Vorgeblättert

Leseprobe zu Eva Menasse: Quasikristalle. Teil 1

07.02.2013.
Nichts war einfach, bekannt, sicher, geglaubt, verbürgt.
- Janet Frame -

1

Sommerferien. Seit Wochen hatte Judith das Grundstück ihrer Eltern kaum verlassen, den verwilderten Garten, das riesige, baufällige Haus, das ihre kleine Schwester in einer Mischung aus Dreistigkeit und Unschuld unsere Villa nannte. Als Mädchen hatte Judiths Mutter von einem Schlösschen geträumt, und Judiths Vater, der sich gerade mit Verve von seinen Eltern losgesagt hatte, weil sie Nazis gewesen waren und es dennoch wagten, seine junge Frau abzulehnen, war so verliebt und kopflos gewesen, mit geliehenem Geld diese Ruine zu kaufen. Weil sie theoretisch Jugendstil war. Aber seither, seit über vierzehn Jahren, wuchs ihm die Renovierung in hinterhältigen Schritten über den Kopf, als wüsste das Haus genau, dass er sich niemals geschlagen geben würde, und verurteilte ihn, den autodidaktischen Bauarbeiter, daher zu lebenslang.
     Die Gewissheit, dass es jemals Schule gegeben hatte, löste sich in der Hitze auf. Die hektischen Überlebenskämpfe kurz vor dem Zeugnis nahmen sich von hier, in der Tiefe des Zeitgrabs, genauso schemenhaft aus wie die Aussicht auf den unvermeidlichen Wiederbeginn im Herbst, für dessen kleine Änderungen (Altgriechisch als neues Fach, die schwangere Mathelehrerin und vielleicht als Sensation ein neuer, gewiss wieder verhaltensgestörter Schüler) Judith nur mühsam Interesse hätte heucheln können. Aber es war ohnehin keiner da.
     Xane war, anders als sonst, gleich nach Schulschluss nach Frankreich geschickt worden. Und Claudia verbrachte wie jedes Jahr fast die ganzen Ferien bei ihren Großeltern in einem fernen, westlichen Dorf. Judith und Xane wussten genau, dass ihre Briefe über Langeweile und Sehnsucht verschämte Lügen waren, denn Claudia war die geborene Bäuerin, das sah man schon an ihrem Gesicht. Bei jeder längeren Trennung steigerten sich Judith und Xane in eine Claudia-Verachtung hinein, die es eine Weile unmöglich erscheinen ließ, zu Schulbeginn wieder in die alten Gewohnheiten zu schlüpfen, das heißt, Claudia zum anhaltenden Erstaunen von Lehrern und Mitschülern als gutmütigen, dienstbaren Satelliten mit sich herumzuschleppen. Xane und Judith waren ein Amazonenduo, das sich zu blasiert für den Umgang mit dem Fußvolk gab. Keiner wagte es, sich mit ihnen anzulegen. Was Claudia erwarten würde, wenn sie sie fallen ließen, war nicht ganz klar. Aber vermutlich nichts Angenehmes.
     Ein guter Kerl, hatte Xanes Mutter einmal über Claudia gesagt, und seither begannen Xane und Judith ihre kurzen, vergifteten Duette oft mit der Frage: Wie es wohl unserem guten Kerl geht?
     Heute war ich mit der Oma in den Schwammerln, würde zum Beispiel die andere piepsig antworten, eine Ansichtskarte von Claudia aus Volksschulzeiten zitierend. Aber da sie älter und boshafter wurden, sagte inzwischen die Erste, wahrscheinlich mistet sie den Stall aus, und die Zweite spann weiter, und wäscht sich nachher die Haare mit Kernseife, woraufhin die eine ergänzte, du meinst, die Schamhaare, und die andere, schon unter gepresstem Gelächter, antwortete, hoffentlich wäscht sie nicht ihrem Opa die Schamhaare mit Kernseife, denn die beiden hatten vor Kurzem, nur auf Basis eines Fotos, befunden, Claudias Großvater sehe aus wie ein Kinderschänder.
