Vorgeblättert

Leseprobe zu Efraim Karsh: Imperalismus im Namen Allahs. Teil 2

15.02.2007.
Der bedeutende niederländische Historiker Johannes Kramers (gest. 1951) sagte einmal, im mittelalterlichen Islam habe es niemals echte Staaten gegeben, sondern nur mehr oder weniger ausgedehnte Reiche, und die einzige politische Einheit sei die ideologische, aber einfl ussreiche Vorstellung vom Haus des Islam (dar al-islam) gewesen, der gemeinsamen "Heimstatt" aller Muslime.(12) Diese Beobachtung gilt auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die beiden konkurrierenden Lehren des Panislamismus und des Panarabismus das Vakuum zu füllen versuchten, das durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches entstanden war, und das bestehende nahöstliche System, das auf Nationalstaaten beruhte, durch eine einheitliche regionale Ordnung ersetzen wollten. Doch während der Panislamismus diese Entwicklung als Vorspiel zur Schaffung einer muslimisch dominierten Weltordnung betrachtet, geben sich die Panarabisten mit einem "bescheideneren" Imperium zufrieden, das den gesamten Nahen und Mittleren Osten oder doch zumindest den Großteil davon umfasst. (Die damit verbundene Ideologie eines Großsyrien, surya al-kubra, beispielsweise betont die territoriale und historische Unteilbarkeit des Fruchtbaren Halbmonds.)

     Die Großreiche der europäischen Mächte von ehedem waren weitgehend Überseeimperien, die eine klare Trennlinie zwischen Herr und Untergebenem zogen.(13) Die islamischen Reiche hingegen waren landgestützte Systeme, in denen die Unterscheidung zwischen herrschender und beherrschter Klasse durch extensive Kolonialisierung und Assimilation immer mehr an Trennschärfe verlor. Mit dem Ende der europäischen Imperien kam es zu einem eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit. Ehemals unterworfene Völker entwickelten ihre ganz eigenen Formen von staatlichem Nationalismus, etwa die indische, pakistanische, nigerianische, argentinische Form und so weiter. Umgekehrt wurde den Arabisch sprechenden Menschen des Nahen und Mittleren Ostens fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch eingebläut, sich als Angehörige "einer einzigen arabischen Nation" oder einer universellen "islamischen umma" zu betrachten und weniger als Patrioten ihrer jeweiligen Nationalstaaten.

     Handelt es sich bei einer Nation um eine Gruppe von Menschen, die Eigenschaften wie eine gemeinsame Herkunft, Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte teilen, so bedeutet Nationalismus das Streben einer solchen Gruppe nach Selbstbestimmung innerhalb eines bestimmten Territoriums, das sie als ihre Heimat betrachtet.
Der einzige gemeinsame Nenner, über den die höchst unterschiedlichen arabischsprachigen Völker des Nahen und Mittleren Ostens verfügen - die weitgehende Gemeinsamkeit von Sprache und Religion -, ist Folge der frühen imperialen Epoche des Islam. Doch haben diese gemeinsamen Faktoren kein allgemeines arabisches Solidaritätsgefühl geschaffen, ganz zu schweigen von tief verwurzelten Empfi ndungen gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Schicksals oder der gemeinsamen Bindung an die Heimat der Vorfahren. Selbst unter universellen islamischen Imperien von den Umayyaden bis zu den Osmanen vereinten sich die Arabisch sprechenden Menschen des Nahen Ostens nicht und betrachteten sich nicht als eine einzige Nation: Die verschiedenen Königreiche und Imperien konkurrierten um die regionale Vorherrschaft oder entwickelten sich parallel zu anderen Kulturen formal unter der gleichen imperialen Ägide. "Seit der kurzen Phase der Ausweitung und Konsolidierung des Islam zu einem muslimischen Reich während des 7. und 8. Jahrhunderts hat die arabische Welt keine gemeinsame politische Entität mehr ausgebildet."(14) Stattdessen manifestierte sich das ständige Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in einer fortwährenden Fließbewegung, in der starke, nummerisch kleine, aber militante Gruppen rasch den Gipfel imperialer Macht erklommen, nur um ebenso schnell wieder in eine Vielzahl kleiner Fürstentümer zu zerfallen, die ihrerseits wiederum neuen Imperien weichen mussten.(15)

     Das Arabische wurde ähnlich wie andere imperiale Sprachen, etwa Englisch, Spanisch und Französisch, von den vormals unterworfenen Menschen, die an sich wenig gemeinsam hatten, weithin übernommen. So gestand T. E. Lawrence ("Lawrence von Arabien"), der vermutlich einflussreichste westliche Verfechter der panarabischen Sache im 20. Jahrhundert, in seinen späteren Jahren: "Die arabische Einheit ist eine völlig abwegige Vorstellung - zumindest für dieses oder auch noch das nächste Jahrhundert. Mit der Einheit der englischsprachigen Welt sieht es ähnlich aus."(16)

     Ebenso wenig durchliefen die arabischsprachigen Provinzen des Osmanischen Reiches einen Säkularisierungsprozess ähnlich dem, der Ende des 18. Jahrhunderts die Entwicklung des modernen westlichen Nationalismus in Gang setzte. Als die alten europäischen Reiche eineinhalb Jahrhunderte später, nach dem Ersten Weltkrieg, zusammenbrachen, konnten individuelle Nationalstaaten in die Bresche springen. Als hingegen das Osmanische Reich zerfiel, waren seine Einzelteile noch immer den alten binären Denkkategorien verhaftet - auf der einen Seite die dichten Netze lokaler Loyalitäten gegenüber dem Clan, dem Stamm, dem Dorf, der Stadt, der religiösen Sekte oder der ethnischen Minderheit; und auf der anderen Seite die Unterwerfung unter den fernen osmanischen Sultan-Kalifen als das weltliche und religiöse Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft, dessen Posten nun verwaist war.

     In dieses Durcheinander eng begrenzter Loyalitäten traten nun ambitionierte Führer, die aus den verschiedenen, fragmentierten Stämmen der arabischsprachigen Welt neue regionale Imperien zu schaffen hofften und die die neue westliche Redewendung vom "arabischen Nationalismus" im Munde führten. Das Problem dabei war, dass die extreme Heterogenität und Fragmentierung der arabischsprachigen Welt dazu geführt hatte, dass die disparaten Gesellschaften eher einem Lokalpatriotismus als einer einheitlichen regionalen Ordnung zugetan waren. Doch statt dieser Neigung ihren Lauf zu lassen und sie zu einem Staatsnationalismus moderner Prägung weiterzuentwickeln, brachten die arabischen Herrscher und islamistischen Ideologen ihre Völker systematisch zu der Überzeugung, die unabhängige Existenz ihrer jeweiligen Staaten sei ein temporärer Irrweg, der binnen kurzem korrigiert werde.

     Die Folge war eine gewalttätige Dissonanz zwischen der Realität eines staatlichen Nationalismus und dem Traum von einem Imperium, der in die Vorstellung von einer geeinten "arabischen Nation" oder der weltweiten "islamischen umma" verpackt wird. Diese Dissonanz bestimmt den Nahen und Mittleren Osten bis ins 21. Jahrhundert hinein.

Leseprobe Teil 3

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