Vorgeblättert

Leseprobe zu David Wagner: Mauer Park. Teil 2

30.09.2013.
Die Beamtenschließfächer von Moabit

Manchmal lieben Architekten die große Idee. Für die Beamtenwohnungen auf dem Moabiter Werder hatte Georg Bumiller den Einfall, ein langes Gebäude ohne auffällige rechte Winkel zu errichten. Eine Idee, die aus der Luft und im Modell entzückt, weil die Durchformung des Baukörpers von Architekturpoeten leicht als Modulation des Spreebogens, als Aufnahme der Stadtbahnschwingung oder als eine gekippte Antwort auf die Bögen des Viadukts gedeutet werden kann. Irgendein abstrakter Bogen läßt sich in der aufgeladenen Umgebung des "Bandes des Bundes" immer schlagen. Bei Überprüfung vor Ort wiegt die gebaute Wirklichkeit des fünfhundert Meter langen Lindwurms schwerer, als die Leichtigkeit und Verspieltheit des Entwurfs in der Aufsicht suggerierten.
     Der Spaziergänger, der abends den Stadtbahnviadukt unterquert und auf den Moabiter Werder tritt, hat Berlin, wie er es kennt, verlassen. "So wird es hier bald aussehen", verkündet eine bedruckte Folie vor einem noch vermauerten Stadtbahnbogen, der unter dem neu gegossenen Gleisbett aus Beton liegt. Die Planer scheinen vom Savignyplatz zu träumen, die potemkinsche Kneipe auf der Plastikfolie ist gut besucht.
     Die Erschließungsstraße zwischen der "Schlange" und den einzelnen Blöcken mit Lichthöfen, die näher an der S-Bahn stehen, heißt Joachim-Karnatz-Allee und hat noch keine Bäume. Dafür aber auffällig viele Straßenlaternen, die auf dem sehr breiten Mittelstreifen in Doppelreihe stehen. Ihr Licht fließt aus runden, schräg gestellten Milchglas-Streuscheiben auf das Bodengranulat. Die Straße ist ungefähr so breit wie die Straße der Toten in Teotihuacán. Und, obwohl nicht so verfallen, viel weniger gut besucht. Die Lampen¬installation wirkt wie das Leuchtfeuer einer Landebahn, die Straße ist leer wie ein Platz auf einem Gemälde von Giorgio de Chirico. Vielleicht ist hier immer Sonntag.
     Links steht ein Haus mit Spitze, ein Tortenstück wie das Flatiron-Building. Wo die Weite und Leere der Umgebung diese Form nicht vorschreiben, wirkt sie allerdings gewollt. An der abzweigenden Straße parkt ein Lieferwagen mit der Aufschrift "Fea-Steuerungstechnik". Der Besitzer scheint nicht zu wissen, daß das spanische Wort "fea" "häßlich" heißt.
     Um den Namen "Schlange" darf das lange Gebäude sich mit der gigantomanischen Wohnanlage streiten, die in den siebziger Jahren über der Stadtautobahn an der Schlangenbader Straße errichtet wurde. Auf den Vermietungsplakaten, die an der Moabiter Hauswand hängen, ist vom "Wohnen im Spree-Bellevue" die Rede.
     Abends gehört das hellste Fenster in der strengen Lochfassade der Wohnanlage dem Vermietungsbüro, ganze Blöcke liegen im Dunkeln. Nur die Fernsehturmspitze blinkt am Ende der Landebahn. Alle paar Meter gähnt ein offener Bunkerunterstand, der sich beim zweiten Hinsehen als Tiefgarageneinfahrt entpuppt. Spaziergänger könnten sich an die charmante Künstlichkeit des Viertels erinnern, das in Barcelona für die Olympischen Spiele am Puerto Olímpico erbaut wurde. Nur liegt hier leider kein Meer vor dem Fenster, hier rauscht nur die S-Bahn vorbei. Manchmal gewährt eine der wenigen erleuchteten Wohnungen Einblick: ein Monet-Poster und ein Hochbett in Kiefer. Am Ende der Allee ohne Bäume gibt es einen kopfsteingepflasterten Wendeplatz, genau in der Fluchtlinie steht eine blau-violette Miettoilette "Modell SL". Und wie die aufgeklebten Piktogramme verraten, von Männern und Frauen zu benutzen. Gleich dahinter ragen die Betonfertigteile der Mauer zum Garten des Bundeskanzleramtes auf. Schlecht informierte Besucher könnten sie leicht mit einem anderen, heute weitgehend verschwundenen, zu seiner Zeit aber weltbekannten Berliner Bauwerk verwechseln. Dabei ist die Mauer zum Bundeskanzlergarten noch nicht einmal bemalt. Auf den Seitenstreifen stehen abends nur sehr wenige Autos. Fünf Wagen haben das amtliche Kennzeichen des Landkreises Siegburg, die Stadt Bonn ist neunmal vertreten. Dazwischen parken noch mindestens zehn weitere Autos mit in Berlin seltenen Kennzeichen. Auf einem Wagen aus Gelsenkirchen klebt der Aufkleber "Musiktheater im Revier", auf einem weißen Golf, Sondermodell New Orleans, ein Aufkleber mit dem Schriftzug des Deutschen Bundestags.