     Bisher war es immer gut gegangen, mit der Wiederaufnahme ihrer Beziehungen zu Claudia im Herbst. Dafür gab es Gründe. Zum einen verreiste Xanes Familie normalerweise am Sommerende, und Xane erschien erst direkt zu Schulbeginn wieder. Dann aber war die Luft draußen, und sie schämten sich insgeheim für die Dinge, die sie Wochen zuvor gesagt hatten. Und diese doppelte Scham, nämlich auch die Scham, sich zu schämen, führte dazu, dass das Thema eine Weile tabu war.
     Zum anderen bekam man am Schulanfang Claudias Mutter öfter zu sehen. Sie war jung, denn sie hatte Claudia in einem skandalösen Alter bekommen, das ungefähr mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit zusammengefallen sein musste. Dazu war sie hinreißend hübsch, ein ungeschminkter Engel. Und sie war unkompliziert und herzlich, so wie es keine andere ihnen bekannte Mutter war, weil die Mütter ansonsten auf kratzbürstigen Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren halbwüchsigen Konkurrentinnen achteten.
     Vielleicht - das konnte Judith damals ungenau spüren - war Claudias Mutter, die jeder Lizzie nennen und duzen durfte, der Grund, warum Xane und sie Claudia erduldeten. Aber natürlich lag es auch an Claudia selbst, die sie beide von klein auf kannten, länger als einander.
     Claudia war genauso blond und freundlich wie Lizzie, aber bei ihr hatte alles einen Zug ins Grobe. Ihre Nase war im Vergleich mit der ihrer Mutter nur ein winziges bisschen aufgeworfen, sah deshalb aber gleich aus wie ein Schweinerüsselchen; sie wurde, und nicht nur in der Schule, ständig rot, schwitzte leicht, verhaspelte sich beim Sprechen und fuhr sich andauernd durch die Haare, was man denen deutlich ansah. Und während man sich bei Lizzie - oder Frau Denneberg - wie in einem heiteren französischen Film fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. An Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. Das verstand Judith erst als Erwachsene. Damals machte es Xane und sie einfach aggressiv, dass Claudia nicht nur jedes Talent fehlte, sondern auch die mindeste Fähigkeit zur Verstellung.
     Aber deshalb beschützten sie sie. Sie, von denen man annehmen hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit ebenso leide wie sie.
     Und schließlich waren sie in die Verstrickungen mit Claudia schon vor langer Zeit hineingeraten, in einem Zustand kindlicher Unschuld. Judith kannte Claudia seit dem ersten Schultag, und Xane, die in eine andere Volksschule gegangen war, wohnte im selben Haus.

Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen wollen. Sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen erforderte. Judith schrie und tobte, ihrer Mutter rutschte mehrmals die Hand aus, wie man die Ohrfeigen damals nannte, das Kleid wurde schmutzig, weil Judith sich zwischendurch am Boden wälzte, und das Seidentuch, das als überbreites Band ihre Haare niederhalten sollte, passte farblich nicht zum einzigen Ersatzkleid. Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. Als sie bei der Schule vorfuhren, wo sich herausgeputzte Kinder den väterlichen Kameras präsentierten, hatte die dreijährige Salome unbemerkt einen Großteil von Judiths Süßigkeiten verschlungen und übergab sich gleich nach dem Aussteigen auf dem Gehsteig.
