Vorgeblättert

Leseprobe zu Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand. Teil 3

06.07.2009.
(Ein weltberühmter Unbekannter)

Ja, ich komm gern hierhin, ich kenn den Wirt und seine Familie seit Urzeiten, Rudi an der Theke, Magda in der Küche, und Kathi haben Sie ja schon kennengelernt, die Serviererin, die Schwiegertochter. Ich komm gern hierhin, wo die Gäste mich nicht erkennen, die braven Wanderer sowieso nicht, die Rentnerhorden ... Gucken Sie nicht so kritisch, ich darf das! Ich darf mir ein paar Portionen Spott leisten, wie sich andere Leute Schlagsahne leisten. Wenn ich diese jungen Leute sehe, so rüstig, so seniorenstolz, mit Geld gepolstert und trotzdem untätig, nichts als Reisen und Wandern im Kopf. Das kann mir keiner verkaufen, dass Wandern und Reisen was großartig Aktives sein soll. Passive Leute hab ich nie gemocht, und nur weil einer läppische sechzig oder siebzig wird, ist das doch kein Grund, auf diese rüstige Art faul zu werden ... Damit Sie gleich sehen, was ich für ein reaktionärer Kerl bin: Ich plädiere für den Beginn des Rentenalters mit fünfundsiebzig, in einigen Branchen mit siebzig, Maurer und Dachdecker meinetwegen mit fünfundsechzig. Haben Sie das drauf? ... Nein, lauter sag ich das nicht, ich will ja nicht gelyncht werden, jedenfalls nicht heute ... Schon dies Wort, Rentner! Ich sag manchmal Rentiere, weil sie still und brav ihr Gras in sich hineinmümmeln in Form von Torten und Rotwein und keine echten Interessen haben. Jedenfalls nicht an den Wissenschaften, an geistigen Großtaten, keine Interessen außer weiterzuleben mit dem Fitnessprogramm ihrer Hüpfgruppen und einfach nur weiterleben wie ein Rentier in Lappland. Die meisten kennen nicht mal die wichtigsten Erfindungen ihrer Zeit, Computer kennen sie nur als Monster ... Ja, kann schon sein, dass sich das ändern wird, dass die Alten auch noch mal in die Tasten greifen. Aber ich wunder mich immer wieder, mit wie viel Nichtwissen man alt werden kann, alt und einigermaßen mit Geld versorgt und noch stolz auf das Nichtwissen ... Und jetzt, wo wir wieder vereinigt sind, im fünften Jahr der Vereinigung, muss natürlich besonders fleißig gereist und gewandert werden, Mecklenburg, Brandenburg, Thüringen warten und haben noch Zimmer frei, und das Jägerschnitzel kostet zwei, drei Mark weniger. Heute muss man in Dresden gewesen sein, in Potsdam, aber von der wichtigsten Maschine unserer Zeit muss man nichts wissen, immer noch nicht ... Kurz und gut, keiner von den tüchtigen Wanderern würde auf den Höhen der Vorderrhön den Erfinder des Computers vermuten, und deswegen geht's mir gut hier, wo ich ein bisschen palavern darf über Gott und die Welt und ... Nein, auch die Leute aus den Dörfern, Steinbach, Buchenau, Eiterfeld oder Ditlofrod, die hier mal ein Bier trinken oder sich ein Essen leisten, die kennen mich nicht, obwohl ich seit Jahrzehnten in dieser Gegend wohne und den Leuten Arbeitsplätze verschafft habe oder, um genau zu sein, ihren Eltern vor dreißig, vierzig Jahren. Man kennt mich nicht, obwohl ich weltberühmt bin. Ein weltberühmter Unbekannter, ein wunderbarer Zustand, glauben Sie mir. Sie sind hier oben der Einzige außer den Wirtsleuten ... Rudi kennt mich, seit er laufen kann, aber dem hab ich eingeschärft, er soll mich behandeln wie jeden anderen alten Herrn ... Klar, schon in den frühen Fünfzigern bin ich hier raufgestiefelt, seit wir in Neukirchen wohnten, wenn ich mal Ruhe haben wollte und nachdenken ... Was ich sagen will, genau das gefällt mir, dass hier keiner von mir Notiz nimmt, während gleichzeitig in Braunschweig Lobgesänge erschallen und in Berlin oder München die Professoren streiten, ob ich nun Deutschlands größter Erfinder des Jahrhunderts bin. Ich oder der Braun mit seiner Röhre oder der von Braun mit den Raketen oder dieser Mensch, dieser Fischer mit den Dübeln oder doch Otto Hahn, aber der war ja im eigentlichen Sinn kein Erfinder ... Ja, das Gulasch für mich. Danke. Wissen Sie, so etwas gefällt mir, während die Experten sich mit ihren Gutachten die Schädel spalten meinetwegen, wie sie mich nun werten und taxieren auf ihren albernen Ranglisten, und während der Braunschweiger Oberbürgermeister durch seine Rede stolpert und den Schluss nicht findet, hier mit Ihnen in aller Ruhe in die Rhön hinein zu schauen und über das Hessische Kegelspiel zu meditieren und das Bierglas zu heben ... Stimmt, der müsste allmählich fertig sein, dann wird nun der Staatssekretär XY sein Grußwort aufsagen, ein Großsprecher muss den nächsten überbieten, prost! ...


