Vorgeblättert

Leseprobe zu David Wagner: Mauer Park. Teil 3

30.09.2013.
Rostlaube

Schon von außen macht die Rostlaube der Freien Universität einen kranken Eindruck. Auf der rostigen Fassade des Gebäudes, das von 1967 bis 1972 für die Geisteswissenschaften an der Habelschwerdter Allee erbaut wurde, klebt silberfarbenes Textilklebeband über den größten Löchern der Außenhaut. Dank jahrelanger Vernachlässigung sind das von den Pariser Architekten Candilis, Josic und Woods geplante Haus und seine vorgefertigten Fassadenelemente aus COR-TEN-Stahl mittlerweile fast durchgerostet.
     Am Eingang erinnert das seltsam unpassende Hausnummernschild mit seinen verschnörkelten Ziffern auf Emaille die Besucher noch daran, daß sie sich in Dahlem befinden. Die weiße Beschriftung "Haupteingang K-Straße" über der Tür spricht schon die technische Sprache der Fabrik, die man dahinter vermuten muß. Die Pförtner hinter der Tür werden um Auskünfte bemüht und müssen übersetzen. Erstsemester bewegen sich orientierungslos durch den Raum, suchenden Blickes laufen sie durch die Gänge, ihre Blicke wandern über die Plakate an den Wänden. Geworben wird für das Collegium Musicum, für "streßfreies Studieren" und Sprachpatenschaften. Ein Aushang im Glaskasten vor dem ehemaligen Eingang in die Germanisten-Bibliothek - heute zwangsvereinigt mit den Romanisten - kündigt die Disputation einer Dissertation mit dem Titel "Kindereigene Tänze in der Türkei" im Fach Musikwissenschaften an. Der Stenographische Dienst des Deutschen Bundestags sucht Schreibkräfte, Bangkok sucht Deutschlehrer. Straße L ist leer und blau und kalt. Auf einem Zettel sucht eine nach Selbstauskunft "wahrhaftig nette Studentin" ein Zimmer im Westen.
     Versuche, diesen Bau zu begreifen, gibt es viele. Einer von ihnen ist der halboffiziell eingebürgerte Name "Rostlaube", er versucht, das Monströse zu verniedlichen und somit begreifbarer zu machen. Wer möchte, kann in der Rostlaube die Inszenierung eines Klosterbaus im industrieästhetischen Gewand erkennen. Vielleicht ist der Bau aber bloß eine ins Gigantische geblähte, ausgewalzte Laubenpieperei. Oder eine in die Jahre gekommene Escher-Erfindung, ein unsymmetrisch geknüpfter Riesenteppich oder Piranesis "Carceri", für Studenten nachgebaut.
     Der so phantasievoll und verschachtelt umbaute Raum sollte sich den wandelnden Bedürfnissen anpassen, hieß es früher einmal, die Raumaufteilung ist dank der verschiebbaren Wände veränderbar. Das Haus sollte wie ein Baukasten nach dem Lego-Prinzip funktionieren, der Traum von der offenen Gesellschaft, den die siebziger Jahre träumten, wirkte sich bis in die Grundrisse aus. Die Überforderung des offenen Prinzips schlug jedoch in eine unübersichtliche Verwinkelung um, in der sich ohne Kompaß kaum jemand mehr orientieren konnte. Und nicht nur den Studenten, auch den Professoren fehlten seit jeher Gemeinschaftsräume. Verfeindete Lehrstuhlinhaber müssen sich hier nie begegnen. Verschwindet ein Lehrstuhl, verschwindet oft ein Arbeitskabäuschen. Um die größten und schönsten Zimmer - einst mit von den Architekten entworfenen Möbeln ausgestattet - wird gekämpft. Berufungsverhandlungen werden heute schon einmal um eichenfurnierte Schreibtische geführt. Etwas wie Sehnsucht nach Eichenfurnier spricht auch aus der spätimpressionistischen Ballszene, die auf einem Plakat für den FU-Ball im Palais am Funkturm werben will. Auf den Fluren der Rostlaube muß das beinahe komisch wirken.
