Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Keilson: Tagebuch 1944. Teil 1

03.09.2014.
(Seite 56 ff)

April / Juni 1944

Langsam wieder Kristall in mir. Hängt mit der Prosa, die ich schreibe, zusammen. Ist doch eine Charakterfrage. Was bin ich meinem eigenen Leben oft fremd.
     Tiefste Verbundenheit mit Gertrud. Rührt die Tiefen an, die anziehen und abstoßen. Ur-Geschehnisse! Ur-Triebe! Meine unentschlossene Formlosigkeit - innerlich gesehen, die produktiv ist. Arbeiten, arbeiten.
     Fragte Razum, der sich neue Schauspieler für das Deutsche Theater in den Niederlanden engagiert, wie lange er noch gedenkt, sich einzurichten? Für die Ewigkeit! Sehr wahr, meine Antwort, sehr wahr, Sie wissen nicht, wie wahr.


18. 6. Nach langer Zeit wieder einmal das Bedürfnis aufzuschreiben. Hinter mir Rausch des Schreibens. Die Erzählung ist fertig und ein Gedicht. Eigenes Leben, Gewissen fragt weiter Andacht und Kraft. Prosaschreiben hat mir viele Überraschungen gebracht, weil ich glaube, für mich einige Entdeckungen gemacht zu haben, was die Möglichkeiten der Prosa betrifft. Mit Gertrud darüber ein Gespräch gehabt, in dem sich auf einmal ihre wunderbare tiefe Reife aussprach, ein Nachempfinden, ein Verstehen, das ich ebenso dringend nötig habe wie die liebevolle Ge[…]heit und Hingabe der anderen. Und trotzdem - wie zerrissen. Ich lebe stark nach zwei Seiten. Fast konfliktlos! Solange ich produktiv war. Ich glaube, daß die Moral die Erfindung eines Unproduktiven war. Darum schon ist sie nicht göttlichen Ursprunges! Denn Gott selbst ist ohne Frage produktiv. - Wie Gertrud sich wandelt in der Bedeutung, die ich ihr gebe. Ist sie wirklich so zugetan, so stützend auf mich, auf meine Hilfe, wie sie sagt? Oder ist dies nur ihre unbewußte Wiedergutmachung! Ich begreife besser, dadurch daß ich sie übersteige, was Ehe ist, als Form einer menschlichen Kameradschaft. Gern möchte ich mit ihr zusammen unser Kind erziehen, d. h. sehen, wie es sich selbst großlebt. Gertrud erzählte mir ihren Traum, in dem Barbara das Lied vollendete, das Gertrud nicht zu Ende singen konnte.
     Und doch, wer weiß, ob ich es kann. Ob meine Produktivität nicht abhängig ist von einem immerwährenden Zwiespalt, der gelebt wird. Ob mit der Rückkehr in die Familie der Künstler - ich schreibe mit Schaudern dieses Wort hin - nicht abstirbt. Mein Vorwurf, der Gertrud galt, fällt letztlich auf mich zurück.Vielleicht bin ich nicht geschaffen für beides. Schade, daß Groenevelt zu wenig Artist ist. Er hätte mir raten können.
     Wie wunderbar ein Mädchen ist, schon wird meine Angst wach, daß ich sie missbrauche. Oft Sehnsucht nach ihrer ersten Unberührtheit - [unleserlich] - als sie in den Spiegel sah. Immer wieder tiefe Verbundenheit, Abgestimmtsein, wenn wir zusammen sind. Ihre Zurückgezogenheit, ihre Passivität gibt meiner Phantasie genug Raum und Freiheit, um in Aktion zu kommen. Wenn wir immer zusammen wären - ob es dann bliebe. Manchmal Gedanken an nahende Verhängnisse -. Versuche, diese Gedanken wegzuscheuchen mit den Hinweisen auf das neurasthenische Moment, das darin liegt. Aber wer weiß?
     Es ist die Gegenüberstellung der zwei Frauen schärfer in mir denn je. Aber ausgearbeiteter. Was bei Gerd Klaaß verschwommene Eitelkeit ist und bleibt, will ich bei mir zur Bewußtheit, zur leidvollen Bewußtheit meines künstlerischen Weges ausdeuten. Ich muß da hindurch. Meine Anstrengung ist, Gertrud nicht das Opfer meiner Laune werden zu lassen, da sie in vielen Dingen im Hintertreffen ist. Ob es mir gelingt. Bisher ja. Es ist kein Täuschungsmanöver. Oft habe ich das Bedürfnis, mit ihr darüber zu sprechen. Denn ich weiß, daß mich kein Mensch besser verstehen würde als Gertrud selbst. Sie hat völlig das Zeug dazu. Aber nicht jetzt die Kraft, und die Umstände. Es wäre eine grobe Rücksichtslosigkeit gegen sie und unser Kind, wenn ich da jetzt mit meiner Problematik käme.


