Vorgeblättert

Leseprobe zu Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River. Teil 2

06.10.2011.
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Nach wie vor dümpelte Crampton unfertig, muffig und nichtssagend unterhalb der Gewinnzone vor sich hin. Inzwischen fuhr die Straßenbahn hinaus, aber nur wenige Ansiedler waren ihr gefolgt. Lorin Weston, nach allgemeiner Ansicht der hellsichtigste Immobilienmakler in Drake County, glaubte freilich noch immer an Crampton und hielt die Hoffnungen der dorthin gelockten Investoren weiterhin am Köcheln. Weil er so sehr daran glaubte, sprossen an der Straße nach Euphoria eine Reihe billiger Häuschen empor, und das Maklerauge erblickte in der Ferne bereits Garagen und Rasenmäher.
     Eines warmen Frühlingstages marschierte Vance Weston zwischen den Wagenspuren dahin, vorbei an den Feldern einer schwedischen Gärtnerei und an grünen Weideflächen, die auf den Bauboom warteten. An solchen Tagen gefiel ihm das erwartungsvolle Hoffen von Crampton besser als die Perfektion von Euphoria - an den Tagen des urplötzlichen Präriefrühlings, wenn der Flieder im Vorgarten seiner Großmutter aufbrach und die Ahornbäume am Fluss sich mit rosigen Fransen schmückten, wenn die Erde pochte vor Erneuerung und die schweren weißen Wolken wie Herden trächtiger Mutterschafe über den Himmel zogen. In einer Baumgruppe am Wegesrand versuchte sich ein Vogel wieder und wieder an einem leisen Lied, und in den Straßengräben übersäte ein für Vance namenloses Unkraut den Schlamm mit glänzenden Blättern und goldenen Kelchen. Er spürte ein leidenschaftliches Verlangen, die erwachende Erde und alles, was sich darin regte und schwoll, zu umarmen. Es ärgerte ihn, dass er nicht wusste, wie der Vogel oder die gelben Blumen hießen. "Ich würde gern allem seinen richtigen Namen geben und wissen wollen, warum dieser Name der richtige ist", dachte er. Den Namen hatte er immer als wesentlichen und geheimnisvollen Bestandteil eines jeden Dings empfunden, so wesentlich wie für ihn seine Haut oder seine Wimpern. Was nützte alles, was er in der Schule gelernt hatte, wenn die einfachsten Gegenstände auf dieser vertrauten Erde so fern und unerklärlich waren? Es gab botanische Leitfäden und wissenschaftliche Bücher über die Form und Bewegung von Wolken, aber was er zu erreichen suchte, das ging tiefer, das war etwas, was zu den Blumen und Wolken gehört haben musste, bevor Menschen geboren waren, die sie zergliederten. Außerdem war er nicht in der Stimmung für Bücher, wenn ihn diese Frühlingsluft streichelte ?
     In einer Seitenstraße zu seiner Rechten stand nach wenigen Metern das baufällige Haus, in dem Harrison Delaney lebte, Floss? Vater. Harrison Delaney war zwar wie Mr Weston im Immobiliengeschäft tätig, doch unterschied sich seine Karriere in jeder Hinsicht von der seines Gegenspielers, und Mr Weston soll einmal gereizt gesagt haben, dass Delaney in Crampton lebe, genüge schon, um den Boom hinauszuzögern. Harrison Delaney war in der Tat eines jener abschreckenden Beispiele, die dazu dienen, das fade gesellschaftliche Leben in Hunderten von Städten wie Euphoria zu würzen. Es gab keinen einzigen gewitzten Geschäftsmann vor Ort, der nicht die genauen Gründe für sein Versagen hätte nennen können. Es komme alles davon, dass er nie zur Stelle sei, dass er Grundstücksverkäufe, günstige Angebote und Geschäfte aller Art nicht mitbekomme - dass er sozusagen immer verschlafe, wenn er wegen etwas Besonderem hätte aufstehen müssen.