     Judith hatte ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach Farbe roch. Sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf-Gezischel. Doch als sie von der Lehrerin ermuntert wurde, mehrere vorgedruckte Birnen anzumalen, die ihr persönliches Symbol für Kleiderhaken, Hausschuh-Fach und alle Schulbücher sein würden, jedenfalls so lange, bis sie lesen und schreiben konnte, und sie dabei feststellte, dass ihr Federpennal anscheinend, als weiteres Opfer des Haar- Dramas, zu Hause vergessen worden war, begannen die Tränen zu fließen. Da stupste eine kleine Blonde ihren Unterarm an, schob ihr ein Taschentuch hin, teilte alle Buntstifte mit ihr und flüsterte später, als sie wieder hinaus, zu ihren wartenden Familien entlassen waren: Deine Haare sind so schön. Darf ich sie angreifen?
     Judith nickte, Claudia streichelte ihr vorsichtig den Kopf, den Mund vor Anspannung halb offen, und sagte staunend: Wie rote Zuckerwatte.
     Das war der Anfang.
     Xanes erste Begegnung mit Claudia war angeblich in den Nebeln der Kindheit versunken. Judith unterstellte ihr, etwas zu verheimlichen. Aber Xane schien sich wirklich an nichts Besonderes zu erinnern und behauptete, Judith um die klar zuordenbare Geschichte mit der Zuckerwatte zu beneiden, übrigens die einzige gute Formulierung, die man je von Claudia gehört hatte. In Deutsch war sie später eine Doppelnull, noch schlimmer als in den anderen Fächern, von Biologie und Zeichnen abgesehen.
     Kurz bevor sie ins Gymnasium kamen, hatten sie sich zum ersten Mal zu dritt getroffen. Lizzie Denneberg wollte die beiden Freundinnen ihrer Tochter miteinander bekannt machen, da sie alle in dieselbe Klasse kommen würden. Lizzie lud auch die Mütter ein. Xanes Mutter war an diesem Tag beim Friseur gewesen und sah obenherum etwas überdimensioniert aus, besonders im Vergleich mit Frau Dennebergs jugendlichem Pferdeschwanz. Sie versuchte diesen Nachteil mit sprudelndem Lob für Lizzies Blumenbalkon zu überspielen. Die Schüchternheit von Judiths Mutter hielten die beiden für vornehme Zurückhaltung. Immerhin war sie gerade für eine Weile gesund.
     Als die Mütter Kaffee tranken, verzogen sich die Mädchen ins Kinderzimmer. Claudia wollte Blumen aus Seidenpapier basteln und legte ihre bunten Papierbogen, den Blumendraht, die Scheren und das Klebeband in einer, wie sie meinte, unwiderstehlichen Reihe auf dem Fußboden aus. Judith und Xane starrten einander an wie vom Blitz getroffen. Sie hatten beide eine Art zweite Claudia und einen dementsprechend kindischen Nachmittag erwartet. Und nun waren sie entzückt, wegen der ungeahnten neuen Möglichkeiten, aber auch verwirrt wegen ihrer Verpflichtungen gegenüber Claudia, die nichtsahnend zum fünften Rad am Wagen geworden war.

In jenem Sommer, bevor sie in die Oberstufe kamen, war alles anders als in den Jahren zuvor. Xanes Eltern hatten den Familienurlaub aus irgendwelchen Gründen streichen müssen, und Xane war, wie Claudia, sofort nach Schulschluss von einem unbekannten Ort verschluckt worden. Sie blieb länger weg, als Judith erwartet hatte. Als sie endlich anrief, gestand sie unter viel Gekicher und verräterischen Abschweifungen, dass sie auf dem Rückweg noch ein paar Tage bei Claudia vorbeigeschaut habe.
     Ein paar Tage, wiederholte Judith langsam, wie lange genau?
