Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Volk ohne Mitte. Teil 1

13.02.2015.
Wilhelm Röpke gegen Volk und Führer - Liberale Kritik am nationalen Sozialismus

Kaum hatten Hitler und seine Partei die Regierung übernommen, erhielt Professor Wilhelm Röpke Berufsverbot. Er fiel nicht unter die Hasskategorien Sozialist, Kommunist oder Jude, vielmehr galt er den neuen Machthabern deshalb als unversöhnlicher Staatsfeind, weil er ohne jeden Kompromiss für Liberalismus, Marktwirtschaft und individuelle Freiheit focht.

Der damals 33-jährige Ordinarius für Wirtschaftliche Staatswissenschaften - nicht für Volkswirtschaftslehre - gehörte zusammen mit dem befreundeten Indogermanisten Hermann Jacobsohn zu den beiden ersten Professoren, die am 25.April 1933 aus der Universität Marburg verjagt wurden. Tief verzweifelt warf sich Letzterer zwei Tage später vor einen Zug. Im Jahresbericht des von ihm 1911 geschaffenen Sprachwissenschaftlichen Seminars hieß es später lakonisch, Professor Jacobsohn sei »plötzlich verstorben«.


Extrem humanistisch-weltbürgerlich eingestellt

Röpke ging ins Exil. Erst zehn Jahre später, im Sommer 1943, kamen die Herren im Reichssicherheitshauptamt auf die Idee, auch die »Ausbürgerung des deutschblütigen Wilhelm Röpke« zu betreiben. Den Stein des Anstoßes bildete dessen im Sommer 1942 erschienenes, in Deutschland umgehend verbotenes zeitdiagnostisches Werk »Gesellschaftskrisis der Gegenwart«. Darin hatte der Autor, so stellten die Berliner Über wachungsbeamten fest, sich als »extrem humanistisch-weltbürgerlich eingestellt« hervorgetan und »jegliche Form des Nationalismus« scharf abgelehnt. Als erschwerend legten sie ihm zur Last: »In dem Buch werden ferner der Nationalcharakter Deutschlands und die Gestalten der deutschen Geschichte wie Bismarck, Friedrich List und Treitschke beschimpft. « Auch damit beschrieben sie die geistigen Prinzipien ihres Feindes treffend. Dieser hielt List vor, er habe früh der »protektionistischen Interessentenherrschaft« in Deutschland Vorschub geleistet, Bismarck und dem Historiker Heinrich von Treitschke warf er vor, sie hätten, von »gott- und rechtloser Raubgier« getrieben, den seit 1879 mit Schutzzöllen bewehrten preußisch durchherrschten Zentralstaat propagiert und geschaffen und so den ohnehin bedenklichen Untertanengeist verstärkt, ebenso die nachgerade chronische Furcht der meisten Deutschen vor Freiheit, Zivilcourage, persönlichem Wagemut, selbständigem Handeln und Wirtschaften.

Publizistisch gewandt, mit vielfältigen ökonomischen Argumenten gerüstet, hatte Röpke die Nationalsozialistische Partei seit 1930 bekämpft, nicht generell als »braune Pest«, sondern konkret als Ausgeburt der Gleichmacherei, der Unfreiheit, des nationalwirtschaftlichen Staatsmonopolismus und Sozialismus, kurz: des Kollektivismus. Er bezeichnete deren politisches Ziel nicht als Führerstaat, sondern als »illiberale Demokratie«, als organisierte Massenrevolte gegen alle tradierten Werte. Im Wortgebrauch konsequent, setzte Röpke den Begriff »Volkswirtschaft « gelegentlich in Anführungszeichen, weil nicht etwa »das Volk«, sondern Millionen einzelne Menschen wirtschaftliche Entscheidungen treffen, Angebot und Nachfrage bestimmen, Besitztümer anhäufen, neue Produkte entwickeln oder an Altem kleben, Schulden und Gewinne machen, über mehr oder weniger Kaufkraft verfügen.

