Vorgeblättert

Leseprobe zu Hector Abad: Großmutter Deutschland

17.09.2015.
Héctor Abad, Brief an Deutschland
Medellín, Kolumbien, Juli 2015


Liebes Deutschland,

erlaube mir, dass ich dich duze, obwohl du eine alte und mächtige Nation bist. Das soll kein Ausdruck unangemessener Vertraulichkeit oder mangelnden Respekts, sondern zärtlicher Zuneigung sein. Ich habe mehrmals eine Zeitlang in dir gewohnt, insgesamt fast zwei Jahre, und glaube deshalb, dich von innen zu kennen, fast wie jemanden aus der Familie. Du warst liebevoll und großzügig wie eine Großmutter zu mir, und so will ich dich auch behandeln, liebe Großmutter Deutschland.

Seit dem Kriegsende sind siebzig Jahre vergangen und 25, seit die DDR und die BRD - zwei distanzierte Zwillingsschwestern - eine gemeinsame Republik geworden sind. Ich bin 13 Jahre nach dem Kriegsende und 32 Jahre vor der Vereinigung zur Welt gekommen. Die blutige Vergangenheit des 20. Jahrhunderts kenne ich durch historische Dokumente und aus den Erinnerungen meiner Eltern und Großeltern. Die wesentlich hellere und weniger gewalttätige Gegenwart habe ich mit eigenen Augen sehen und mit meinem eigenen Verstand untersuchen können. Ich glaube, Deutschland, das, was du während der letzten beiden Generationen getan und erlebt hast, und das Davor lassen sich nicht vergleichen - ich glaube, Deutschland, davor warst du herrschsüchtig und erbarmungslos, jetzt dagegen bist du für die ganze Welt ein Beispiel der Vernunft und des guten Zusammenlebens.

Großmutter Deutschland, ich weiß, dass du (wie alle Länder) eine sehr alte Nation voller Licht und Schatten bist, am besten bist du aber vielleicht (wie alle) an deinen Werken zu erkennen. Das wichtigste Werk eines Landes - wie eines Menschen - sind für mich seine Kinder. Du hast schreckliche Kinder gehabt, etwa diesen Adolf, mit dem man dich gleichgesetzt hat. In Wirklichkeit kam er in Österreich zur Welt, in der Nähe der Grenze. Ihm halte ich ein anderes Kind von dir entgegen, das ebenfalls aus Österreich stammt, Deutsch sprach, jüdisches Blut hatte, Joseph hieß, Joseph Roth, und dich besser vertritt. Wenn manche dir diesen schrecklichen Österreicher unterschieben wollen, schiebe ich deiner Kultur (das Tiefste und Wesentliche einer Kultur ist die Sprache) mehrere österreichische Schriftsteller unter, die ich liebe und bewundere: Joseph Roth, Stefan Zweig, Karl Kraus, Hermann Broch - aus nachvollziehbaren Gründen wähle ich jüdische Schriftsteller aus.

Großmutter Deutschland, es gibt noch andere Kinder von dir, die unsere schwierige Welt viel schöner und leichter zu ertragen gemacht haben - deine Musiker. Was wäre das Leben der Menschen ohne Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy? Ach, Großmutter Deutschland, wie traurig wäre die Welt ohne die geniale Musik, die diese wenigen Menschen geschaffen haben. Allein die von ihnen komponierten Melodien reichen aus, um ein ganzes Leben mit Freude und ästhetischer Intensität zu erfüllen.

Ich könnte weiter über deine guten Kinder sprechen, liebes Deutschland, auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft und des Denkens. Gerne würde ich auch mehrere Ärzte erwähnen, die meinen Vater (der ebenfalls Arzt war) anregten, etwa den großen Rudolf Virchow, den Pionier der Sozialmedizin und der öffentlichen Gesundheitsversorgung, und Robert Koch, der uns Menschen als einer der Ersten zeigte, wie wir uns von schrecklichen Epidemien, Bazillen und Bakterien befreien können. Diese beiden Männer und Söhne von dir, liebes Deutschland, haben uns viele Schmerzen und großes Elend erspart.