21. 6. Wie Lieske ihre Tiere begrüßt frühmorgens beim Füttern: Hallo, Boy! - Endlich, Chys! - Du kannst es wohl nicht abwarten, Goes!
     Im Wartezimmer beim Tierarzt war es dunkel. Ohne Fenster. Ein Mann saß dort, ich konnte nicht sehen, ob er etwas bei sich hatte oder nicht. Schließlich öffnete der Doktor die Glastür und ich sah, daß der Mann ein Kaninchen im Sack mit sich führte. - Wer macht Dir die Tür auf, fragte der kleine Junge, wenn Du nach Hause kommst? - Ist die Erde rund, Papa, ja, ja? Dann möchte ich am Ende der Welt gerne wohnen. Warum? Dann könnte ich die ganze Erde übersehen.
     Die Putzfrau erzählt: Nein, da bin ich nicht gewesen, nein da bin ich beinah auch nicht gewesen. Und dann war einmal ein Filmabend von Alt-Scheveningen, und da bin ich beinahe auch nicht gewesen.
     Der Zeitungsjunge in Rotterdam schiebt seinen Karren über den Perron und ruft: Früher stand ich auf dem Markt mit Bananen. Tonhöhe: ------- _ _.
     Hanna schreibt, daß sie sich zu Erlebnissen zwingen muß, die sie garnicht hat. Daß sie vage und zweifelnd ist mir gegenüber. Ihre Aufrichtigkeit ist groß, auch dort, wo sie es nicht ist. In unserer innerlichen Verbindung ist es nicht mehr so wie früher. Andere Dinge treten zu sehr in den Vordergrund. Was sie hat, weiß ich nicht. Ich könnte mir denken, daß sie sich selbst gegenüber keinen Rat weiß, wie auch mir gegenüber. Natürlich bin ich schließlich der Anlaß. Ihr Gefühl, daß es "hoffnungslos" ist zwischen uns, ist richtig. Denn zum Schluß steht sie allein da. Ich mißbrauche sie. Starker Konflikt zwischen meinem Temperament und meiner Neigung zu einem Menschen, der eine junge Frau ist. Wäre ich harmonischer! Jede Nähe läßt sie den Abstand empfinden, der schließlich uns als Grenze gesetzt ist.
     Oft möchte ich aufhören, da ich das Gefühl habe, daß ein Kran ausläuft.
     Ich bin ihr gegenüber nicht mehr so aufrichtig, - auch ich zwinge mich, ich könnte mir denken, daß ihr Gefühl nur das Spiegelbild meines Zustandes ist. Von Zeit zu Zeit kommt mir stärker ins Bewußtsein zurück, was sie früher für mich war: der wunderbarste Spiegel für mich. Wäre sie das geblieben! Immer noch liebe ich ihre Feinheit und Wärme. Morgen werde ich mit ihr sprechen.