Angesichts des absehbaren Erfolgs der NSDAP verteilte Röpke drei Tage vor den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 ein persönlich unterzeichnetes Flugblatt in seinem Heimatdorf: betitelt »Nationalsozialisten als Feinde der Bauern«, geschrieben »von einem Sohn Niedersachsens «, gerichtet »an das Landvolk«. Der Verfasser kennzeichnete die Partei Hitlers als »besitzfeindliche, gewalttätige, revolutionäre« Organisation, die das für die Überwindung der Krise so bedeutsame internationale Vertrauen in die Besonnenheit und den Aufbauwillen der Deutschen zerstören, »die Diktatur einer Partei« errichten und »wenig Federlesens machen« werde, »wenn sie erst einmal zur Macht gelangt« sei. Wer für deren Kandidaten stimme, solle später nicht behaupten, »er habe nicht gewusst, was daraus entstehen könnte«. Vielmehr müsse er wissen, »dass er für den Krieg nach innen und nach außen, für sinnlose Zerstörung stimmt«.

Am Ende des Flugblattes steht: Trotz allen vaterländischen Brimboriums würden sich »Nationalsozialisten in ihrem Ziel und in ihren Methoden kaum noch von den Kommunisten unterscheiden«. Auf der grundsätzlichen Ähnlichkeit beider, sich in ihren Selbstbildern für gegensätzlich haltenden politischen Richtungen beharrte Röpke zeitlebens. 1931 geißelte er das populäre nationalsozialistische Projekt, sogenanntes Doppelverdienertum (von Ehefrauen) zu unterbinden, um auf diesem Weg Arbeitsplätze für Alleinverdiener zu schaffen, als »Bolschewismus auf der Linie des geringsten Widerstandes« und als »Bolschewismus von unten«. Später, mitten im Kalten Krieg, wetterte Röpke 1959 gegen »alle Koexistentialisten, Appeasers - mit Regenschirm oder Pelzmütze -, alle Pazifisten, alle Atomschlotterer, die vor Angst nicht mehr denken können«.

Zu derart deutlichen Worten trieb ihn nicht blinder Hass. Er kritisierte Kommunismus und Nationalsozialismus wegen ihrer inhumanen Hybris, ihres Hangs zum Kolossalen, ihrer allgegenwärtigen Mobilisierung des Einzelnen hin zum Glied der Masse, wegen ihrer Zerstörung des Privaten zugunsten des Kollektiven und - vor allem - weil die Wirtschaft beider totalitärer Systeme »die in der individuellen Selbstbehauptung liegende Hauptkraft des Lebens« nicht nutzt, sondern »unterdrückt und sich selber im Kampf gegen sie aufreibt«. Röpke argumentierte anthropologisch, mit der Natur des Menschen, »sich und seine Nächsten durch produktive Leistungen zu behaupten und zu fördern«. Weil sie diese zentrale, im Individuum beheimatete Ressource des Fortschritts ungenutzt ließen oder zu liquidieren trachteten, mussten totalitär- kollektivistische Staaten nach seiner Überzeugung scheitern. Und genau das - ihr unausweichliches Scheitern - mache sie so aggressiv und gefährlich. Als Ökonom begründete er seine unerbittliche Opposition gegen Kommunismus und Nationalsozialismus mit dem einfachen Satz: »Es ist zugleich ein Gebot der Menschlichkeit und der staatsmännischen Klugheit, die Wirtschaftspolitik den Menschen und nicht die Menschen der Wirtschaftspolitik anzupassen.«

Geboren wurde Wilhelm Röpke 1899 als Sohn eines Landarztes in Schwarmstedt, nahe Lüneburg. Gerade eingezogen, verdiente er sich am Ende des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz; sein Studium absolvierte er in Göttingen, Tübingen und Marburg. Im Alter von 24 Jahren wurde er ordentlicher Professor in Jena, nach einer halbjährigen Studienreise durch die USA berief ihn die Universität Graz, 1929 übernahm er das Ordinariat in Marburg. Er galt als republikanisch gesinntes, stets an Problemen der Gegenwart arbeitendes Wunderkind der Wirtschaftswissenschaften.

