Vorgeblättert

Leseprobe zu Gabriele Weingartner: Die Hunde im Souterrain. Teil 2

18.08.2014.
Shaws Ironie war anders als die von Thomas Mann, fiel Felice ein, während sie das kalte Glas über ihre erhitzten Wangen rollen ließ. Sein Ton erschien ihr souveräner und kraftvoller, hatte Manns Ironie doch auch etwas verzweifelt Manieriertes an sich, was Ulrich und sie damals nicht wahrhaben wollten. Den Gedanken, herauszufinden, was Sue an Shaw so sehr anzog, dass sie ihren Urlaub seit Jahren diesen Festspielen widmete und alle möglichen freiwilligen Aufgaben bis hin zur Ausarbeitung von Soziogrammen der jährlichen Abonnenten übernahm, wollte sie aber dann doch nicht weiterspinnen. Warum schaute man sich mehrere Jahre hintereinander My Fair Lady an - nicht einmal das Original also - und Caesar and Cleopatra? Oder las zum x-ten Mal die Kuckuck-Szene aus den Bekenntnissen des Felix Krull ? Womöglich waren die Unterschiede zwischen ihr und Sue gar nicht so gravierend. Wie merkwürdig, dass ihre Überheblichkeit zunahm, seit sie sich in den Staaten befand. Diese Art der Überheblichkeit wenigstens. Es war, als guckte ihr Ulrich über die Schulter, es war, als schlüpfte sie in eine jüngere, dümmere Haut und müsste nun wieder alles mit seinen Augen beurteilen.
Immerhin, Sues Dienstplan war in letzter Minute geändert worden. Auch wenn sie deshalb nicht zum Flughafen kommen konnte und stattdessen jede Menge Ratschläge schickte, die sich auf die Behandlung des Taxifahrers, die richtige Route, den angemessenen Preis und die Höhe seines Trinkgelds bezogen, war Felice froh darüber, sich ihr erst einmal nur gedanklich nähern zu dürfen. Das Unbedingte ihrer Anweisungen berührte sie unangenehm. Wie hätte sie sich mit ihrem eingerosteten Englisch gegen einen mit allen Wassern gewaschenen Taxifahrer wehren können. Und von den überall in der Wohnung verteilten, mit mikroskopisch kleiner Schrift bedeckten Zetteln fühlte sie sich nicht weniger irritiert: Vorsicht, das Wasser ist gechlort! Besser Evian zum Zähneputzen. Im Tiefkühlfach liegt eine glutenfreie vegetarische Pizza. Drinks befinden sich im Sideboard rechts, darunter ein alter schottischer Whisky.
Eigentlich fehlten nur noch die Gebrauchsanweisungen für die vielen Geräte, die Sues Wohnung noch kleiner machten, als sie ohnehin war. Ein mit vielen Hebeln versehener Mixer aus dem letzten Jahrhundert, mit dem man vermutlich so etwas wie Cocktails brauen konnte, Mikrowelle, Grill, Espresso- und Spülmaschine - alles sah so blitzblank und unbenutzt aus, dass es Felice schwerfiel, sich Sue als Gastgeberin oder Küchenfee vorzustellen. Und auch die Belanglosigkeit der einzigen beiden Bilder - im Wohnzimmer hing ein Kunstdruck mit einer von Dalis schmelzenden Uhren und im Schlafzimmer Warhols langweilige Goethe-Lithografie - verlieh Sue kein schärferes Profil. Vielleicht hatte ja ein Innenarchitekt alles zusammengestellt, beauftragt von Ron, den sein schlechtes Gewissen plagte. Das Bauhaus-Imitat sprach dafür und auch die Ledercouch. Auf deren glatter Oberfläche hinterließen Felices Hände feuchte Flecken, wie sie schon ein bisschen angeekelt festgestellt hatte. Für heiße Tage war das Möbel genauso ungeeignet wie der Sessel, in dem sie jetzt ihren Saft trank. Abgesehen davon, dass sich Designer keinen Deut um die Wirbelsäule späterer Kunden scherten. Er war kein bisschen bequemer als der enge Sitz im Flugzeug, in dem sie die letzten acht Stunden neben einem dicken Mann zugebracht hatte, der auf der zweiten Hälfte der Strecke auch noch schnarchte.