(Codewort Ada)

Jetzt lassen Sie sich's erst mal schmecken, trotz allem. Vielleicht ist das hier das einzige Jägerschnitzel, an das Sie Ihr ganzes Leben denken werden. Vielleicht sitzen Sie, wenn Sie so alt sind wie ich, mit Ihren Enkeln oder Urenkeln auf dieser Terrasse und verzehren zur Erinnerung an mich wieder ein Schnitzel, und Sie erzählen den lieben Kleinen, dass Sie noch den Erfinder des Computers gekannt haben und wie der Sie reingelegt hat mit seinem albernen Jägerschnitzel-Test. Sehen Sie, so gerät alles zur Anekdote, man muss nur warten können. Lassen Sie sich's schmecken, junger Mann ... Mein Wildgulasch ist auch nicht besonders interessant, da schaut man noch weniger durch als beim Schnitzel. Beim Wildgulasch weiß man nie genau, was drinsteckt, Hirsch oder Reh oder Wildschwein, irgendwie gemischt, vielleicht auch Hase, das kommt neuerdings alles aus Polen ... Verzeihen Sie, ich erzähle Ihnen lauter Unsinn über das Wildgulasch und überlege die ganze Zeit, wie ich Sie am besten darauf vorbereite, dass ich Ihnen eine, nun ja, soll ich das wirklich sagen, eine Liebesgeschichte zu Gehör bringe heute Abend. Und wie ich am besten anfange, und wie ich die auftische ... Meine schönste Liebesgeschichte, meine Affäre, eine lebenslange Affäre ... Ich hab keine Übung darin, verstehen Sie, ich hab die Geschichte noch nie erzählt ... Vor drei Wochen, als wir den heutigen Termin ins Auge gefasst haben, da, wie soll ich das sagen, da hab ich den Beschluss gefasst, da haben die zwei Seelen in meiner Brust einstimmig den Beschluss gefasst, an diesem Samstag, an diesem Juliabend, in dieser Vollmondnacht werd ich das Schweigen brechen. Obwohl ich Sie ja praktisch gar nicht kenne. Aber das ist vielleicht ein Vorteil. Das machen die Katholischen doch auch, dass sie am liebsten zu einem fremden Priester beichten gehen, oder? ... Aber vorhin, als ich mich hier auf den Berg chauffieren ließ, da hat mich der Mut verlassen. Und jetzt denk ich schon wieder anders: Wer weiß denn, denk ich, wie viele Gelegenheiten ich noch haben werde, mit ein paar Heimlichkeiten herauszurücken. Auch wenn man sich fit fühlt in meinem Alter und immer noch fit für Wildgulasch und fit für ein Bier und fit für einen kleinen Spaziergang nach dem Essen hinauf zur Burgruine der Schlag kommt immer unerwartet. Wissen Sie, ich will nicht erst auf dem Totenbett die große Beichte ablegen, das kriegt so was Feierliches, so was Tragisches. Das hätte was von Reue, eine Lebensbeichte, ein letztes Geständnis vor der Höllenfahrt. Dabei ist es doch was Fröhliches! Es gibt nichts zu bereuen! Und meine Geschichte mit Ada der Welt erst dann mitzuteilen, wenn ich fast nicht mehr sprechen kann, wenn ich gelähmt bin, wenn ich flachliege, umstellt von lauter Menschen mit Trauergesichtern, das wäre unwürdig, das wäre unmännlich, das passt da nicht hin. Im übrigen widerspräche es meiner ganzen Einstellung zum Leben: Mensch, werde wesentlich! Und wie wesentlich diese Geschichte ist, werden Sie hören ... Also, ich werde im Lauf des Abends darauf hinsteuern, versprochen, das Codewort heißt Ada. Und wenn ich mal nicht weiterweiß und wenn Sie gerade keine gescheite Frage auf Ihrem Block haben, dann nennen Sie einfach das Codewort Ada, dann spielen Sie mir das zu, und ich werde ... Denken Sie bloß nicht, dass ich dauernd abschweife, ich bin eigentlich immer noch beim Jägerschnitzel. Ich wollte was zum Manipulieren sagen. Zweimal in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, seit ich diesen Test mache, hatte ich es mit Damen zu tun. Leider schicken einem die Redaktionen immer Herren, weil sie meinen, das passt besser, Männer und Technik und so. Zweimal jedenfalls hatte ich Damen zum Interview, eine kam vom Radio, eine von einer Wirtschaftszeitschrift, glaub ich und beide haben auf ihrer eigenen Menüwahl bestanden, die sind nicht reingefallen auf mein Jägerschnitzel. Als ich ihnen gratuliert und gesagt habe, sie hätten eine wichtige Voraussetzung, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung zum Erfinderdasein, nämlich Eigensinn, da haben sie das für ein billiges Kompliment gehalten. Die haben mich gar nicht verstanden, die haben nur gedacht, der Alte will ihnen auf die Pelle rücken ... Das ist übrigens eine völlig vernachlässigte Frage, warum wird der Eigensinn der Frauen, ich spreche jetzt mal ganz allgemein, so wenig genutzt für die Technik, für Innovationen? Was für Potentiale da brachliegen! In jeder zweiten Rede können Sie mich rufen hören: Wo bleiben die Erfinderinnen? Das steht auch in dem Braunschweiger Manuskript, das meine Tochter nachher vorlesen wird, wenn die Herren endlich durch sind mit ihren acht oder neun Grußworten und Lobreden. Sie sehen, ich hab eine hohe Meinung von den Frauen. Das verdanke ich Ada, Ada Lovelace ... Sie ist die Ausnahme ... Jetzt ist es raus ... Jetzt ist der Name genannt, jetzt kann ich nicht mehr zurück ...


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Rowohlt Berlin.

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