Aber ich möchte nicht, dass du dich in eine eitle Alte verwandelst, Deutschland. Ein eingebildeter alter Mensch ist etwas sehr Trauriges, denn das Leben zeigt uns im Lauf der Zeit, dass man zu großer Güte imstande ist und Freude und Schönheit hervorbringen, aber auch die schlimmsten Bosheiten und Schurkereien begehen kann. Großmutter Deutschland, ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass du und deine Sprache und Kultur der Abschaum der Erde seien. In den Filmen bellten immer nur die Nazis, und ich glaubte, Deutsch sei eine harte Sprache, die sich nur für den Krieg und zum Befehle Erteilen eignet. Ich hatte nichts von Heine gelesen und wusste nicht, dass man auf Deutsch sogar den Schrecken des Holocaust in leuchtende Verse bringen kann ("Schwarze Milch der Frühe"). Bei deiner großen historischen Sünde werde ich mich jetzt nicht aufhalten, in den vergangenen siebzig Jahren warst du imstande, sie einzugestehen, sie zu fürchten und zu verabscheuen. Diesem Grauen hast du es zu verdanken, dass du - ich hoffe, für immer - nicht mehr nationalistisch und rassistisch bist. Es gibt in deinem Schoß immer noch Verrückte, die an diese barbarischen Dinge glauben, aber es sind nur wenige, und ich denke, du bist in der Lage, sie in Schach zu halten, sei es mit liebevoller Strenge, sei es - falls nötig - mit erbitterter Wut. Ich erwarte von dir, dass die Bazille des Nationalismus und die schreckliche Bakterie des Rassismus bei dir nie mehr einen Nährboden vorfinden.

Liebe Großmutter, du hattest eine Zwillingsschwester, in der du dich fast ein halbes Jahrhundert lang gespiegelt hast. Auch an der kommunistischen Utopie hat man sich auf deinem Boden versucht, dem Boden, der Marx und Engels, Bertolt Brecht und Rosa Luxemburg hervorgebracht hat. Ich glaube, dass diese Utopie, nachdem Stalin sie auf seine Weise durchgesetzt hat, auf denkbar traurige und beklagenswerte Weise gescheitert ist: Ein unterdrückerisches Polizeiregime verwandelte die Hoffnung auf eine gerechte und egalitäre Welt in einen Alptraum umfassender Kontrolle, fehlender Freiheit und wirtschaftlichen Scheiterns. Es ist gut, dass auch deine Zwillingsschwester, die genauso ernst und diszipliniert war wie du, versucht hat den Kommunismus auf Erden zu verwirklichen. Das war wie eine Impfung für die ganze Welt gegen den Glauben an die Rhetorik der kollektiven Utopie. Wir Menschen sind nicht so gut, dass wir die gesamten Früchte unserer Arbeit den anderen überlassen würden. Wie ein amerikanischer Verhaltensforscher einmal über den Kommunismus gesagt hat: "Geniale Idee, falsche Spezies." Großmutter, du bist stabil und gesund, weil du gegen beides geimpft bist, gegen Faschismus und gegen Kommunismus. Es gibt nur wenige Alte, die das Glück haben, über Antikörper gegen diese beiden Krankheiten zu verfügen.