     Aber Xane tat, als würde sie das nicht mehr wissen, warte mal, sagte sie, ich bin am Sonntag von Nizza weg, also war ich am Montag - oder nein, ich glaube, es war erst Montag, als ich …
     Vergiss es, sagte Judith, ist nicht so wichtig. Xanes Stimme klang so falsch wie ihre Geschichte, die undenkbar war bei ihren wohlorganisierten Eltern, und bei Claudias Großeltern sowieso, über die Claudia immer klagte, sie seien so streng. Aber dass Xane und Claudia schon vor den Ferien gewusst haben sollen, dass sie sich in jenem Dorf wiedersehen würden, nur sie beide, ohne Judith, hinter Judiths Rücken, das konnte sie sich noch weniger vorstellen. Und deshalb musste sie Xane sehen, so schnell wie möglich, und lud sie einfach für ein paar Tage ein, vereinbarte Datum und Uhrzeit, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.

Du hast was gemacht, zischte ihr Vater, du blödes, gedankenloses, egoistisches Stück …
     Judith hatte vorsichtshalber zu weinen begonnen, ehe sie zu ihm gegangen war, in das Gartenhaus, in das er seit Wochen eine Sauna einzubauen versuchte. Von ihrer Mutter war zurzeit kaum etwas zu sehen, nur manchmal hörte Judith nachts, im Halbschlaf, dass sie mit dem Hund das Haus verließ.
     Der Vater stand vor ihr, in einer staubigen Arbeitshose, das Gesicht ein unscharfer hellerer Fleck vor dem Hintergrund. Sie zog den Kopf ein und hob die Ellbogen vors Gesicht, er legte den Schlagbohrer hin, mit einer zarten, beinahe nachdenklichen Bewegung, aber dann war er schon bei ihr und schlug zu. Judith ließ sich fallen und umklammerte seine Knöchel. Sie schrie, bettelte und wimmerte, aber das alles war längst ein Programm, das in ihr ablief, eine Rolle, die dafür sorgte, dass sie so gut wie unempfindlich wurde. Es war, wie im Meer von ein oder zwei Wellen überrollt zu werden. Man wusste ungefähr, dass man nicht länger unter Wasser gedrückt würde, als man maximal die Luft anhalten konnte. Genauso, wie sie wusste, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen, die Nackenmuskeln aber möglichst locker lassen musste, wenn der Vater zum Schluss mitten in ihre Haare greifen und ihren Kopf ein paar Mal hin- und herschütteln würde. Da er durch ihre Büßerinnenhaltung raffiniert an den Beinen behindert war, konnte er ihr ja sonst gar nicht richtig wehtun. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie sich einmal beinahe ein Stück Zunge abgebissen und war danach zum ersten Mal über das eigene Spiegelbild erschrocken, sein Handabdruck samt Ehering fast komplett im Gesicht und all das Blut, das noch lange in ihren Mund lief. Als er mit beiden Händen in ihren Haaren war, ließ sie seine Beine los und rollte sich wie ein Igel zusammen. Dann kam ein Tritt, und noch einer, und dann war es vorbei.
     Er saß auf einem Haufen Ytongsteine, das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, hätte er einem fast leidtun können, auch wenn sie gleichzeitig davon träumte, ihm den Schlagbohrer durch die Kniescheibe zu drillen. Du weißt doch …, murmelte er und deutete mit der Hand ins Ungefähre, du kannst nicht einfach …
     Judith setzte sich auf. Sie bemühte sich, noch ein bisschen zu schluchzen und die Nase aufzuziehen.
     Papa, ich hab nicht … Xane war in jeden Ferien da … soll ich wieder absagen?
     Ihr Vater schüttelte den Kopf und stöhnte. Und genau darauf hatte sie gezählt. Deshalb war es einerseits ihre einzige Möglichkeit gewesen und andererseits ein so großes Verbrechen: Es mussten Tatsachen geschaffen werden, weil ihr Vater sein Gesicht nicht verlieren konnte. Nicht nur beim Schlagen war er verlässlich. Wenn Judith Xane eingeladen hatte, konnte man nicht zurück. Xane war immer willkommen. Xanes Vater war ein bekannter Mann. Judiths Vater würde sein Gesicht nicht verlieren. Mehr war ihm kaum geblieben.