     Fast jede Familie in Vance Westons gesellschaftlichem Umkreis konnte ein abschreckendes Beispiel dieser Art benennen, aber nur wenige waren für diesen Zweck so außergewöhnlich gut geeignet wie der fünfzigjährige Harrison Delaney. Vom ersten Moment an hatte man den Eindruck, dass ihm nie mehr etwas Nennenswertes widerfahren werde. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, so wie man ein schlecht gehendes Geschäft schließt, und saß nur da mit dem erwartungslosen Blick eines Börsenmaklers in der Sommerfrische, unerreichbar für den Fernschreiber. Genau - das war der richtige Ausdruck! Harrison Delaney sah aus, als wäre er für den Fernschreiber nicht erreichbar. Allerdings bereitete ihm das weder Sorgen noch Verdruss, wie den meisten anderen Männer in einem solchen Fall - es war ihm nur gleichgültig. Ganz egal, was geschah, es war ihm gleichgültig. Er fand, wenn er viel Wirbel darum mache, ändere das die Sache auch nicht - habe sie nie geändert. Als alle Welt darüber sprach, dass Floss mit diesem verheirateten Vertreter aus Chicago ging, der im Laufe des Jahres immer mal wieder in Euphoria auftauchte, einen Wagen mietete und mit ihr zusammen lange Ausflüge machte - da verhielt sich ihr Vater, als habe er nichts gemerkt; und als ihn der Baptistenpfarrer besuchte und Andeutungen machte, sagte Harrison Delaney, hier melde sich eben die Natur zu Wort und er habe nicht das Format, sich mit der Natur anzulegen; außerdem werde sich der Vertreter vielleicht eines Tages scheiden lassen und Floss heiraten - was er natürlich nie tat.
     Vance hatte Floss Delaney kennengelernt, als er unterwegs zu seinen Großeltern war. Damals fuhr noch keine Straßenbahn. Normalerweise sausten sie mit ihren Fahrrädern auf der ausgefahrenen Straße aneinander vorbei, doch eines Tages fand er Floss mit geplatztem Reifen und verstauchtem Knöchel im Schlamm liegen und half ihr nach Hause. Anfangs interessierte ihn nicht das Mädchen, sondern der Vater. Vance wusste alles über Delaney, das Gespött von Euphoria, aber irgendetwas am ungezwungenen, gleichgültigen Verhalten des Mannes, seine Art, den Besucher mit "Kommen Sie doch rein, Weston" zu begrüßen statt mit einem bloßen "Vance", seine wenigen Worte des Dankes für die Hilfe, die er seiner Tochter hatte zukommen lassen, der Klang seiner Stimme, schon sein Tonfall - all das unterschied ihn von dem schlauen Geschäftsmann, zu dem er es sichtlich nicht gebracht hatte, und gab Vance das Gefühl, dass auch Scheitern seinen Reiz haben konnte. Auch Euphoria spürte das, wenngleich nur undeutlich, wie er erkannte; die Stadt musste zugeben, dass er die Umgangsformen und Manieren eines Mannes hatte, der dazu geschaffen war, sich einen Namen zu machen. Selbst als er am Ende gänzlich ruiniert war, steckte man ihn noch in die Abordnungen zum Empfang vornehmer Besucher. Irgendwer lieh ihm einen schwarzen Anzug und ein anderer einen neuen Hut, denn man hatte das unbestimmte, allerdings auch unausgesprochene Gefühl, dass er sich bei solchen Anlässen ungezwungener benahm als selbst die erfolgreichsten Männer, einschließlich des Schuldirektors und des Pfarrers von der Alsop-Avenue-Kirche. Doch all dies änderte nichts daran, dass er ein Versager war und der aufstrebenden Gemeinde Euphoria nicht mehr nützte als die Heloten der Jugend von Sparta. Ein Mann sollte sich in Fragen der Gesellschaft und Etikette auskennen und wissen, wie man sich bei einem Bankett benimmt, welchen Kragen man tragen und welchen Geheimbünden man angehören muss; aber das Wichtigste im Leben waren der Fortschritt und das Oben-Ankommen, und "oben" hieß immer und ausschließlich: wo das Geld war.