Liebe Großmutter Deutschland, du kennst dich also gründlich, bist eine weise, durch Erfahrung kluge Alte. Du weißt, in was für Abgründe man stürzen kann - Abgründe rassischer oder gesellschaftlicher Überheblichkeit, Abgründe politischer Utopien und Korruption. Du hast die hellsten und dunkelsten Dinge durchlebt. Deshalb verfolgen die Menschen in anderen Teilen der Welt stets aufmerksam und interessiert, was du tust. Wir erwarten viel von dir. Du bist fleißig und beständig, kannst hart und sanft sein. Warst du zu Griechenland neulich eher hart oder eher sanft? Hättest du ein bisschen großzügiger sein können? Manchmal sieht es so aus, als ob du dem brüllenden russischen Bären gegenüber mehr Großmut wagst als gegenüber den schönen Ruinen der Akropolis. Ich weiß, dass die heutigen Griechen nicht so fleißig sind wie du, aber sie leben am Meer, haben ihre Inseln und ihre Hitze. Lass ihnen ein wenig Freude am Leben, hilf ihnen und fahr zu ihnen, um ihren Wein und ihr Meer zu genießen, und rege dich nicht so sehr über ihre Unordnung auf. Es kann nicht die ganze Welt wie Deutschland sein, denn so bewunderungswürdig du auch bist, Großmutter, die Welt wäre sehr langweilig, wenn sie überall genau wie du wäre.

Hier in den Tropen, wo ich lebe, bewundern wir dich sehr, aber wir wollen so sein, wie wir sind, und du sollst so bleiben, wie du bist, so dass wir alle, jeder auf seine Art, glücklich sind. So ist Berlin, wo ich mehrmals gelebt habe und immer sehr glücklich war. Berlin ist gleichzeitig jung und alt, provinziell und kosmopolitisch, städtisch und ländlich, und im Sommer sind überall nackte Menschen zu sehen, Junge, Alte und Kinder, hässlich und schön. In Berlin gibt es kein Meer, aber Seen und Wälder und viele Radwege an Flüssen und Kanälen. Großmutter Deutschland, du hast dir eine schöne Hauptstadt wieder aufgebaut, deren Schönheit einen aber nicht erschlägt, die Menschen aller Hautfarben und Kulturen aufnimmt, und dieser weite Schoß Berlins legt ein sehr gutes Zeugnis von dir und deiner Großzügigkeit und Toleranz ab.

Mein Brief ist jetzt schon ziemlich lang, Großmutter. Wahrscheinlich bist du müde und gähnst. Ich lasse dich schlafen. Du hast es jedenfalls geschafft, dich nach all dem, was gewesen ist, in ein friedliches, schönes, ziemlich gerechtes und egalitäres Land zu verwandeln (trotz aller Probleme, die ich nicht verschweige), eines der am wenigsten schlechten, die auf dieser grausamen Welt vorzufinden sind. Bilde dir nicht zu viel auf dich ein, schäme dich deiner aber auch nicht - du bist beispielhaft gut, warst aber auch beispielhaft schrecklich. Wir werden dich weiterhin voll Bewunderung und Neugier beobachten. Sollten deine schlimmsten Teufel wieder zum Vorschein kommen, werden wir es dir sagen. Vorläufig bemerke ich davon nichts. Als du bei der letzten Fußballweltmeisterschaft Brasilien niedergemacht hast, hast du dich nicht arrogant gezeigt. Ich glaube, du hattest sogar ein bisschen Mitleid. Die Fahnen an den Berliner Straßen wehten geradezu zurückhaltend. Dass du bei einem Sieg groß und bescheiden bist, gefällt mir. Du weißt genau, wie es ist, wenn man besiegt wird. Du hast andere viel leiden lassen und selbst viel gelitten. Und das hat dich weise, aber nicht traurig gemacht, Großmutter, weise und imstande, mitzufühlen. Mach immer so weiter und bedenke, dass alte Menschen nach und nach ihr Gedächtnis verlieren. Das soll dir nicht passieren, bleibe so reif und vernünftig wie damals, als du dich großmütig mit deiner Zwillingsschwester zusammengetan hast, die älter und stärker vom Leben mitgenommen war als du, obwohl ihr gleich alt wart.

Darf ich dich umarmen, Großmutter? Bestimmt. Es liebt dich aufrichtig der dies unterzeichnende dankbare Beobachter, der dir stets voller Sympathie und Bewunderung von den fernen Tropen aus, hoch in den Anden, zusieht. Ja, ich umarme dich zärtlich von hier aus,

Dein

Héctor Abad oder, dir zu Ehren, Hektor Abt.

Übersetzung: Peter Kultzen