     Denk dir halt was aus, sagte er, und Judith nickte. Aber mach das nicht noch einmal, sonst bring ich dich um.

Seit sie Xane kannte, kam Judith viel besser mit sich selbst zurecht. Früher hatte sie niemanden nach Hause eingeladen, hatte behauptet, dass sie von den fremden Kindern keines leiden konnte. Ihre Eltern irritierte das nicht. Die anderen Kinder blieben in dem Glauben, dass das Haus von Judiths Eltern nicht nur zu weit weg, sondern auch zu vornehm sei, als dass sie mit ihren Rotznasen und Schokoladefingern als Besucher in Frage kämen. Als ihre Schwester drei Jahre später in dieselbe Schule kam, verdichteten sich die Hinweise auf ein irgendwie exzentrisches Leben der Baer-Mädchen, weil Salome immer von unserer Villa sprach, genauso wie sie die Bäckerei ihrer Eltern als unsere Konditorei bezeichnete.
     Die meisten Kinder kannten die Bäckerei Baer, die in der Nähe der Schule lag. Sie hieß vor allem wegen der hübschen Alliteration so, denn sie hatte durchaus gehobenen Anspruch. Man konnte auch sitzen und Kaffee trinken. Als Gesamtkunstwerk im Stil der Zwanzigerjahre wehrte sie sich wie Asterix gegen die Ankerbrot- und Aida-Filialen, von denen sie umzingelt war. Konditorei schien dafür keine Übertreibung zu sein. Deshalb glaubten die Kinder auch die Villa.
     Doch Judith hatte nie jemanden nach Hause eingeladen, weil sie sich für die Betonmischmaschine vor der Haustür schämte, für das rot-weiße Absperrband vor dem unbenutzbaren zweiten Stock, und dafür, dass sie nicht einmal ein richtiges Bad hatten. Es gab nur eine Wanne mit Löwenfüßen, die in der Küche stand und in der ihre Mutter früher den ganzen Sonntagvormittag im warmen Wasser gelegen war und Arien gesungen hatte. Damals hatte ihr Vater noch gelächelt, bevor er zu seinen endlosen Bauarbeiten ging, für die er, wie er später murrte, ein paar Söhne gebrauchen hätte können.
     Judith sehnte sich nach der Art Zuhause, wie es Xane hatte, einer spießigen Neubauschachtel voller Verlässlichkeit. Aber Xane war hingerissen gewesen, das hatte Judith sofort erkannt, an ihrer ungewöhnlich blöden Bemerkung - Pippi wohnt wirklich in der Villa Kunterbunt -, ebenso wie an ihrem Gesicht. Xanes ironische Distanz, das, was sie in Judiths Augen nicht nur anziehend, sondern auch gefährlich machte, verschwand für eine Weile, wenn sie Judith besuchte. Sie sah dann beinahe so glücklich aus wie sonst nur Claudia, wenn ihr eine Papierblume gelungen war.
     Wenn Xane da war, vergaß Judith die Baumaschinen und die abblätternden Türrahmen. Xane wunderte sich nicht darüber, dass der Raum mit dem alten Flügel und dem ausgetretenen Sternparkett, in dem Judiths Mutter früher gesungen und getanzt hatte, 'gelber Salon' genannt wurde, und sie merkte sich, dass es theoretisch auch einen blauen Salon gab, der zurzeit als Lager für Werkzeuge und Farbkübel benutzt wurde. Bei uns zu Hause gibt es nur Zimmer, sagte Xane, rümpfte die Nase und stürzte sich kreischend, mit ausgebreiteten Armen, die Vortreppe hinunter, in den Garten hinein.