Schon damals gehörte er zu den wenigen Professoren, die dem grassierenden akademischen Antisemitismus die Stirn boten. Als beispielsweise der neu berufene Breslauer Dozent Ernst Joseph Cohn nach studentischen Aktionen und einem entsprechenden Beschluss des Akademischen Senats Ende 1932 von seinem Lehramt an der Juristischen Fakultät zurücktreten musste, erklärte Röpke auf der ersten Seite der Vossischen Zeitung zu diesem Fall: »Die durch Intoleranz aufs Äußerste bedrohte Lehr- und Geistesfreiheit muss bis zum Letzten verteidigt werden. Intoleranz der Professoren selbst ist Verrat an der Idee der Universität. «

Wenige Wochen später traf die zum Staatsziel gewordene Intoleranz auch ihn. Im Herbst 1933 wechselte der Verjagte an die Universität Istanbul, im Oktober 1937 an das Institut des hautes études internationales der Universität Genf. Die Schweiz wurde ihm zur zweiten Heimat, hochgeschätzt wegen ihres politischen Pragmatismus, ihres Freisinns und ihrer föderalen Verfasstheit. Dort starb er 1966. Trotz allem blieb er deutscher Patriot und wurde nach dem Krieg zum einflussreichen Ideengeber und Berater für den Wiederaufbau der Bundesrepublik.

Der nationalsozialistischen Herrschaft hatte er aus Motiven widerstanden, denen Seltenheitswert zukam. 1934 schrieb er an den emigrierten italienischen Politiker Carlo Graf Sforza: »Leider sind es ja nur wenige Nicht-Juden und Nicht-Marxisten, die die Freiheit ihrer Überzeugung der Knechtschaft in Deutschland vorgezogen haben.« Im November 1944 bemerkte er zu seinen überaus anpassungswilligen Kollegen und den vielen im Land verbliebenen deutschen Akademikern: »Ungeheuer schwer wiegt auch die Schuld, die sie durch aktive und passive Förderung des Nationalsozialismus auf sich geladen haben. Im Durchschnitt der Fälle haben sie sich recht kläglich verhalten. (…) Ebenso waren sie in gefährlicher Weise geneigt, (…) die absurdesten Theorien zu schlucken oder gar nachzuplappern.« Nur wer diesen massenhaften geistigen und moralischen Verfall im Blick behalte, verstehe, »wie sich dieses einst so große Land in den Abgrund des Nationalsozialismus stürzen und mit dem geistigen zugleich seinen physischen Selbstmord vollziehen konnte«.


Standhaft gegen den Nationalkollektivismus

Mich interessieren an Wilhelm Röpke der klare zeitgenössische Blick auf den Nationalsozialismus und sein Urteil über die in Hitlers Volksstaat betriebene Wirtschaftspolitik. Zudem teile ich mit ihm die beunruhigende Frage: »Wie in aller Welt hat dieses Volk so enden können?« In welcher geschichtlichen und politischen Konstellation konnte es zu der ungeheuren, vollständig destruktiven Energieentladung jener kurzen zwölf Jahre kommen?

Jenseits dessen bereitet es schlicht Vergnügen, diesen Autor zu lesen. Er sprach und schrieb knapp, kraftvoll, kühl und bildhaft. Jeder, der gute wissenschaftliche Prosa schreiben will, wird mit Gewinn zu seinen Texten greifen. Röpke ließ sich durch keine akademische »Wurstmaschine« drehen, um dabei zu »Haché« gemacht zu werden, er zeigte lebhaftes Interesse für historische und politische Prozesse, verfügte über eine gediegene staatswissenschaftliche Ausbildung, die er nicht zuletzt seinem Marburger Lehrer Walter Troeltsch verdankte.

Röpkes Alarmruf zur Septemberwahl 1930 blieb vergeblich. Die NSDAP steigerte ihre Mandate von 12 auf 107 und wurde zweitstärkste Fraktion im Reichstag; die KPD schnitt gut ab. Die Hälfte aller Deutschen hatte Parteien gestärkt, die dafür warben, die Republik lieber heute als morgen hinwegzufegen. Die Liberalen erlitten eine vernichtende Niederlage, die Übriggebliebenen rückten nach rechts. Anders als etwa Theodor Heuss machte Röpke als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei deren Umbenennung in Deutsche Staatspartei und deren Schwenk hin zum Jungdeutschen Orden nicht mit und trat aus. So wurde er 1930 politisch heimatlos.

