Vorgeblättert

Leseprobe zu Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Teil 1

01.03.2007.
1 . Z I M T


Du sollst nicht verfluchen, was vom Himmel fällt. Dazu gehört auch der Regen.

Egal was herabregnet, egal wie heftig der Wolkenbruch oder wie eisig der Schneeregen, du sollst niemals Flüche aussprechen gegen egal was der Himmel für uns bereithält. Jeder weiß das. Auch Zeliha.
Und dennoch ging sie an diesem ersten Freitag im Juli fluchend auf einem Bürgersteig, der eine hoffnungslos verstopfte Straße entlangführte; sie hastete zu einem Termin, zu dem sie jetzt schon spät dran war, fluchte wie ein Kutscher und ließ eine Schimpfkanonade nach der anderen los, über das kaputte Pflaster, ihre Stöckelschuhe, den Mann, der ihr folgte, über jeden dieser Autofahrer, die wie wild hupten, obwohl doch jeder wußte, daß Lärm die Auflösung von Verkehrsstaus nicht befördert, über die ganze Dynastie der Osmanen, weil die vor langer Zeit die Stadt Konstantinopel erobert und aus Versehen geblieben war, und ja, über den Regen ?, diesen verdammten Sommerregen.

Hier ist Regen eine Qual. In anderen Teilen der Welt gilt ein Wolkenbruch wahrscheinlich als Segen für nahezu alles und jedes - gut für die Landwirtschaft, gut für Flora und Fauna und, mit einem Extraschuß Romantik, gut für Verliebte. In Istanbul ist das nicht so. Für uns hat Regen nicht unbedingt mit Naßwerden zu tun. Ja nicht einmal mit Schmutzigwerden. Wenn überhaupt, dann mit Wütendwerden. Er bedeutet Schlamm und Chaos und Zorn, als hätten wir nicht schon genug von alldem. Und Kämpfen. Er hat immer mit Kämpfen zu tun. Wie Kätzchen in einem Eimer Wasser kämpfen alle zehn Millionen von uns vergeblich gegen die Tropfen. Man kann nicht sagen, daß wir dabei ganz alleine wären, betroffen sind auch die Straßen mit ihren vorsintflutlichen Namen, die mit Schablonen auf Blechschilder geschrieben sind, die überall verstreuten Grabsteine aller möglichen Heiligen, die Müllhaufen, die an fast jeder Ecke warten, die überdimensionalen Baugruben, die sich bald in moderne Prachtbauten verwandeln sollen, und die Seemöwen ? Uns alle macht es wütend, wenn der Himmel sich auftut und uns auf die Köpfe spuckt.

Wenn aber die letzten Tropfen den Erdboden erreichen und noch viele weitere unsicher auf den nun vom Staub befreiten Blättern balancieren, in diesem ungeschützten Augenblick, wenn man nicht ganz sicher ist, ob der Regen endlich aufgehört hat, ja nicht einmal er selbst es weiß, genau in diesem Moment wird alles heiter. Eine ganze Minute lang scheint der Himmel sich für das zu entschuldigen, was er da angerichtet hat. Und wir, immer noch Tröpfchen im Haar, Matsch im Hosenaufschlag und Trostlosigkeit im Blick, starren in den Himmel, der jetzt in einem etwas helleren Tiefblau und klarer denn je erstrahlt. Wir blicken auf und lächeln unwillkürlich zurück. Wir vergeben ihm; das tun wir immer.

Im Augenblick schüttete es allerdings noch und Zeliha empfand wenig bis gar keine Versöhnlichkeit in ihrem Herzen. Sie besaß keinen Schirm, denn sie hatte sich geschworen, daß es ihr, wenn sie so blöd wäre, noch einmal einem Straßenhändler Geld für noch einen weiteren Schirm hinzublättern, den sie, sobald die Sonne herauskäme, wieder irgendwo liegenließe, ganz recht geschähe, bis auf die Haut naß zu werden. Im übrigen wäre es jetzt sowieso zu spät. Sie war bereits triefnaß. Hierin glich Regen der Traurigkeit: Man tat alles, um unberührt, sicher und trocken zu bleiben, aber wenn einem das nicht gelang, kam ein Punkt, wo man das Ganze nicht mehr als Problem einzelner Tropfen, sondern als unaufhörlichen Schwall betrachtete, und beschloß, daß man dann genauso gut auch richtig naß werden konnte.