Als Xane aus dem Bus stieg, sah sie fremd aus, die Haare kürzer, die Haut gebräunt, und als Ganzes noch schmaler und größer. Dabei waren es nur ein paar Wochen gewesen. In der Hand hielt sie einen Brief, den sie anscheinend gerade geschrieben hatte. Judith tat so, als ob sie nicht wüsste, wo die nächste Trafik war. Das war weniger gelogen als eine Weigerung, nachzudenken. Als Xane insistierte - komm schon, du wohnst hier -, wurde sie bockig, sagte nichts mehr und schoss eine leere Dose ins Gebüsch. Xane zuckte die Schultern und fragte einen Passanten.
     Als sie die Briefmarke hatten, fragte Judith wie nebenbei nach dem Empfänger. Xanes Einsilbigkeit konnte ja auch das Gegenteil bedeuten, dass sie nämlich darum bettelte, gefragt zu werden. Doch hochnäsig kam zurück: Kennst du nicht.
     Ich wollt nur wissen, ob du schon stirbst vor Sehnsucht nach unserer Mitzi Keuschli, stichelte Judith, und Xane stutzte und begann zu lachen.
     Mitzi Keuschli, wiederholte sie, das ist ja gut! Wann ist dir das denn eingefallen? Du, unsere Mitzi kann schon melken, sie hat es mir gezeigt, nur den Trick aus 'Heidi', mit in den Mund spritzen, den übt sie noch.
     In den Mund spritzen, quiekte Judith, bist du grauslich, und dann lachten sie und sprachen von Claudia nur noch als Mitzi Keuschli und darüber, ob sie wohl ihre blonden Schamhaare zu Zöpfen flechten konnte, und das, als alter dünner Klebstoff, musste eben vorläufig genügen.

Die Tage mit Xane vergingen kaum anders als vorher. Trotzdem fühlte Judith sich irgendwie gesichert, nicht nur stabiler, sondern auch weiter weg, wie ein Boot in fremdem Hafen. Abends blieben sie lange auf und spielten ihre paar Schallplatten, dann schliefen sie in den Vormittag hinein, lagen später im Garten, warfen mit Steinen auf die Regentonne und unternahmen einen halbherzigen Versuch, ein Baumhaus zu bauen.
     Mit Judiths Vater war Xane immer gut zurechtgekommen; ihm gegenüber benahm sie sich wie ein Ausbund an Vernunft und Erwachsenheit. Wenn sie sich unterhielten, kamen sie Judith fast feindlich vor, diese beiden, die einen intakten Abstand zueinander hatten und deshalb so zivilisiert miteinander sprechen konnten wie programmierte Puppen. Sie dagegen war verwickelt, mit dem einen wie der anderen, da bekam alles eine Bedeutung, der Ton, der Ausdruck, und auch das, was fehlte.
     Die Sache mit Mama wurde Xane beiläufig mitgeteilt. Judith bemerkte wieder einmal, wie sehr sie es genoss, andere lügen zu hören. Ach, übrigens, sagte Papa bei einem legeren Imbiss im Garten mit Semmeln und Würsteln und betrachtete dabei nicht Xane, sondern seine Tochter so interessiert, als hätte sie ein neues Gesicht, ich weiß nicht, ob Judith es dir schon erzählt hat, aber ihre Mutter ist ein bisschen überarbeitet. Am besten lasst ihr sie in Ruhe.
     Kein Problem, sagte Xane lässig, während sie mit ihrem Würstel Kreise durch den Senf zog, wir halten uns im Hintergrund.
     Super, dein Vater, sagte sie später, und wo steckt deine Mutter die ganze Zeit?
     Wahrscheinlich im Bett, sagte Judith. Sie geht dafür in der Nacht spazieren.
     Das braucht sie sicher, als Erholung, sinnierte Xane, vollkommen zufrieden mit sich und ihrem Einfühlungsvermögen: diese Freiheit, den Rhythmus total umzudrehen. Und Judith dachte, halt du einfach den Mund.