Sonnabend. 15. 7.
Es ist kein Zweifel, ich befinde mich in einer außergewöhnlichen, miserablen Verfassung. Die Wirklichkeit genügt mir nicht mehr. Ihre Reize sind zu schwach, um mich aus meiner Depression zu holen. Suche mir neue. Oft ist es die Arbeit. Oft sind es Frauen. So an dem Abend, als ich zu einer dicken M… ging. Aber ich blieb impotent. Es gelang nicht. Ich war froh und dankbar, als ich sah, daß ein Kern in mir noch unangetastet ist. Sind meine Gedichte zu sehr Gewächse des Willens, der künstlerischen Arbeit, als der Schöpfung, daß danach die große Unlust, die große Unlust kommt? Aber immer wenn ich Gertrud und das Kind seh, wird etwas in mir bewegt, nicht nur eine Zärtlichkeit oder ein Gefühl von Liebe, sondern ein großes Wasser, das plötzlich den Strand hinaufspült und Dünung verursacht. - Mein Gefühl für Hanna ist sehr verändert. Die ganz große rauschvolle Beglückung ist gewichen einer tiefen, teils fremden und erstarrenden, teils schweren (an Gewicht) Erfahrung. Ihre Traurigkeit und ihre kindliche Unbefangenheit bewegen mich. Das sind die guten Seiten unserer Freundschaft. Schwerer ist für mich das Gefühl zu ertragen, das ich in diesem Maße nicht in mir anwesend geglaubt habe: Sadismus. Die Neigung, sie zu quälen, zu peinigen. Und wenn ich sie erblicke, tut sie mir zugleich wieder so leid, daß ich heulen könnte. Hinzu kommt meine große Suggestibilität für andere Menschen. Ich lebe wie ein Vampir aus anderen. Aber nütze nicht das, was sich mir bietet. Ganz habe ich den H.K. von früher noch nicht verloren. "Die keuschen Jünglinge sind oft nicht die besten Ehemänner" - sagt Gide. Das ist ein wenig mein Fall.
     Das Doppelwesen, das ich bin, ermüdet mich. Je doppelter, desto mehr Artist. Dies ist die Einheit, die ich erstrebe. Und oft die Gedanken an die Juden in den Lagern. Reise mit illegalen Papieren. Ich bleibe am Tod kleben. Immer mehr. Wie eine Fliege, zuerst 1 Bein, schließlich alle sechs. Ich mache keine Musik mehr. Kann nicht. Zuerst ein Finger krank. Später rasende Unlust.
     Glaube meinen Gefühlen nicht mehr. Alles Theater, Mache! Nur die Niedergeschlagenheit ist echt. Ich müßte allein wohnen, fern von allen, nur Gertrud und das Kind zuweilen, um so langsam wieder in Ordnung zu kommen. Ich reise zu viel, bin zu unruhig.
     Habe bei meinem letzten Besuch in Amsterdam von InspektorW. bei Ruth eine Geschichte gehört, die ich bestimmt verwerten werde als Roman. Die Auflösung durch den Schuh! Zwei Operationen. - Gespräch mit Madeleine und Mensingt [?]. Er ist ein armer Kerl. Das habe ich sogleich herausgehabt. Und sie ist sehr fein. Sie könnte mein Engel werden. Etwas von ihrem Leben begreife ich, das aus den Augen spricht. Ob ich sie noch einmal wiedersehe?
     2 Amsterdammer Frauen schimpften. Die eine rief: Ich habe wegen meines Radio gesessen, ein jeder soll es wissen, ich usw. Aber verraten habe ich noch niemanden. Die andere, klein, grau, Brille, die Verräterin verteidigte sich. "Es waren ja nur 10 Tage." Sie hatte ihren Mann untergefaßt. Ein eigenartiges Bild, das Verräterehepaar. Neuer Begriff von ehelicher Gemeinschaft durch die Sache des Verrates. Der Streit wurde noch auf der Straße fortgesetzt.
     Thomas Mann, Jacob und Josef gekauft. Wie ein Wiedersehen. Habe es gern zur Hand genommen. Es ist so prächtig geschrieben.
     Malraux, "La condition humaine" ist beinah unerträglich. Rudi gesprochen. Er fragte mich, ob die Gedichte für Gertrud seien. Ich verneinte. Sagte, daß in dem Anlaß Dichtung und Wahrheit durcheinander gingen. Er bestätigte hastig. Ein Judas-Gedicht begonnen. Selbstporträt. Vorläufig stecken geblieben. Vielleicht wird es was.
     Hat mein Verlorengehen ein Ziel? Oder ist es ziellos? D.h. man kann ihm auch kein positives geben. Die Ursächlichkeit des Verlorengehens für den poète maudit ist ge[…]iert. Sie war nur 1 oder zweimal erlebt, aber nicht als Ursächlichkeit, sondern als Leben. Erst dem späteren Betrachter, als er es begriff, offenbarte es sich als kausal, was jenseits des Berechenbaren stand.
     Geschlafen. In besserer Verfassung. Ausgeruht, oder weil die Wirklichkeit des Schlafzustandes eine ist, die die Widersprüchlichkeit des Wachzustandes mildert. Der Schlaf entspricht ihr mehr.

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