Regen tropfte von ihren dunklen Locken auf ihre breiten Schultern. Wie alle Frauen in der Familie Kazancı war Zeliha mit rabenschwarzem, krausem Haar zur Welt gekommen, aber im Gegensatz zu den anderen mochte sie es so. Von Zeit zu Zeit verengten sich ihre normalerweise weit geöffneten und eine messerscharfe Intelligenz ausstrahlenden jadegrünen Augen zu zwei Strichen unverhohlener Gleichgültigkeit, die nur drei Gruppen von Leuten zu eigen ist: den hoffnungslos Naiven, den hoffnungslos Zurückhaltenden und den hoffnungslos Hoffnungsvollen. Da sie zu keiner dieser Gruppen gehörte, war es schwer, diese Gleichgültigkeit zu verstehen, selbst wenn es eine so flüchtige war. Plötzlich war sie da und umgab ihre Seele mit narkotisierter Gefühllosigkeit, dann war sie weg und ließ ihre Seele allein in ihrem Körper zurück.

So fühlte sie sich an diesem ersten Freitag im Juli abgestumpft, als stünde sie unter Drogen, ein außerordentlich quälender Zustand für einen so energiegeladenen Menschen wie sie. Konnte das der Grund sein, weshalb sie heute absolut keine Lust gehabt hatte, es mit der Stadt oder gar dem Regen aufzunehmen? Während die Gleichgültigkeit sich wie ein Jojo im ganz eigenen Rhythmus auf und ab bewegte, schwang ihr Stimmungspendel zwischen erstarren und kochen hin und her.

Als Zeliha vorbeieilte, wurde sie amüsiert von den Straßenhändlern beäugt, die Schirme, Regenmäntel und Regenhauben aus Plastik in leuchtenden Farben feilboten. Es gelang ihr, deren Blicke zu ignorieren, ebenso wie es ihr gelang, die Blicke all der Männer zu ignorieren, die ihren Körper begehrlich anstarrten. Die Straßenhändler betrachteten auch mißbilligend ihren glänzenden Nasenring, als sei er ein Hinweis auf unschickliches Verhalten und damit ein Zeichen ihrer Lüsternheit. Auf ihr Piercing war Zeliha besonders stolz, weil sie es selbst gemacht hatte. Es hatte wehgetan, aber das Piercing würde bleiben und ihr Stil ebenfalls. Egal, wie sehr Männer sie belästigten oder Frauen sie mißbilligten, die gesprungenen Pflastersteine sie behinderten oder das Hüpfen in Fährboote erschwert wurde, egal auch, wie penetrant ihre Mutter nörgelte ?, keine Macht der Welt konnte Zeliha, die größer war als die meisten Frauen dieser Stadt, davon abhalten, grellbunte Miniröcke, knappe Blusen, die ihre üppigen Brüste hervorhoben, seidig glänzende Nylonstrümpfe und, jawohl, diese turmhohen Stöckelschuhe zu tragen.

Jetzt, da sie wieder auf einen losen Pflasterstein trat und sah, wie dunkle Spritzer aus der Schlammpfütze darunter ihren lavendelfarbenen Rock sprenkelten, ließ Zeliha einen weiteren Schwall von Flüchen los. Sie war die einzige Frau in der ganzen Familie und eine der wenigen Türkinnen, die derartige Schimpfwörter so freimütig, lautstark und kenntnisreich benutzte; deshalb legte sie auch immer, wenn sie zu fluchen begann, los, als täte sie es für alle anderen mit. Das war diesmal nicht anders. Während Zeliha rannte, schimpfte sie auf die Stadtverwaltung, die frühere wie die heutige, denn seit ihrer Kindheit hatte es keinen Regentag gegeben, an dem diese Pflastersteine zurechtgerückt und befestigt gewesen wären.

Bevor sie jedoch mit dem Fluchen fertig war, hielt sie abrupt inne und hob das Kinn, als hätte jemand ihren Namen gerufen; statt sich nach jemand Bekanntem umzuschauen, blickte sie jedoch schmollend zum Himmel. Sie verdrehte die Augen, seufzte und ließ weitere Verwünschungen vom Stapel, diesmal allerdings gegen den Regen. Nach den ungeschriebenen und unumstößlichen Regeln von Petite-Ma, ihrer Großmutter, war das die reine Blasphemie. Vielleicht mochte man den Regen nicht, dazu wurde ja auch niemand gezwungen, aber unter keinen Umständen durfte man über irgend etwas fluchen, was vom Himmel kam, denn daraus ergoß sich nichts von allein und hinter allem stand Allah, der Allmächtige.