     Sie lagen nebeneinander, quer in einer muffigen Hängematte, die Füße im Gras, und rauchten. Judith stahl ihrem Vater Zigaretten aus den Päckchen, die überall herumlagen, und nahm an, dass er das sogar wusste. Sie hortete sie im Garten, in einer gelben Blechdose mit Mohrenkopf, deren Versteck regelmäßig wechselte. Xane rauchte bemüht und unsouverän. Ihr Filter war immer feucht, sie spreizte den kleinen Finger unnatürlich ab wie alte Weiber beim Teetrinken und hüstelte.
     Eigentlich darf ich gar nicht rauchen, sagte sie und schnippte den Stummel in einen Busch.
     Glaubst du, ich darf, fragte Judith und zündete sich die Nächste an der vorherigen an.
     Ich hab als Kind Lungenentzündung gehabt, sagte Xane, da wäre ich fast dran gestorben.
     Judith schwieg.
     Deswegen sind wir immer im Mai ans Meer gefahren.
     Ich hab geglaubt, ihr seid im Mai gefahren, weil deine Eltern nicht fahren wollten, wenn alles voll ist?
     Deswegen auch. Aber vor allem wegen meiner Lunge. Die salzige Luft im Frühling. Der Arzt hat gesagt, rauchen sollte sie später halt nie. Ich war alle paar Wochen beim Schleimabsaugen, da haben sie mir so eine Maske aufgesetzt, Lachgas, glaube ich, ich habe geheult und geschrien und den Kopf weggedreht, das war so was von brutal. Sie ließ den Satz ohne Abschluss in der Luft hängen.
     Nicht weinen, sagte Judith.
     Xane sprang auf und trat gegen die Hängematte. Geh scheißen, sagte sie und verschwand.
     Nach einer Weile erhob sich auch Judith und spähte um die Ecke. Xane saß am Gartentisch und schrieb. Wahrscheinlich der nächste Brief. Judith beschloss, sich aus ihrem Zimmer ein Buch zu holen. Im Haus war es still und kühl. Die Tür zum gelben Salon, in den der Vater ein großes, hohes Bett für die Mutter stellen hatte müssen, war weiterhin geschlossen.
     Judith ging in ihr Zimmer und hockte sich auf den Boden. Sie wühlte unentschlossen in ihren Sachen herum, betrachtete Bücher, zog ein paar Fotos heraus und kniete plötzlich vor Xanes Reisetasche.
     Die Briefe waren nicht großartig versteckt, nur ganz unten, sodass man die Hand an der Taschenwand entlang bis zum Boden schieben musste. Und sie tat auch nichts anderes, als einen Blick auf den Absender zu werfen. Dann steckte sie die Briefe zurück und ging wieder hinaus, in die Hängematte.
     Irgendwann kam Xane zurück. Ich glaub, ich rauch noch eine, sagte sie.
     Judith hielt ihr die Mohrendose hin.
     Dein Vater hat gerade gesagt, ich soll ihn ruhig duzen, sagte Xane und kicherte, das finde ich aber komisch: Heinz …
     Tom ist natürlich viel schöner, sagte Judith, aber wahrscheinlich heißt er eh nur einfach Thomas?
     Xanes Gesichtsausdruck erschreckte sie, und sie hätte es gerne zurückgenommen. Aber wenn man etwas begonnen hat, muss man es fertig machen, sonst bricht alles zusammen, das predigte ihr Vater immer, auch wenn man viel Geduld braucht, gerade mit einem so anspruchsvollen Objekt, das erst mehr verlangt, dann aber viel mehr können wird, ihr werdet schon sehen, das alles ist eine Investition in die Zukunft.
     Xane stand vor ihr, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen die unangezündete Zigarette.
     Hau mich ruhig, sagte Judith leise, du kannst mich gern hauen, aber ich hab sie nicht gelesen, das schwöre ich dir.
     Xane stand und starrte.