     So lauteten die allgemein anerkannten Grundsätze, nach denen Vance erzogen worden war; als er nach Floss? Unfall von Zeit zu Zeit vorbeischaute, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, fand er es jedoch merkwürdig reizvoll, Harrison Delaneys leiser, ein wenig schleppender Rede zu lauschen und auf die von ihm verwendeten Wörter zu achten - immer gute englische Wörter, inhaltsreich und ausdrucksstark, fast ohne Zugeständnis an den örtlichen Dialekt oder einen kurzlebigen, seuchenartig um sich greifenden Slang.
     Erst als Floss wieder auf den Beinen war, begann sie ihn zu verzaubern. Als Vance eines Tages vorbeikam, traf er sie allein an, und von da an lief er Harrison Delaney nicht mehr hinterher, sondern ging ihm aus dem Weg, und das Paar traf sich außerhalb des Hauses ? Bei der Erinnerung daran glühten ihm noch immer Körper und Seele. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt daran zu denken. Sie war die ganze Zeit mit einem anderen Burschen herumgezogen, das wusste er ? Wie sie ihn angelogen hatte! Er war ein Dummkopf gewesen, und zum Glück war alles vorbei. Dennoch mied er den Anblick des Hauses am Ende der Straße, vor dem er noch wenige kurze Monate zuvor nach Einbruch der Dunkelheit herumgelungert hatte, bis sie herauskam. An Sommerabenden waren sie zu den Ahornbäumen am Fluss hinuntergegangen, dort gab es ein Gebüsch, in dem man versteckt liegen konnte, Brust an Brust, und zuschauen, wie der Mond und die weißen Wolkenschatten vorbeisegelten und die Sternbilder auf ihren unsichtbaren Brücken über den Himmel wanderten ? Das Haus der Scrimsers besaß eine Veranda im Kolonialstil mit Blick auf den Fluss und einen offenen Kamin in der Halle. Der Vorgarten war immer etwas ungepflegt. Mrs Scrimser hatte zwar Pläne für die Bepflanzung und gedachte sie eines Tages auch zu verwirklichen. Aber zuvor hätte sie eine Menge halb toter Büsche absägen lassen müssen, und dazu schien niemand bereit. Teils lag das an Großpapas Ischias, teils daran, dass der Lohngärtner so unregelmäßig kam und Großmama immer alle Hände voll damit zu tun hatte, die Vorgärten anderer Leute in Ordnung zu bringen, materiell wie moralisch.
     Als Vance die Veranda betrat, saß sie dort in ihrem Schaukelstuhl, das zerzauste Haar aus der breiten, gelblichen Stirn gestrichen, und ihre Brillengläser musterten wohlwollend die Gartenanlagen. Ein Rasenmäher stand quer auf dem Weg, und sie rief ihrem Enkel zu: "Heute hätte eigentlich der Gärtner kommen müssen, aber er ist zu einer großen Zeltmission nach Swedenville gegangen, deshalb hat Großvater angefangen zu mähen, damit alles hübsch aussieht, wenn deine Eltern uns am Sonntag besuchen; doch dann ist ihm eingefallen, dass er in Mandels Laden eine Verabredung hat, ich weiß also nicht, wie das fertig werden soll."
     "Na ja, vielleicht kann ja ich mähen, wenn ich mich ein bisschen abgekühlt habe", sagte Vance und setzte sich.
     Sie alle kannten Großpapas Verabredungen. Kaum hatte man ihn gebeten, in Haus oder Garten Hand anzulegen, bekam er Ischiasschmerzen, oder es fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, sich in Mandels Gemischtwarenladen oder im "Elkington "-Hotel in Euphoria mit jemandem zu treffen.
     Mrs Scrimser richtete ihre ausdrucksvollen grauen Augen auf ihren Enkel. "Hast du an einem solchen Tag nicht auch das Gefühl, als könntest du durch dieses Blau da oben direkt zu Gott gelangen?", fragte sie und wies mit einer großen, knotigen Hand himmelwärts. Den herrenlosen Rasenmäher und ihr Bedürfnis aufzuräumen hatte sie schon vergessen. Immer wenn sie ihren Enkel sah, erwachte all das Suchen und Sehnen in ihrem unzufriedenen Innern und brach sich in bangen Worten Bahn. Aber Vance wollte nichts von ihrem Gott hören. Der war, ohne den Deckmantel von Mrs Scrimsers biblischem Wortschwall, doch nur der oberste Tugendrichter einer berühmten pädagogischen Anstalt, in der sie eine wichtige Stelle innehatte.
