf der Straße leise zu mir gesagt, ich solle um Pericles keine Angst haben, die Dinge würden sich bald ändern, alle wohlhabenden Leute, bei denen er unterrichte, sprächen ihre Abneigung gegen den General offen aus, und so eine Situation könne nicht lange anhalten. Auf der Plaza Morazan bin ich in Don Sergios Taxi gestiegen, Pericles vertraut ihm, weil er anders als die meisten Taxichauffeure ein schweigsamer Mensch ist.
     Dann bin ich mit Betito zu meinen Eltern zum Abendessen gefahren. Ich habe ihnen erzählt, was ich von Pericles erfahren habe. Papa meinte, dieser Nazihexer sei ziemlich ausgekocht, er habe sich, um an der Macht zu bleiben, an sozialistischen Ideen vergriffen, und nun habe er Angst bekommen, dass mein Mann seine Farce entlarven könnte; dann verfiel er wieder in seine Schimpftirade gegen die Erhöhung der Ausfuhrsteuer für Kaffee, so dass ich schon fürchtete, er würde beim Essen einen Herzanfall bekommen; außerdem wusste er von Gerüchten, dass bei der Offiziersriege der Armee große Unzufriedenheit über die niedrige Besoldung herrscht. Dann plauderten wir noch über das neue Haus, das meine Eltern gerade im Stadtteil Flor Blanca bauen und das fast fertig ist. Am liebsten würde Papa den Naturstein direkt aus Italien, der Heimat seines Vaters, kommen lassen, aber das wird wegen des Krieges nicht gehen; er wird sich eben mit dem zufriedengeben müssen, was die Baustoffhandlung der Ferracutis auf Lager hat. Das neue Haus ist ein Traum, es liegt nur leider außerhalb der Stadt, so dass man nicht mehr so leicht zu Fuß wird hingehen können.
     Vor dem Zubettgehen kam Betito zu mir ins Zimmer und gab mir eine Mitteilung aus der Schule, in der Pericles aufgefordert wird, wegen des Fehlverhaltens seines Sohnes vorstellig zu werden. Ich fragte ihn, ob er sich denn nicht schämt, es so weit kommen zu lassen, wo sein Vater doch in Haft sitzt. Er behauptete, er habe keine Schuld, der Schulinspektor könne ihn nicht ausstehen. In Sachen Disziplin ist Pericles äußerst streng, und es bekümmert ihn, dass keiner seiner Söhne diese Tugend geerbt hat; nur Pati.