     Feuer, fragte Judith und musste beinahe lachen. So ging es ihr leider oft, auch wenn ihre Mutter schimpfte und schluchzte, aus keinem ersichtlichen Grund, und wenn sie drohte, sie werde alles dem Vater erzählen, am Abend, und der werde es ihr schon zeigen, das wisse sie genau, wenn es ihr so schlecht gehe, könne Judith sich nicht aufführen wie …, und dann gingen der Mutter manchmal die Worte aus und sie warf mit irgendetwas, einmal sogar mit einem Topf, aber nicht mit dem heißen, und bei solchen Gelegenheiten musste Judith manchmal lachen, obwohl es die Lage nie verbesserte, im Gegenteil, aber sie rechnete sich das immerhin als Ehrlichkeit an.
     Xane drehte sich um und sagte im Weggehen, bin gleich wieder da, und sie war so schnell zurück, dass Judith meinte, sie habe in der Zwischenzeit höchstens einmal an der Zigarette gezogen, irgendwie magisch. Zurück kam sie mit den drei Briefen und warf sie ihr hin, du kannst sie gerne lesen, lies sie halt, doch Judith wollte nicht, um nichts in der Welt wollte sie jetzt das, wovor sie sich zwanzig Minuten vorher nur mühsam hatte bewahren können, ich will nicht, das interessiert mich nicht, behalt deine Briefe, oder erzähl mir halt, was drinsteht, wer ist der Typ überhaupt?
     Und von da an wurde endgültig alles anders, vollkommen anders, aber nicht besser.
     Von da an ließ Xane alle Gefühle strömen, immer wieder, in süßlichen Sturzbächen: wie sie diesen Tom in Frankreich kennengelernt hatte, wie er aussah, was er zu ihr gesagt hatte, dass er einmal ihre Hand genommen hatte, und die besten Passagen seiner Briefe konnte auch Judith bald auswendig. Am Anfang fand sie es ebenfalls unglaublich, dass Tom aus einem Ort in der Nähe von Claudias Großeltern stammte, und total genial, wie Xane ihre Eltern überredet und sich bei Claudia selbst eingeladen hatte. Am Anfang war sie von der Geschichte mitgerissen, aus Erleichterung, weil Xane nicht zu Claudia übergelaufen war, und aus juckender Neugier, da sie selbst bisher erst zwei Arten von Männern begegnet war, den Buben aus der Klasse, die noch mit Schlümpfen spielten, und ihrem Vater, diesem pathetischen Schläger.
     Aber bald ging es ihr tödlich auf die Nerven. Die einzigen Momente, wo Xane nicht von Tom sprechen, tiefsinnige Überlegungen bezüglich Toms Charakter anstellen und ihre eigenen Gefühle in immer schillerndere Einzelteile zerlegen konnte, waren die Fahrten mit Salome und dem Vater zum Großmarkt. Für Judith war das ein Unterschied wie zwischen Pest und Cholera. Denn ihr Vater, der nicht mehr an die Erholung seiner Frau glauben mochte, verlangte, dass die Mädchen beim Einkaufen und Essenmachen halfen. Und Xane fand das allen Ernstes interessant. Zwar saß sie im Auto freiwillig hinten, damit Judith und Salome getrennt waren, aber abends ließ sie sich von ihrem neuen Freund Heinz beibringen, wie man Nudeln kochte oder Reis, sie rührte mit ihm Salatsoßen und benahm sich in jeder Hinsicht wie das Prämienmodel aus dem Tochterkatalog. Wenn die Schwestern beim Zähneputzen stritten, bis Judith brüllte und Salome biss, vermittelte Xane mit makelloser Fairness, schien aber insgeheim, genau wie der Vater, der Meinung zu sein, dass Judith übertreibe. Zur Strafe für alle, auch für sich selbst, ging Judith dazu über, nicht mehr Papa zu sagen, und so hatte nur noch Salome einen Papa, und die großen Mädchen hatten einen Heinz, der ihnen abends sogar einen Schluck Wein erlaubte.

Teil 2