     "Nein, ich habe nicht das Gefühl, als würde mich etwas nahe zu Gott führen. Und ich will auch gar nicht in seine Nähe, ich will mich von ihm freimachen, will dorthin, wo er nur noch wie Pünktchen aussieht und der Gott in mir ihn gewissermaßen umgehen kann.
     "Mrs Scrimser glühte vor Entgegenkommen, alles Kühne entzückte sie. "Oh, ich verstehe, was du meinst, Vanny", rief sie. Ihr Leben lang war sie immer überzeugt gewesen, dass sie erfasste, was die anderen meinten, und diese Überzeugung hatte sie siegestrunken von einem Gipfel der Leichtgläubigkeit zum nächsten getragen.
     Doch ihr Enkel zerlächelte ihre Begeisterung. "Nein, du verstehst nicht, meinen Gott verstehst du überhaupt nicht, ich meine, den Gott in mir."
     Seine Großmutter errötete vor Enttäuschung. "Warum nicht, Vanny? Ich weiß genau Bescheid über die Immanenz Gottes", widersprach sie fast ärgerlich.
     Vance schüttelte den Kopf. Es machte keinen großen Spaß, mit der Großmutter über Gott zu diskutieren, aber das war immer noch besser als die ständigen Reden seiner Mutter über neue Staubsauger, von Mr Weston über Immobilien oder von seiner Schwester Pearl über die neuen Regelungen für Schulnoten. Vance hatte Respekt vor Tüchtigkeit und bewunderte sie sogar; aber in letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass sie für die Verköstigung der Seele einen zu geringen Nährwert besaß. Er wunderte sich, dass Mrs Weston, eine Autorität in Ernährungsfragen, nie auf den Gedanken gekommen war, ihrer aller Leben in Mapledale einer Art von moralischem Vitamintest zu unterziehen. Ihm war, als würden sie hier alle verhungern, ohne es zu merken. Die alte Mrs Scrimser wusste wenigstens, dass sie Hunger hatte, und um einiges nachsichtiger wanderten seine Gedanken zu dem zurück, was sie gesagt hatte.
     "Das Problem ist", begann er und tastete suchend seinen begrenzten Wortschatz ab, "dass ich den Gott anderer Leute offenbar nicht haben will. Ich möchte nur dem meinen freien Lauf lassen." In diesem Augenblick vergaß er die Anwesenheit seiner Großmutter und seine früheren Erfahrungen mit ihrer Begriffsstutzigkeit und spann seinen Traum für sich selbst aus. "Ich will nicht einmal wissen, was er ist - nicht, indem ich ihm denkend auf den Grund gehe. Die Menschen mussten auch nichts über Sauerstoff und das Funktionieren der Lungen lernen, bevor sie zu atmen begannen, oder? Und so geht es mir mit dem, was ich meinen Gott nenne - dieses Etwas in mir, das schon da war, bevor ich darüber nachgedacht habe, und das sich streckt und streckt und die Sterne und Ewigkeit umfasst und wahrscheinlich selbst nicht weiß, warum oder wie. Ich möchte herausfinden, wie ich diesen Gott befreien, ihn wie einen Drachen ins Unendliche fliegen lassen kann, weit über Glaubensbekenntnisse und fromme Floskeln hinaus, wie ich ihn mit allem anderen verbinden kann ? den anderen Strömungen, die uns an einem Tag wie diesem zu umkreisen scheinen, sodass man selbst hinaufgezogen und über Zeit und Raum, über Gut und Böse hinausgetragen wird, dorthin, wo die ganze verdammte Geschichte überkocht. Ach, hol?s der Teufel, ich weiß auch nicht!", stöhnte er und warf verzweifelt den Kopf zurück.

zu Teil 3