Vorgeblättert

Leseprobe zu György Dalos: Der Vorhang geht auf. Teil 3

16.02.2009.
Nun trafen sich am Sonntag, dem 27. September 1987, in der Ge­meinde Lakitelek am Theißufer bei Kecskemet etwa hundertfünfzig In­tellektuelle überwiegend aus dem "volksnationalen" Milieu und luden zu diesem Treffen auch Imre Pozsgay ein, Generalsekretär der Patrio­tischen Volksfront, der als erster Redner ein Grußwort sprach. Die die Chancen des Magyarentums, erforschenden Anwesenden und Beitra­genden, so zu lesen in dem Kommunique, versuchten im Zeichen der Nüchternheit und Überlegtheit die Art und Weise der Entfaltung, der unumgänglichen Erneuerung und der wirklich wirksamen Reformen zu erörtern. Durchdrungen von der Verantwortung für das Schicksal des Magyarentums, erachten die Anwesenden als notwendig und aktuell die Schaffung der Rahmenbedingungen, die dazu dienen, dass die Mitglieder der Gesellschaft als echte Partner an der Gestaltung des Konsenses teil­nehmen können. (?) Daher schlagen sie die Schaffung eines Ungarischen Demokratischen Forums vor, das zum Ort des kontinuierlichen und öf­fentlichen Dialogs werden könnte.

Gemeinsam war diesen Neubildungen, die man angesichts ihrer späteren Rolle als Vorparteien bezeichnen kann, dass keine von ihnen das Macht­monopol der Partei offen infrage stellen wollte. Es wäre ungerecht, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. In Ungarn hielten sich damals noch die "provisorisch stationierten sowjetischen Truppen" auf - im­merhin 200 000 Soldaten sowie 27 000 Panzer und Militärfahrzeuge. Im Rahmen des damals für möglich Erachteten suchten die Sozialliberalen und Nationalkonservativen, nicht anders als die polnische Opposition, nach einem Minimalkonsens mit den Herrschenden. Während jedoch in Polen die geschwächten Machthaber selbst das Angebot zum Dialog machten, fand man auf Ungarns kommunistischem Parnass zunächst nur einen Ansprechpartner - den Volksfrontchef Imre Pozsgay. Auch die Vorstellung, man müsse nach einem Konsens suchen, wurde begrifflich durch ihn geprägt - die "all gemeine nationale Übereinstimmung", ein Terminus mit einem Klang aus dem frühen 19. Jahrhundert, wurde von ihm in den Diskurs eingeführt.

Der Funktionär Pozsgay, früher Kulturminister und 1982 zum Vorsit­zenden der Volksfront degradiert, zog vor allem aus der polnischen Krise 1980/81 die Konsequenz, dass sich die herrschende Partei legitimieren und ihre führende Rolle durch Dienst am Gemeinwesen quasi neu verdienen müsse. Die zu bloßer Fassade gewordenen Organisationen, Gewerkschaften und Berufsverbände müssten zu echtem Leben galvani­siert werden, und selbst der Sozialismus brauche statt des bisherigen Kommandosystems einen Konsens, in dem sich auch Gruppeninteressen repräsentiert fühlten. Diese Idee einer Neubelebung der Volksfront stammte ursprünglich von Imre Nagy und war von der stalinistischen Parteiführung zu ideologischer Häresie abgestempelt worden, was ange­sichts des traurigen Lebensendes des Reformpolitikers nicht als Scherz abgetan werden konnte. Pozsgay machte auch manchmal im engen Kreis düstere Anspielungen auf das Schicksal seines Vorgängers im Geiste. Wenn auch sein Spiel mit dem Feuer sicherlich nicht mehr sehr riskant war, so ist es doch eine Tatsache, dass er sich mit seinen Ideen lange am Rand der Salonfähigkeit befand. Nun stieß er in Gestalt des Demokra­tischen Forums auf eine akzeptable Gruppe, die sich in ihrem Statut als "weder oppositionell noch regierungstreu" definierte und jede Absicht einer Parteibildung strikt leugnete.

Hier sei eine Anmerkung vorausgeschickt: Alle Gruppen, die an der Wiege der jungen ungarischen Demokratie Pate standen und später in der Öffentlichkeit als die "Parteien des Systemwechsels" bezeichnet wurden, haben sich mit den Jahren in Zusammensetzung und politischer Philosophie stark, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ihre Protagonisten sind inzwischen oft aussichtslos zerstritten und bezich­tigen sich gegenseitig aller Todsünden, nicht zuletzt des Verrats an den gemeinsamen Idealen. Dieses Zerwürfnis begann bereits in den späten 1980er-Jahren. Pozsgays Vorliebe für das Magyar Demokrata Forum (MDF) erwies sich auf lange Sicht in viel späteren, oft dramatischen politischen Spaltungen als Zankapfel.