     Das große Streiksemester Ende der achtziger Jahre sorgte für Veränderungen. Damals erst wurden die bis dahin größtenteils verschlossenen Innenhöfe zugänglich gemacht. Auch die Fachschaftscafés und Cafés wie das für männliche Besucher verbotene Lesbencafé Furiosa sind Errungenschaften des Streiksemesters. Das bekannteste und mit Abstand erfolgreichste Café ist der Rosa Salon, der seine Gäste mit Dallmayr prodomo verwöhnt. Auf den abwaschbaren Tischdecken, kariert oder mit Sonnenblumen, liegen alle mög¬lichen Zeitungen. "Vergolde Deinen Schwanz", sagt ein ¬Plakat, das da schon seit zehn Jahren hängt, hier fallen Sätze wie: "Ich müßte mal ein Praktikum oder sowas machen." Ganze Erstsemestergenerationen haben hier ihre Zeit bis zum lang hinausgezögerten Abschluß abgesessen, könnte einer der Kaffeeausschenker erzählen.
     Die Passanten auf dem K-Gang, dem Laufsteg des Rosa Salons, zeigen die herrschende Gleichzeitigkeit der Stile. Hier werden, wie es gefällt, enge oder weite Hosen getragen. Der Tweed-Jackett-Konservatismus der Historiker ist mit dem Friedrich-Meinecke-Institut aus der Rostlaube ausgezogen, die weiblich dominierten Fächer Romanistik, Psychologie und Pädagogik sind geblieben. Germanisten tragen gern Flohmarktjacken oder alte Anzugwesten über weißen oder stark gemusterten bunten Hemden, deren Herstellungsjahrzehnt man am Kragen ablesen kann. Hin und wieder huschen auch noch seltene Exemplare des Typus Späthippie durch die Gänge. Sie tragen ihre Bücher im Leinenbeutel und kennen sich besser aus als ihre plateausohlentragenden Verfolgerinnen. Bis auf den kleinen Rest der weiblichen Kunsthistoriker, die im zweiten Hauptfach Italienisch studieren, ist die Rostlaube barbourfreie Zone. Die Töchter, die blauen Steppjacken und die hellblauen Blusen studieren und essen anderswo. In der Rostlaube dominieren die Geisteswissenschaftlerin und die durchschnittliche Lehramtsstudentin. Neben ihr steht oft ein blonder Sportstudent in Turnschuhen. An manchen Tagen läuft ein Mann, der blaue Mülltüten statt Hosen um die Beine trägt, über die Flure. Es gibt Leute, die behaupten, er sei früher wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut gewesen.
     Besucher finden die Gänge heute leerer als früher oder dazumal. Erstsemester hören immer wieder: Heute gibt es viel weniger Studenten. Weitergereicht aber wurde der Germanisten-Topos, daß gerade dieses Gebäude Grunderfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts wie Entfremdung und Unbehaustheit erst erfahrbar mache. "In-die-Welt-Geworfenheit kann hier jeder an sich selbst studieren", kann man hören, und: "Wurde der K-Gang nicht nach dem beinahe namenlosen Helden des Kronzeugen dieser Erfahrungen benannt?" fragt die junge Germanistin. Daß ihr Kommilitone sich auf der Suche nach Räumen mit Bezeichnungen wie "K 29/19" oder "JK 26/139" immer wieder verläuft, scheint Teil der akademischen Initiation zu sein.
     Wo der Teppichboden von diesen labyrinthischen Irrungen durchgetreten wurde oder aufgerissen war, ist er mit braunem Paketklebeband streifenweise abgeklebt. Und wo ein Exemplar der weißen Drahtgitterbänke steht, die dem, der sich auf ihnen zu lange ausruht, ihre kleinen Quadrate in die Rückenhaut prägen, ist der Teppichboden mit schwarzen Brandlöchern übersät. Die Spatzen haben gelernt, durch die gekippten Flurfenster zu fliegen und Kuchenkrümel vom Teppichboden zu picken. Eine Wanduhr ist kreuzweise mit Textilband zugeklebt. Andere Uhren stehen schon jahrelang auf halb eins. Personen, die Jahre hier verbracht haben, behaupten gerne, in dieser Luft sei irgend etwas, das außerordentlich schlaff, winterschläfrig, ja, sterbensmüde mache. Manch einer schiebt die Schuld auf den Asbest. Die Professoren, die auf den Sofas ihrer Zimmerchen Mittagsschlaf halten können, werden beneidet.