Ein Jahr darauf veröffentlichte er die knapp gehaltene Brandschrift »Der Weg des Unheils« im S. Fischer Verlag. Zu den wesentlichen Ursachen, die die Krise verstärkt hatten, rechnete er den Wahlsieg der totalitären Parteien. Sie hatten die Handlungsspielräume republikanischer Politiker eingeengt und das Misstrauen ausländischer Kapitalgeber vergrößert. Nach der Wahl war der Wert deutscher Anleihen an der New Yorker Börse von 90 auf 30 Prozent des Emissionskurses gestürzt, das internationale Vertrauen in die Zukunft der ersten deutschen Republik jäh zusammengebrochen. Drastische Sparmaßnahmen, weitere Lohnkürzungen, Pleiten, Massenentlassungen folgten.
(...)

In dieser existentiellen Not empfand jeder Deutsche die nicht enden wollende Bürde des Versailler Vertrags - die Zahlungspflicht sollte 60 Jahre dauern - als himmelschreiendes Unrecht. »Jahr für Jahr«, so heißt es in dem Buch »Der Weg des Unheils«, »generationenlang, eine Summe zahlen, die dem Mehrfachen des Aktienkapitals sämtlicher deutschen Großbanken entspricht, Jahr für Jahr eine Summe zahlen, mit der sich das Problem menschenwürdiger Wohnungen für die Armen der Großstädte mit einem Schlage lösen ließe, und das auf einer Grundlage, auf der man Jahr für Jahr bestätigt, dass man ein Schurke ist - es ist unmöglich. « Krise und Erbitterung führten zur Unregierbarkeit des Landes. Wer die Voraussetzungen der Weltwirtschaftskrise und des Endes der Weimarer Republik wissenschaftlich durchdringen möchte, sollte auf die zeitgenössischen Arbeiten des Marburger Ökonomen nicht verzichten, ob es um Inflation, Reparationen, staatliche Konjunkturpolitik, ausländische Kapitalgeber, die Krise, die schweren Fehler der Siegermächte oder um die interalliierten Kriegsschulden geht.

Nach Röpke hatten die Reparationslasten die Weltwirtschaftskrise zwar nicht ausgelöst, wohl aber drückten sie die Deutschen an die Grenze ihrer psychischen Reserven und blockierten die Möglichkeiten zum Wiederaufstieg, und zwar für die ganze Welt: »Sie sind es, die schließlich die Lawine der deutschen Auslandskredite ins Rollen gebracht haben, die dann auch England mit fortgerissen hat und ihre Erschütterung der ganzen übrigen Welt mitteilt. Die Reparationen haben sich als eine Sandbank erwiesen, die bei Flut so tief unter der Meeresfläche liegt, dass sie den Schiffsverkehr zwar behindert, aber nicht völlig unmöglich macht, die aber bei Ebbe zum Verderben wird.« (...)


Der Verfasser solcher Texte verstand sich als Ordoliberaler, der dafür eintrat, staatliche Interventionen auf ein notwendiges Minimum zu begrenzen und Tendenzen zum Raub- und Monopolkapitalismus ordnend entgegenzuwirken. Er focht für die rechtlich regulierte, faire Konkurrenzwirtschaft, einen starken Mittelstand, für einen föderal verfassten Staat und für ein Maximum an individueller Freiheit. Prinzipiell stand er in entschiedener Gegnerschaft zu John Maynard Keynes und dessen Theorie staatlicher Verschuldungs- und Interventionspolitik. Er bezeichnete sie als Form des Fiskalsozialismus und den Nationalsozialismus als teuflische Mixtur aus Sozialismus und Keynesianismus.