Überraschend wenige Bücher gab es hier, wenn man bedachte, dass Sue Bibliothekarin war. Im Unterschied zu Felice, die ihr halbes Leben in schäbigen Berliner Stadtteilbüchereien verbracht hatte, brauchte sie sich allerdings auch nie über die Hässlichkeit ihres Arbeitsplatzes zu beklagen, im Gegenteil, seit mehr als zwei Jahrzehnten erreichte sie die Public Library über eine prächtige, von zwei Löwen flankierte Treppe, sofern sie es nicht vorzog, einen der vielen Nebeneingänge zu benutzen. Und täglich konnte sie durch ein pompöses, mit Marmor ausgekleidetes Foyer zu ihrem Schreibtisch gelangen - selbst wenn dieser im siebten Stockwerk unter der Erde stehen sollte. Felice erinnerte sich noch an den prunkvoll mit Deckengemälden versehenen, irgendwie grün schimmernden Lesesaal, wo sie manchmal stundenlang frustriert und hilflos auf Ulrich gewartet hatte, wenn dieser verspätet von einem seiner Interviews mit polnischen Emigranten irgendwo in der Stadt zurückkehrte. Es kam auch vor, dass er sie vergessen hatte und schon ins Hotel gefahren war, wo er ihr freudestrahlend von irgendwelchen bahnbrechenden Gesprächen berichtete.
Gut, dass du kommst. Kannst du mal halten?, sagte er, während er mit einem verhedderten Tonband und der dazugehörigen Maschine kämpfte. Und Felices bereits in der Subway festgezurrtes Lächeln, das sie doch den ganzen Abend über auf dem Gesicht behalten wollte, um ihre Enttäuschung dahinter zu verbergen, war weggerutscht. So wie jetzt beim Nachdenken über Sue. Tatsächlich, es geschah in New York, genauer, im Gramercy Park Hotel, als sie die Herrschaft über ihr Lächeln verlor und sich jener leichenbittere Zug in ihre Mundwinkel grub, den sie auf Fotos immer so hässlich fand.
Nicht einmal in die Nähe des an der Ecke 21st Street und Lexington Avenue gelegenen alten Kastens wollte sie kommen, nahm sie sich vor, obwohl der mittlerweile in jedem Reiseführer als Designer-Hotel angepriesen wurde. Natürlich konnte man ihm schon damals einen gewissen Charme nicht absprechen mit seinen brüchigen Samtportieren und von Motten zerfressenen Treppenläufern, auf denen Felice so leicht ins Stolpern geriet, seinen Milchkännchen und Zuckerdosen aus angelaufenem Silber, seinem ramponierten Wedgwood-Frühstücksgeschirr. Dass die Wasserhähne Rost spuckten, die Fahrstühle wackelten und die Klimaanlagen Hitze produzierten und sich nicht abschalten ließen, machte das Gramercy in den Sommermonaten allerdings zur Folter. Zumal es im Juni 1974 unerträglich heiß gewesen war, so tropisch drückend, dass sie nachts alle zehn Minuten im Nachthemd unter die Dusche ging und sich bibbernd vor Kälte aufs Bett legte, bevor sie es in Schweiß gebadet wieder verließ. Es war so heiß wie jetzt, mit dem Unterschied, dass Ulrich noch gelebt hatte, wenngleich er sich damals schon von ihr zu entfernen begann.