     Als man Anfang der neunziger Jahre im Gebäude der Rost- und Silberlaube Asbest entdeckte, wurde das Haus handstreichartig geschlossen, und alle Decken wurden großflächig mit Dämmplatten abgeklebt. Zur Abdichtung der Fugen kam das bewährte Klebeband zum Einsatz. Seitdem müssen Lochmetallträger zur Abstützung mitten in den Räumen stehen. Das Lego-Prinzip der offenen Bauweise wurde durch diese Märklin-Metallbauelemente nicht wirklich aufgelockert, sondern eher verstellt. Wo Wasser durch die Decke gelaufen ist, haben die Dämmplatten sich selbst marmoriert, manchmal löst sich auch ein Klebebandstreifen und hängt wie ein alter Fliegenfänger von der Decke. Der Betrachter hofft, daß nicht gerade dieser Klebestreifen das Letzte ist, was dieses Gebäude zusammenhält. Die großflächigen Sprüche und Wandmalereien, die das Streiksemester vor zehn Jahren hinterlassen hat, blieben erhalten. Dem Erstsemester, der sie heute während irgendeines Einführungsvortrags oder später, während eines langweiligen Referats, betrachtet, müssen sie wie Wandkritzeleien aus Pompeji vorkommen. Und von dem Gebäude, das die Schmierereien eher schlecht als recht vor Verwitterung schützt, dürfte er sagen: Es verbreitet eine gewisse Ruinenromantik. Sie oder er kann sich das alles verschüttet und überwuchert vorstellen: Bliebe vielleicht eine sanfte Erhebung im Gelände. Metalldetektoren späterer Kulturen würden hier ausschlagen, fündig werden und sich, weil alle Bücher längst verrottet wären, fragen, zu welchen kultischen Handlungen die eisernen Gänge und Winkel wohl dienten.
     Von einem der Dachgärten betrachtet, wirkt die Rostlaube schon heute fast zugewachsen. Vielleicht schläft sie unter Brombeerranken und seltenen Gräsern nur eine Art Dornröschenschlaf. Die Vorgabe, daß der Bau sich in die Dahlemer Villenbebauung einpassen möge, wurde glücklich erfüllt. Nur hier und da ragt ein Treppenhausschacht wie ein Geschützturm aus dem flächigen Bau heraus. Die Rostlaube könnte auch ein gesunkener Flugzeugträger sein.
     Der Prinz, der das Haus aus dem Dornröschenschlaf küssen soll, ist schon bestellt: Sir Norman Foster leitet die ¬Renovierung, die bei laufendem Lehrbetrieb durchgeführt werden soll. Die Entkernung der beiden großen Hörsäle 1a und 1b hat begonnen, eine neue, zentrale Bibliothek für die Philologien wird gebaut, die rostende Außenhaut aus COR-TEN-Stahl soll entfernt werden. Und die Rostlaube, die dann gar nicht mehr Rostlaube heißen kann, soll mit nichtrostenden Bronzeplatten verkleidet werden.

                                                   *

Die Rostlaube, die nicht aufhörte zu rosten, wurde tatsächlich abgerissen und neu gebaut, ihre Außenhaut besteht nun aus dunkler Baubronze. Sie steht wieder da wie neu - wobei, das ist auch schon wieder einige Jahre her. Eine Beschreibung dieses geklonten Gebäudes, dieser neuen Rostlaube findet sich in "Welche Farbe hat Berlin" auf den Seiten 175-184.
Derzeit entsteht in Dahlem auf einer früheren Freifläche übrigens eine weitere, dritte Laube, die "Holzlaube" heißen und Rost- und Silberlaube im Sinne von Shadrach Woods Entwurf ergänzen soll.


Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verbrecher Verlages
(Copyright Verbrecher Verlag)


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