Dienstag, 28. März

Wie jeden Morgen habe ich Clemens Sendungen im Radio gehört. Mein Sohn ist Sprecher, er liest beim YSP die Nachrichten, abgesehen davon hat er auch eine künstlerische Ader, schauspielerisches Talent, und macht bei zwei mehrfolgigen Hörspielen mit. Pericles war einmal Chefredakteur bei dem Sender und hat Clemen die Stelle verschafft. Gott sei Dank scheint mein Sohn endlich vernünftig geworden zu sein. Er wollte nicht auf die Universität, sosehr sein Vater ihn auch gedrängt hat, und auf die Militärakademie schon gar nicht, auf die sein Großvater, der Oberst, ihn schicken wollte; es gab Versuche, ihn bei Papa in der Verwaltung der Finca und in der Kaffee-Exportfirma unterzubringen, aber Clemen hat noch nie mit Geld umgehen können, und Papa hat ihn schließlich rausgeworfen, eine hässliche Geschichte. Jetzt ist er Gott sei Dank schon seit zwei Jahren beim Radio.
Mama hat kurz nach dem Frühstück angerufen, um mich daran zu erinnern, dass heute Nachmittag der Tee bei Luz Maria, der Tochter von Carlota de Figueroa, stattfindet, ihr Junggesellinnenabschied, nicht dass ich es vergesse; am Vormittag hat sie mich abgeholt, um mit mir zusammen die Geschenke zu besorgen. Bei der Gelegenheit bin ich zu La Dalia reingegangen, um Pericles seine kubanischen Lieblingszigarren zu kaufen; der Geschäftsführer Don Pedro, ein liebenswürdiger Herr, hat mir eine Spezial-Havanna geschenkt, die ich meinem Mann mitbringen soll.
     Ich bin etwas vor meiner Besuchszeit in den Schwarzen Palast gegangen, um noch mit Oberst Monterrosa zu sprechen. Don Rudecindo, wie er auch genannt wird, ist wie der General ein Militär von bescheidener Herkunft und sehr schlechtem Ruf, allerdings war er zu mir bis jetzt immer freundlich. Ich redete auf ihn ein, dass sie meinen Mann endlich freilassen sollen, dass er kein Verbrechen begangen hat, sondern nur in einem Zeitungsartikel seine Meinung geäußert hat. Don Rudecindo sagte mir, da könne er nichts machen, und ich solle versuchen, persönlich mit dem General zu reden; und dann sagte er mir noch, dass es vielleicht gar nicht so schlecht sei, wenn mein Mann noch eine Weile eingesperrt bleibe, es würden nämlich Gerüchte umgehen, dass die Kommunisten eine Verschwörung gegen die Regierung planen, und so würde Pericles gar nicht erst darin verwickelt werden. Böse Zungen behaupten, der General werde meinem Mann nie verzeihen, dass er ihn damals verraten und sich angeblich von den Kommunisten als Agent hat anwerben lassen. Dabei weiß jeder, dass der General alle Gegner seiner Regierung als Kommunisten beschimpft. Ich habe Pericles nicht erzählt, was Don Rudecindo mir geraten hat. Ich weiß, dass mein Mann sich auf übelste Weise von mir verraten fühlen würde, wenn ich "diesen Menschen" auch nur um den geringsten Gefallen bitten würde. Im Hinausgehen drückte ich Leutnant Machuca ein paar Münzen in die Hand, er kauft Pericles jeden Morgen die Zeitungen.
Der Tee anlässlich von Luz Marias Junggesellinnenabschied fand im Kasino statt. Meine Schwester Cecilia war aus Santa Ana gekommen und trug ein neues, sehr elegantes zartgrünes Kleid; sie ist Carlotas beste Freundin und würde sich um nichts in der Welt den Tee für deren Tochter entgehen lassen. Es gab einen exquisiten Himbeerkuchen; danach blieben wir noch auf eine Partie Canasta. Meine Freundinnen drückten mir ihr Bedauern wegen Pericles? aus; sie erzählten auch neue Witze über Doña Concha, die Ehefrau des Generals, eine vulgäre Frau, die zu jedem Thema ihren Senf gibt und allen Spott auf sich zieht. Und es entbrannte eine Diskussion, ob Doktor Arturo Romero derzeit der attraktivste und intelligenteste Politiker ist; Don Arturo ist ein sehr wohlerzogener, sanfter Mann, ein Gynäkologe mit Abschluss aus Paris, der sich zum Oppositionsführer gegen den General mausert. Carlota erzählte, sie habe den Doktor heute Morgen bei einem Plausch mit Mariita Loucel in deren Geschäft angetroffen, sie hätten Französisch geredet und ihr Gespräch sofort unterbrochen, als sie reingekommen sei; ich musste an Jimmy und Mariita denken, sagte aber nichts. Meine Schwester war den ganzen Nachmittag unruhig; sie war mit Armando aus Santa Ana gekommen, und er ist direkt in die Bar Lutecia verschwunden, wo er sich gern bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt.
     Am Abend habe ich meine Schwiegermutter angerufen, um sie zu fragen, ob sie Neuigkeiten vom Oberst hat. Sie sagte, er habe ihr erklärt, dass der General äußerst übellaunig und gereizt sei und behaupte, seine Exmitarbeiter würden von einigen Reichen und den Gringos bezahlt, um sich gegen ihn zu verschwören, darum sei es im Augenblick nicht ratsam, das Thema Pericles zur Sprache zu bringen, ganz im Gegenteil. Mama Licha sagte auch, sie hoffe, dass das Gewitter sich bald verziehe, dann werde der General wieder seine mystische Phase bekommen und meinen Mann freilassen. Manchmal weiß ich nicht, ob meine Schwiegermutter so etwas ernst meint oder als Witz. Der General ist Theosoph, er hält spiritistische Sitzungen ab, glaubt an unsichtbare Heiler und verlangt von seinen Anhängern, dass sie ihn "Meister" nennen. Am Anfang hatten die Leute vor seinen Anwandlungen Respekt, als er aber anfing, jeden Sonntag in der Aula der Universität Reden zu halten und diese im Radio senden zu lassen, begriffen wir, dass "dieser Mensch" nicht ganz richtig im Kopf ist. Seit Monaten sind diese Predigten Lieblingsstoff der Witze, die man sich nach dem Essen im Club und am Sonntagnachmittag im Kasino erzählt.
     Meine Schwester ist über Nacht bei unseren Eltern geblieben; Armando ist bis jetzt nicht aufgetaucht, und wir können darauf gefasst sein, dass er schwer betrunken sein wird. Papa schimpft wie ein Rohrspatz; er will ihn morgen sofort von seinem Chauffeur nach Santa Ana zurückbringen lassen. Ich sage Cecilia immer wieder, sie soll Gott dafür danken, dass ihre Kinder das Laster ihres Vaters nicht geerbt haben: Nicolas Armando ist einer der engsten Mitarbeiter in Papas Kaffeegeschäft, er führt eine gute Ehe und ist ein angesehener Mann; auch Yolanda und Fernandito sind sehr nette Kinder.

Teil 3