Offensichtlich rang die Staatspartei mit der Schwierigkeit, die Neugrün­dungen, die sie weder verbieten noch verhindern konnte, auch zu erlau­ben und damit auf die absolute Macht offen zu verzichten. Nach altbe­währtem Muster griff sie, um Zeit zu gewinnen, auf das Freiheitsventil zurück: Ab dem 1. Januar 1988 hatte jeder Staatsbürger auf den soge­nannten Weltpass Anspruch, mit dem man das Land jederzeit - ohne die bereits erwähnten Einschränkungen - verlassen und auch dorthin zu­rückkehren durfte. Obwohl die Sicherheitsorgane eine Zeit lang noch versuchten, manche Reisewünsche zu vereiteln, überschritten in diesem Jahr Millionen von Ungarn die Grenze zu Österreich und lösten einen Boom des Einkaufstourismus in Wien aus. Auf der legendären Mariahil­fer Straße (von den spöttelnden Wienern Magyarenhilfer Straße genannt) kauften sie von ihrem ersparten Geld, mit häufi g jahrzehntelang gehüte­ten Devisenvorräten, Computer, Kleidung und Parfum, um diese zu Hause weiterzuverkaufen. Die Grenzbehörden schikanierten die Reisen­den nur selten und taten ihr Bestes, um sie zu neuen Reisen zu ermuntern. Selbst Pornovideos erregten keinen Anstoß, wie damals ein Sensations­interview zeigte.

Journalist: Stimmt es, dass von nun an Pornokassetten legal über die
Grenze gebracht werden können?

Zollbeamte: Der Chef der Landeszollbehörde hat verordnet, dass (?)
auch solche Videokassetten eingeführt werden dürfen.

Journalist: Heißt dies, dass man auch Kassetten mitbringen kann, die
früher aus Sittlichkeitsgründen verboten waren?

Zollbeamte: Ja, natürlich, entsprechend verzollt. Eine Pornokassette
veranschlagen wir auf 3000-4000 Forint
[etwa 60-80 DM nach dama­ligem Umrechnungskurs].
Journalist: Wie haben Sie diesen Betrag festgelegt?
Zollbeamte: Nach dem Umsatzwert.
Journalist: Hat die Pornokassette einen Umsatzwert? Meines Wissens
kann man sie nur auf dem Schwarzmarkt kaufen.

Zollbeamte: Wenn sie nur einen Schwarzmarktpreis hat, dann bestimmen wir den Zollwert eben auf dieser Grundlage.
Journalist: Wenn ich jeden Tag über die Grenze gehe und zurück, darf ich dann jeden Tag eine Pornokassette mitnehmen?
Zollbeamte (?) Von ein und demselben Film nur eine. Aber mehrere
verschiedene Filme sind akzeptabel.


Ernster als dieses behördliche Kokettieren mit dem Schwarzmarkt klang das im Dezember 1987 vom Parlament angenommene Gesetz über wirt­schaftliche Assoziationen. Dieses ermöglichte Firmengründungen unter Beteiligung von natürlichen und juristischen Personen mit bis zu 500 Be­schäftigten. Hiermit wurden ein großes Tor zum Abschöpfen brachlie­genden Kapitals und eine kleine Tür zur Privatisierung schwacher staat­licher Unternehmen eröffnet. Die Erosion des Staatseigentums trug den Tarnnamen "sozialistische Marktwirtschaft", und das Flaggschiff der neuen Besitzform hieß "Kft", zu Deutsch GmbH. Bezeichnend für den Zeitgeist war der Titel der populärsten Fernsehserie der folgenden Jahre: Familia Kft. Und noch ein weiteres ehrgeiziges Projekt brachte die Re­gierung auf den Weg: Die 40 Jahre zuvor nationalisierten Wohnungen konnten nun von den Mietern erworben werden, aus heutiger Sicht zu Spottpreisen. Diese Maßnahme glich eher einer Staatsjagd auf den schnellen Forint und zielte gleichzeitig auf die Entlastung der Wohnungs­baugesellschaften, die aufgrund der viel zu niedrigen Sozialmieten die hohen Kosten der Instandhaltung schon längst nicht mehr aufbringen konnten.