Jedoch lehnte er, insoweit Keynes nah, die Spar- und Deflationspolitik der Regierung Brüning 1931 entschieden ab. Er sah darin einen »Prozess sinnloser und mörderischer Selbstzerstörung«, weil die Krise nach der ersten reinigenden Phase 1929/30 aufgrund besonders ungünstiger Umstände in die zweite Phase, nämlich in »einen Prozess kumulativen Niedergangs« geglitten sei. Diesen gelte es aus zwei Gründen zu unterbrechen: erstens um unnötige Kapitalvernichtung zu vermeiden, zweitens um - angesichts erstarkter radikaler Parteien - die grassierende politische Massenhysterie zu stoppen.

Zwar wollte sich der Warnrufer, wie er immer wieder betonte, prinzipiell »in der Verurteilung des Inflationismus und des Interventionismus von niemandem übertreffen lassen«, dennoch empfahl er 1931 mit allem Nachdruck die Ausnahme, das deutsche Budgetdefizit mittels Kreditaufnahme, sprich Staatsverschuldung, zu bekämpfen. Er verstand das als »dringendes Erfordernis der Geldpolitik«, um »das politische und soziale Gehäuse« der Republik zu retten, um zu verhindern, »dass einige tausend mehr zum Gasschlauch greifen, einige tausend mehr in politischen Straßenkämpfen ihr Leben verlieren und die allgemeine Verarmung und die Hoffnungslosigkeit der Arbeitslosen im Verein mit der allgemeinen Hysterie der Massen die Fundamente des Staates und der Gesellschaft erschüttern«.


Der Massencharakter des Nationalsozialismus

Warum Wilhelm Röpke 1933 sofort mit Berufsverbot belegt wurde, geht aus der Rede hervor, die er, wenige Tage nach Hitlers Machtantritt, am 8. Februar, in Frankfurt am Main hielt, und zwar vor der Ortsgruppe Frankfurt des von dem bald ebenfalls vertriebenen liberalen Wirtschaftsjournalisten Gustav Stolper noch um die Jahreswende 1932/33 gegründeten »Bundes für wirtschaftliche und politische Bildung«. Die Überschrift lautete »Epochenwende?«. Der Vortragende schloss eine Wende aus, sofern man »unüberwindliche Stärke« zur Abwehr der soeben errichteten Herrschaft entfalte. »Objektiv« gebe es »keinerlei Grund für die Annahme, dass die gegenwärtige Weltkrise einen Untergang des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und eine Wende zu einer neuen geschichtlichen Epoche« eingeleitet habe. Wohlgemerkt: objektiv. Von der subjektiven Seite, den zum Totalitarismus hinstrebenden Massen aus betrachtet, ergab die Analyse ein bedenkliches Ergebnis: »Eine Katastrophe muss eintreten, wenn die Menschen immer dümmer und roher werden, während sich die Technik und die Organisation der Wirtschaft immer mehr verfeinern. (…) Wenn dieser Prozess der seelisch-politischen Auflösung fortschreitet, so ist in der Tat keine Hoffnung mehr, weder für unser Sozialsystem als Ganzes noch für das Wirtschaftssystem, und das Schicksal einer weltgeschichtlichen Epoche besiegelt.« (...)


Auch über das zur Herrschaft erhobene Ressentiment machte sich der Vortragende keine Illusionen: »Es scheint, als brauche jede politische Massenbewegung gewisse massive Gegner, gegen die man die Massen zum Hass entflammt, Schießbudenfiguren, auf die sich nach Herzenslust schießen lässt. "Freimaurer" in Italien, "Juden" in Deutschland, "Marxisten", "Erbfeinde" aller Art und vor allem die "Liberalen" sind bevorzugte Figuren.« Er sah, dass die Nationalsozialisten ständig von Freiheit redeten, »wie jede Bewegung, die sich gegen irgendeinen Status auflehnt, von Freiheit reden wird, mögen auch ihre Ziele himmelweit von dem entfernt sein, was wir liberal nennen«. Nationalsozialisten wie Kommunisten verstanden den Begriff Freiheit als nach außen, gegen andere Menschengruppen gerichtete Kampfparole, nicht als Chance zu individuellem Glück und produktiver Differenz.