Vielleicht wäre es draußen im Park nicht ganz so unerträglich schwül gewesen. Aber Felice, noch jung und schüchtern damals, konnte sich nie entschließen, den Portier um den Schlüssel zu bitten. Obwohl es dort duftende Rosenstöcke gab, wie sie wusste, da sie sich morgens gerne - während ihr Ehemann noch schlief und bevor die große Hitze ausbrach - unter einen der weit auskragenden Magnolienbäume setzte, und überhaupt die klösterliche Atmosphäre in diesem einzigen Privatpark Manhattans liebte, wo ein jeder für sich blieb und man nicht miteinander sprach, selbst Ulrich und sie nicht, weil sie sich sofort in ihre Bücher oder ihre Zeitungen vergruben. Von außen betrachtet, schnitten die kniehohen Buchshecken den Leuten die Beine ab, hatte Felice festgestellt, wenn sie - was häufig vorkam - auf Ulrich wartete und sich aus lauter Langeweile die Gramercy-Park-Regularien vorlas, um ihre Aussprache zu schulen. Jetzt aber, weit nach Mitternacht, auf der Flucht vor dem Backofen, der ihr Hotelzimmer war, musste sie entdecken, dass man die Gaslaternen in dem mit kostbaren Pflanzen bestückten Gartenkarree bereits abgeschaltet hatte. Wahrscheinlich war es auch nicht erwünscht, dass man sich mitten in der Nacht dort aufhielt. Vermutlich hätte der Portier den Schlüssel gar nicht herausgerückt.
So sah Felice, wenn sie auf die Lexington Avenue hinaustrat, nur die Spitze des Chrysler Buildings in der Ferne glitzern, diese Nadel, die in den Himmel stach, diese aneinandergefügten Radkappen aus Edelstahl, die auf so witzig naive Weise dem in den dreißiger Jahren endgültig ausgebrochenen Autowahn Amerikas huldigten. Nachdem sie erkannt hatte, dass es das Lieblingshochhaus der meisten New-York-Besucher war, wollte sie es zwar vor anderen Leuten nicht mehr so nennen, hörte aber nicht auf, es zu lieben. Vielleicht weil seine schlanke, sich scheinbar in Luft auflösende Silhouette der am wenigsten unangenehme und zugleich passendste Ausdruck für ihre schlaflosen New Yorker Wochen war. Ein Symbol fast für ihr so nett eingefasstes Elend als unbedeutende Frau eines - wie alle behaupteten - bedeutenden Wissenschaftlers. Eines Mannes, genauer gesagt, der häufig erst im Morgengrauen wiederkam und sich vorsichtig auf den äußersten Rand des großen, schwankenden Bettes gleiten ließ, um sie nicht zu stören. Manchmal hörte sie ihn stöhnen und schluchzen und erstarrte dabei. Wartete ab, während die Helligkeit durch die dicken Vorhänge sickerte. Holte ihre Hand zurück, die sich ein paar Mal auf dem Weg zu seiner Schulter befand.
Im Nachhinein bedauerte sie es, dass sie nie den Mut aufgebracht hatte, im klatschnassen Nachthemd am staunenden Portier vorbei auf die Straße zu rennen. Sie hätte schreien und toben, ja eine Art Veitstanz aufführen können. Stattdessen trug sie eines von diesen langweiligen Hippie-Gewändern mit Blümchenmuster, wie sie damals üblich waren. Und kehrte stets verzagt und brav zurück, nachdem sie sich wenigstens dazu gezwungen hatte, durch die belebte 23rd Street hinauf einen Spaziergang zum Flatiron zu machen, einem der ältesten Hochhäuser Manhattans, das wegen seiner ungewöhnlich spitz zulaufenden Form ebenfalls zu ihren Favoriten zählte. Es war auch um Mitternacht noch von Touristen umlagert. Und wie immer umbrauste Felice, je näher sie ihm kam, aufgrund seiner besonderen aerodynamischen Beschaffenheit ein so heftiger Luftstrom, dass sie ihr Kleid festhalten und um ihr Gleichgewicht fürchten musste.

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