Die Schattenseiten der einbrechenden schönen neuen Welt zeigten sich nur am Rande. Im Frühjahr 1988 erschien in Massenaufl age eine Broschüre, die einem einzigen Thema gewidmet war. Der Titel lautete: Was müssen wir über die Arbeitslosigkeit wissen? Die Unterkapitel klangen wie Themen eines Schnellkurses: Wer ist arbeitslos? Was ist Arbeitslosigkeit? Gibt es in Ungarn Arbeitslosigkeit? Brauchen wir Ar­beitslosigkeit? Wird es in unserem Land Arbeitslosigkeit geben? Der alt­bewährte amtliche Optimismus tauchte noch als Floskel der Krisen­publizistik auf: Unser Ziel ist die Verlängerung der Beschleunigung der Verschlechterung, erklärte ein Minister. Ein anderer Satz wurde sogar, allerdings ironisch zitiert, zum gefl ügelten Wort: Die Stimmung ist schlechter als die Lage.

Janos Kadars Stimmung, jedenfalls die öffentlich geäußerte, war unver­gleichlich besser als seine Situation. Am 17. März 1988 behauptete er bei einem Arbeitsgespräch mit den leitenden Kadern der Industriebetriebe: In Ungarn gibt es in keinem Sinne eine Krise. Wir haben große und schwierige Probleme und müssen große und schwierige Aufgaben mit konsequenter, hartnäckiger Arbeit und Erneuerung unserer Methoden und unseres Stils lösen. Ihm schien es nichts auszumachen, dass zwei Tage zuvor mehrere tausend Studenten und Oppositionelle ohne Geneh­migung die Jahreswende der Revolution von 1848 gefeiert und Demo­kratie gefordert hatten. Unter den festgenommenen Demonstranten be­fand sich auch Kadars Kontrahent Sandor Racz, einstmals Führer der Arbeiterräte von 1956, der nach der Niederwerfung des Volksaufstands eingesperrt worden war und bis zuletzt als Unperson gegolten hatte. Ebenso wenig empfand der Erste Sekretär die Bildung der Jugendpartei Fidesz und der ersten freien Gewerkschaft als Krisenzeichen, und am wenigsten dachte er an die Forderung der Menschenrechtler, er solle sei­nen Posten endlich räumen. Allerdings wurde diese Idee woanders aufgegriffen.

Erstaunlich kurz nach Kadars hurraoptimistischem Statement machte Wadim Medwedjew, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU, aufgrund von aus Ungarn über verschiedene Kanäle eingetroffenen Informationen direkt seinem obersten Chef Meldung. Die nicht genannten, offensichtlich hochrangigen Zuträger stellten dem Mann, der 32 Jahre lang unumstrittener Herrscher der Volks republik gewesen war, eine vernichtende politische Diagnose: Der ungarische Führer empfindet nicht mehr die in der Stimmung der Gesellschaft und der Partei entstehenden Veränderungen. Seine Reden strotzen nur so von Gemeinplätzen, seine Gesprächspartner sagen, dass sie von dem Ersten Sekretär nichts Neues zu hören bekommen, dass er außerstande ist, die Politik der Partei zu erneuern, was zuzugeben er sich jedoch wei­gert. Medwedjews Vorschlag an Gorbatschow: Über zuverlässige Ka­näle könnte man Kadar die Meinung vermitteln, dass diese Situation nichts Gutes verspricht, auch für ihn persönlich nicht. Gleichzeitig müsste in akzeptabler Form geäußert werden, dass wir dem Genossen Grosz und einigen anderen ungarischen Füh rern politische Unterstüt­zung gewähren.

An der Donau wurde ein Drehbuch erprobt: Ähnlich wie hier ent­fernte die Gorbatschow?sche Mannschaft auch andernorts Ostblockfüh­rer, die als perest rojkauntauglich galten, mithilfe ihrer aussichtsreichsten Rivalen. Mitte Mai, am Vorabend der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, landete ein Flugzeug des ungarischen Si­cherheitsdienstes mit dem KGB-Chef Wladimir Krjutschkow an Bord. Der Geheimemissär, der in den Oktobertagen 1956 als Botschaftssekre­tär neben Jurij Andropow gearbeitet hatte und Kadar persönlich kannte, war gekommen, um dem ungarischen Parteichef politische Sterbehilfe zu leisten. Obwohl die Parteikonferenz die bittere Pille der "freiwilli­gen" Abdankung Kadars durch dessen einstimmige Wahl zum Ehren­vorsitzenden zu ver süßen suchte, brauchte dieser offensichtlich weitere psychologische Unterstützung, um den Machtverlust zu ertragen. Michail Gorbatschow, Initiator der Wachablösung in Budapest, lobte in einem Telefongespräch den Gestürzten über Gebühr: Ich verstehe, dass Ihnen Ihre Entscheidung nicht leichtfi el. (?) Diese Tatsache zeugt von der politischen Weisheit von Ungarns Führer, meines Freundes Janos Kadar. Hauptsache, dass dabei die Interessen des Landes und der Partei berücksichtigt wurden. Ich sage ehrlich, dass ich keine andere Entschei­dung erwartet habe. Nie mehr erwähnte er öffentlich den Namen seines erfolgreichsten Verbündeten.