Natürlich kannte Zeliha die ungeschriebenen und unumstößlichen Regeln von Petite-Ma, aber an diesem ersten Freitag im Juli fühlte sie sich ohnehin schon so verdorben, daß ihr das egal war. Außerdem, was gesagt war, war gesagt, so wie alles, was im Leben getan worden war, getan und jetzt vorbei war. Zeliha hatte keine Zeit für Reue. Sie war spät dran für ihren Termin beim Gynäkologen, ein durchaus nicht unbedeutendes Risiko, denn in dem Moment, wo man merkt, daß man zu einem Termin beim Gynäkologen zu spät kommen wird, ist man leicht versucht, überhaupt nicht hinzugehen.

Ein gelbes Taxi mit zahllosen Aufklebern auf der hinteren Stoßstange hielt neben ihr. Der Fahrer, ein grob aussehender dunkelhäutiger Mann mit Revoluzzer-Schnurrbart und goldenem Schneidezahn, dem man durchaus zutraute, daß er in seiner Freizeit Frauen belästigte, hatte alle Fenster heruntergekurbelt und einen lokalen Sender voll aufgedreht, der gerade Madonnas "Like a Virgin" spielte. Das zutiefst traditionelle Äußere des Mannes stand in krassem Gegensatz zu seinem unkonventionellen Musikgeschmack. Er bremste scharf, steckte den Kopf aus dem Fenster, pfiff hinter Zeliha her und bellte: "Davon will ich auch was!" Seine nächsten Worte gingen in denen Zelihas unter.
"Was soll das, du Widerling? Kann eine Frau in dieser Stadt nicht in Ruhe zu Fuß gehen?"
"Warum zu Fuß gehen, wo ich dich doch mitnehmen könnte?" fragte der Fahrer. "Du willst doch nicht, daß dieser sexy Körper naß wird, oder?"
Als Madonna im Hintergrund My fear is fading fast, been saving it all for you piepste, begann Zeliha zu schimpfen und brach damit eine weitere ungeschriebene und unumstößliche Regel, die diesmal nicht von Petite-Ma stammte, sondern weiblicher Umsicht entsprang. Beschimpfe nie den Mann, der dich belästigt.

Die Goldene Regel der Vorsicht für eine Istanbuler Frau: Wenn du auf der Straße belästigt wirst, reagiere nicht, denn eine Frau, die reagiert oder gar ihren Verfolger beschimpft, gießt nur Öl ins Feuer!

Zeliha kannte diese Regel sehr wohl und war normalerweise auch nicht so dumm, gegen sie zu verstoßen, aber dieser erste Freitag im Juli war wie kein anderer, und jetzt war in ihr ein anderes Ich entfesselt, ein unbekümmerteres, rabiateres und erschreckend wütendes. Diese andere Zeliha besetzte jetzt den meisten Raum in ihr, traf in beider Namen Entscheidungen und nahm die Sache in die Hand. Das war wohl der Grund, weshalb sie lauthals weiter fluchte. Während sie Madonna übertönte, blieben Passanten und Schirmhändler stehen, um zu sehen, was sich da zusammenbraute. In dem Durcheinander verdrückte sich der Stalker hinter ihr, der keine Lust hatte, Probleme mit einer Verrückten zu bekommen. Der Taxifahrer dagegen war weder so klug noch so schüchtern, denn er bedachte das Ganze mit einem Grinsen. Zeliha fiel auf, wie erstaunlich weiß und makellos die Zähne Mannes waren, und sie fragte sich unwillkürlich, ob er wohl Porzellankronen hatte. Nach und nach spürte sie, wie in ihrem Körper wieder Adrenalin freigesetzt wurde, das ihren Magen in Aufruhr versetzte, ihren Puls beschleunigte und ihr das Gefühl gab, daß sie, eher als jede andere Frau ihrer Familie, eines Tages einen Mann umbringen könnte.

Leseprobe Teil 2

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