Gut möglich, dass Deutschland »zur Dumpfheit des mythologischen Zeitalters« zurückstrebe, zumal dabei ein beträchtlicher Teil seiner Professorenkollegen die begleitende Blechmusik blase - ein »tragikomisches Schauspiel, das ungemein erheiternd wirken würde, wenn es nicht so außerordentlich ernste Folgen hätte«. Als intimer Kenner des akademischen Opportunismus setzt Röpke mit kaum verhülltem Zorn hinzu: »Es ist überhaupt eine auffallende und erklärungsbedürftige Tatsache, dass das Professorenelement in Deutschland so stark an der heutigen Massenrebellion gegen den Liberalismus und damit gegen die Lebensluft abendländischer Kultur beteiligt ist.«

Urplötzlich erhöben seine universitären Standesgenossen dunkeldräuende Wörter wie »Reich«, »Stimme des Volkes«, »Blut«, »Urseele«, »Schicksal«, »Epochenwende« zu wissenschaftlichen Leitbegriffen, die ihre Assistenten, Doktoranden und Lehrstuhlgetreuen dann umgehend nachäfften. Dem liberalen Grundsatz »leben und leben lassen« setzten sie im Verein mit der NSDAP den Grundsatz »sterben und sterben lassen « entgegen. Unterstützt von großen Teilen der Intelligenz entfalte der Massenmensch seine Herrschaft, typischerweise begleitet vom »Qualm der Gefühle, der Schlagworte und des wirren Gestammels«, von »der Verherrlichung der "direkten Aktion"«, von »Vergewaltigung der Andersdenkenden, Verpöbelung auf allen Gebieten, hohler Rhetorik und verlogener Theatralik«. (...)

Fast gleichzeitig erschien in der führenden ökonomischen Zeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv vom Januar 1933 sein einleitender Aufsatz »Die säkulare Bedeutung der Weltkrisis«. Darin rechnete er mit den Lieblingsversprechen der neuen Herren ab: mit dem Blendwerk der Autarkie, der obsessiven Verdammung des Welt- und Freihandels, der »Orgie des Protektionismus«, der »geradezu bösartigen Hartnäckigkeit «, mit der angebliche Gefahren einer rückläufigen Bevölkerungstendenz beschworen würden, mit »allem Missbrauch, der heute mit dem Ausdruck "Raum" getrieben« werde. »Derjenige, der das "wirtschaftliche Denken" als den "Todfeind des völkischen Idealismus"« verachte, »das "Blut" dem "Geld"« vorziehe, täusche nur vor, »dass ihn wirklich die Not der arbeitslosen Masse bewegt«.

Über Deutschland hinaus erörterte er zwei weitere, »eng benachbarte « Gefahren: »Es ist der Bellizismus und Nationalismus unserer Zeit, der - wiederum von erhitzten Massen getragen - gerade heute eine auf die Dauer unerträgliche Inkongruenz zwischen dem wirtschaftlich und dem politisch integrierten Raum geschaffen hat.« In dieser Lage gebe es nur zwei Alternativen. Entweder werde »der Grad der politischen Kooperation der Völker dem Grad der wirtschaftlichen Kooperation angepasst « oder es siege »die Front des Unverstandes, der Massenhysterie, des rücksichtslosen Egoismus und der Gefühlsunklarheit«. Im schlechten Fall stünde die Zukunft Europas auf dem Spiel - Friede, Wohlfahrt und Zivilisation.

Im Hauptteil des Textes hob Röpke alle positiven Anzeichen hervor, die auf das Abklingen der Krise hindeuteten, um am Ende abermals von der politischen Gefahr zu sprechen: »Durch nichts wird unser Sozialsystem stärker bedroht als durch den "Aufstand der Massen", die sich von der Führung durch die geistige Elite emanzipieren (…) und diejenigen zu Führern der Massen erheben, die diese Massengefühle am besten zu interpretieren wissen.«

Die Frankfurter Rede und dieser Aufsatz waren die letzten beiden Texte gegen den Nationalsozialismus, die Röpke in Deutschland schrieb und verbreitete. (...)

zu Teil 2