Kadars Rücktritt wirkte, allein kraft seiner Symbolik, wie ein Damm­bruch. Der Boom der Neugründungen erreichte einen vorläufi gen Höhe­punkt - bis Ende des Jahres 1988 meldeten sich rund 30 Organisa tionen, unter ihnen diejenigen, die sich zwischen 1945 und 1948 legal betätigt hatten: die große Agrarpartei der Kleinen Landwirte, die Sozialdemo­kratische Partei und die Demokratische Volkspartei. Diese in der Öffent­lichkeit als "Nostalgieparteien" bezeichneten Neubildungen versuchten, mithilfe ihrer noch lebenden Veteranen die Traditionslücke zu füllen, die 40 Jahre Einparteienherrschaft hinterlassen hatten. Sie profi tierten ebenso von der Nachfrage nach "authentischen Persönlichkeiten", also nicht kompromittierten Protagonisten der Zeitgeschichte, wie die ehe­maligen Dissidenten, die im April 1988 das Netzwerk Freier Initiativen und ein halbes Jahr später den Bund Freier Demokraten (SZDSZ) grün­deten. Die Jugendpartei Fidesz legte einen starken Akzent auf ihren Ge­nerationencharakter, indem sie für die Mitglieder eine Altersgrenze von 35 Jahren festlegte. Außer diesen unmittelbar politisierenden Gruppen, die später die Parteienlandschaft der Neunzigerjahre bildeten, entstan­den markante Organisationen wie das Komitee für historische Gerech­tigkeit, eine Sammelbewegung der 56 er, der Kulturverein der ungarischen Juden, die Romavereinigung Phralipe (dt. Brüderlichkeit), zahlreiche ökologische Gruppen, Opferverbände und Interessenvertretungen. Die fast 100 Neugründungen existierten zunächst nur de facto, ein legiti­mierendes Gesetz wurde vom Parlament erst im Januar 1989 verab­schiedet.

Ähnlich verhielt es sich mit der freien Presse und dem Verlagswesen. Die neuen Zeitungen erschienen ohne offizielle Genehmigung, ebenso wie die früher als verbotene Früchte geltenden Literaturwerke, die meist auf der Straße verkauft wurden. Auf den Verkaufstischen lagen die Werke von Pasternak, Orwell, Solschenizyn, Havel und Stefan Heym, nicht zuletzt auch György Konrads und György Petris Bücher sowie Romane von Exilautoren wie etwa Sandor Marai. Andererseits erschien eine wenig anspruchsvolle Ratgeberliteratur mit Themen von sexueller Lustgewinnung über Horoskope bis zur Esoterik. Von den schließlich mehr als 1000 Privatverlagen sowie ungefähr 500 Presseorganen über­lebten nur wenige das zarte GmbH-Lebensalter, viele gingen in den har­ten Marktkämpfen der Neunzigerjahre unter.

In der Frühphase der Wende, deren Euphorie Ungarn ein Jahr früher als die anderen Ostblockländer erreicht hatte, bot die Dynamik der Er­eignisse eine völlig neue, elektrisierende Perspektive: die Integration des Landes in die damalige Europäische Gemeinschaft. Statt der Gorbat­schow?schen Formel des gemeinsamen europäischen Hauses machte in Ungarn eine andere Metapher die Runde: Es hieß, das Land müsse auf den europäischen Zug aufspringen. Damit betonte man die Dringlich­keit der Integration, ohne eine Ahnung von deren konkretem Ablauf zu haben, und erwartete von der Übernahme der westlichen Normen von Politik und Moral einen durchschlagenden und schnellen Aufstieg. So erreichte die Erwähnung Europas in den Medien ein Ausmaß, das den Autor Peter Esterhazy auf eine Idee brachte: Jeder, der das Wort "Europa" in den Mund nehme, solle automatisch einen Forint in die Staatskasse einzahlen. Daraus wäre angesichts der inzwischen 17 Milliarden Dol­lar hohen Verschuldung allerdings keine Sanierung der Staatskasse er­wachsen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H.Beck

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