     Interessenten aus dem Rheinland, die hier nachmittags nach einer "Zwei-Zimmer-Wohnung" fragen, hören von der jungen blonden Frau im Vermietungsbüro: "Ja, wir haben noch Zwei-Raum-Wohnungen." Auf dem Flipchart-Block im Vermietungsbüro steht "Kopie des Personalausweises" und "Bonitätsprüfung". Letzteres Wort ist unterstrichen und eingekreist: Eine Wohnung mit zweiundsechzig Quadratmetern kostet dreizehnhundertsechsundfünfzig Mark. Dafür liegt immerhin Parkett in beiden Zimmern, und die Heizkosten, auch für den Handtuchhalter im Badezimmer, sind inbegriffen. Die Einbauküchenzeile kostet noch einmal achtzig Pfennig pro Quadratmeter extra, die Decke hängt zwei Meter siebenundfünfzig über dem Boden. Der Blick aus dem Fenster im sechsten Stock geht auf der einen Seite über den Tiergarten auf den grünen Fingernagel des Abluftkamins, der das debis-Hochhaus in den Himmel verlängert. Die andere Seite der Wohnung schaut über die Stadtbahn nach Moabit hinein. Bewohner klagen über fehlende Balkone, fehlenden Sonnenschutz und ärgern sich darüber, daß man seine Kleider nicht lüften kann. Vielleicht hat die geringe Akzeptanz der Schlange nichts mit dem Bau selbst zu tun. Kein Neubau kann die Sehnsucht nach dem Altbauwohnen in großbürgerlicher Wohnraumhülle einlösen. Nach Jahren in St. Augustin-Mülldorf träumen westdeutsche Bundesbeamte von Flügeltüren und Stuck an hoher Decke, vielleicht ist Berlin auch aus diesem Grund Hauptstadt geworden. Wer aber vom Moabiter Werder abends nach Mitte zum Gendarmenmarkt, dem paradigmatischen Ort des Retro-Reko-Berlins spazieren wollte, müßte dazu die Mondlandschaft um den Lehrter Stadtbahnhof durchwandern. Dann doch lieber gleich in eine Wohnung nach Wilmersdorf ziehen, Helmut Kohl hat es vorgemacht.
     Jenseits des S-Bahnviadukts liegen sich zwei freigebombte Eckgrundstücke gegenüber, eine Tankstelle auf der einen, ein Flachbau, in dem sich ein Aldi-Markt befindet, auf der anderen Seite. An den Aufbau-Häusern der Lüneburger Straße sind auf fast allen Balkonen Satellitenschüsseln gewachsen. Wie eine schwere Akne überziehen sie die ganze Fassade. Die Häuser des Aufbau-Programms haben immerhin Balkone. Vielleicht wäre die eine oder andere Wohnung für Beamte frei.
     "Moabit, auch Morbid genannt, die Welt der Wasserpistolen und Rußpartikel, in der die Eltern meiner Mitschüler sich als Busfahrer oder Bauschlosser verdingten", schreibt der Schriftsteller Claudius Hagemeister über seine dort verbrachte Siebziger-Jahre-Jugend. "In den siebziger Jahren bewohnte man hier Ladenwohnungen und veranstaltete Lesekreise, die heute im Bayerischen Viertel abgehalten werden", könnte Michael Rutschky erzählen. Damals träumte kein Traum davon, daß die Umgebung des Moabiter Gefängnisses sich eines Tages "Regierungsviertel" nennen würde.
     In einer der vollbesetzten S-Bahnen, die Richtung Erkner, Ahrensfelde oder Schönefeld am Fenster der Küche mit Einbauzeile vorbeifahren, fällt manchmal das Wort "Beamtenschließfächer". Eine Architekturmetapher, in der viel von dem Wunsch steckt, Abgeordnete wie lästige Gepäckstücke wegzusperren. Und nur bei Bedarf von außen zu öffnen.

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Ein Freund wohnte später dort mit seiner Frau, einige Jahre lang, ich war öfter zu Besuch. Im Wohnzimmer, daran erinnere ich mich, gab es einen durch Glaswände abgeteilten Wintergarten, in diesem Glaskasten stand sein Schreibtisch.
     Mir gefiel, daß alles funktionierte. Alles war neu und fast perfekt: das Parkett, die Einbauküche, die Fenster. Und weil diese Fenster so gut schlossen, kein Laut drang herein, gab es kleine Frischluftschieber am Rahmen. Hätten die Bewohner sonst ersticken können?
     Mir gefiel auch der Blick hinaus ins Grüne, der Tiergarten lag vor der Tür. Die niedrige Fensterbrüstung war verführerisch - und leider gefährlich. In einer Nachbarwohnung kletterte ein zweijähriges Kind über die Sicherungsstange hinaus, fiel hinunter und war tot.
     Die Frau des Freundes zog eines Tages aus, die beiden ließen sich scheiden, er blieb allein in der Wohnung - bis er schließlich eine andere Frau und eine neue Wohnung in einer richtigen Gegend fand.

zu Teil 3