Vorgeblättert

Leseprobe zu Daniel Galera: Flut. Teil 2

22.07.2013.
Er parkt den Wagen in der Garage des Hotel Garopaba und legt dreißig Reais drauf, damit sie wegen Beta ein Auge zudrücken. Während es draußen dunkel wird, liegt er im Bett und schlummert vor sich hin. Zwei Mal wird er von einem Anruf gestört, beide Male versucht er, es möglichst kurz zu machen, da sein Handy aus Porto Alegre ist und das Roaming sein Guthaben auffrisst. Seine Freunde wünschen ihm alles Gute zum Geburtstag und viel Kraft, um über den Verlust des Vaters hinwegzukommen, sie wissen nicht, dass er nicht mehr in Porto Alegre wohnt, dass er weg ist und kaum jemandem Bescheid gesagt hat, und es auch jetzt nicht tut, weil er weiß, dass er weder Antworten noch Geduld für die Fragen hat, die sie ihm stellen würden.
     Als er aufwacht, hat er Hunger und das Gefühl, eingesperrt zu sein. Er lässt den Hund mit Futter und Wasser im Zimmer zurück und macht sich auf die Suche nach einem Restaurant. Auf dem Stadtplan trägt er die Position relevanter Orte und Personen ein, eine Vorsichtsmaßnahme gegen sein pathologisches Vergessen, mit dem er seit der Kindheit zu kämpfen hat. Er kommt an zwei Bars vorbei, die Sandwiches auf der Karte haben, und an einem Selbstbedienungsladen, der Eis und wechselnde Tagesgerichte verkauft. In einer Pizzeria an der Hauptstraße ist Aktionswoche. Die hübschen runden Holztische sind fast alle besetzt, im Licht bunter orientalischer stern- und vasenförmiger Lampen gleiten drei Kellnerinnen entspannt an den Gästen vorbei. Er setzt sich draußen an einen Zweiertisch auf ein gemütliches Sofa direkt an der Wand. Seine Kellnerin ist groß und dunkelhaarig, ihre Haut pellt und die Oberlippe ist leicht aufgeworfen. Das krause Haar geht ihr bis knapp über die Schultern. Da er sie wahrscheinlich allein an ihren Locken wiedererkennen wird, richtet er den Blick auf ihr ovales Gesicht und die mandelförmigen Augen. Manchmal fragt er sich, ob Frauen in den Augen anderer Männer genauso schön sind wie in seinen, und insgeheim hegt er den Verdacht, seine Unfähigkeit, sich Gesichter mehr als ein paar Minuten lang zu merken, könnte ihnen eine besondere Ausstrahlung verleihen, die außer ihm niemand so wahrnimmt. Gerade weil Schönheit so flüchtig ist, hat er gelernt, sie überall zu sehen. Diese hier jedoch dürfte jeder erkennen. Sie ist es gewohnt, so angesehen zu werden, und erwidert seinen Blick mit einem förmlichen Lächeln, einer Mischung aus Höflichkeit und Langeweile. In einem für die Gegend typischen fragenden Tonfall, durchsetzt mit einer Spur Sarkasmus oder auch Unverständnis, erkundigt sie sich, ob er das Pizza-Buffet will.
     Sind das dieselben Pizzas wie auf der Karte?
     Wie jetzt?
     Ob dieselben Zutaten drauf sind wie bei den Pizzas von
der Speisekarte. Oder ob der Käse beim Buffet vielleicht nicht so gut ist.
     Sie lacht.
     Unter uns gesagt, der Käse ist nicht so gut.
     Okay. Dann also kein Buffet. Heute ist mein Geburtstag. Ich hätte gern eine halbe Margerita und eine halbe Peperoni, bitte.
     Echt? Dein Geburtstag? Herzlichen Glückwunsch!
     Sie kaut auf einem Kaugummi, das sie vorher irgendwo im
Mund versteckt hatte.
     Und ein Bier.
     Sie notiert seine Bestellung und entfernt sich. Nach einiger Zeit kommt sie mit dem Bier zurück. Wieder mustert er aufmerksam ihr Gesicht.
     Du solltest dein Haar zusammenbinden.
     Bitte?
     Es sieht schön aus so offen. Aber ich hab mir gerade vorgestellt, wie es aussähe, wenn es festgesteckt wäre. Noch nie ausprobiert?
     Doch, manchmal.
     So verdeckt es ein bisschen dein Gesicht.
     Das soll es auch.
Le     icht verlegen zieht sie ab, und er trinkt zügig und zufrieden sein Bier.
     Später schlendert er mit vollem Bauch durch Haupt- und
Seitenstraßen und markiert auf dem Stadtplan ein Café, einen Eisenwarenladen, eine Express-Reinigung und ein uruguayisches Grillrestaurant, bis ihm klar wird, dass ein Großteil der Geschäfte nur übergangsweise existiert und je nach Saison auf- und wieder zumacht. Bei näherem Hinsehen stellt er fest, dass viele Läden schon nach Karneval geschlossen haben, einige Fensterscheiben sind mit Pappe abgeklebt. Ein handgeschriebenes Schild in einer Eisdiele weist darauf hin, dass der Betrieb den Winter über in einer anderen Straße fortgesetzt wird. Alles, was nicht Sommer ist, ist Winter. Die Reinigung öffnet erst wieder im Dezember, wie ein anderes Schild mitteilt. Ein Buchladen, ein Minimarkt und diverse Boutiquen scheinen prinzipiell noch geöffnet, heute aber bereits geschlossen zu haben, und in einem Internetcafé werden gerade die letzten Gäste rausgeworfen. In den Schnellimbissen trinken Leute Bier, und auf dem Supermarktparkplatz steht ein Hot-Dog-Stand, vor dem die Kunden auf Plastikhockern ihr Essen verzehren. Der europäisch gehaltene Pub ein Stück weiter heißt Al Capone. Jugendliche sitzen auf dem Rasen vor unbewohnten Ferienhäuschen, rauchen und rufen durcheinander. Er läuft durch die Hauptstraße zurück zum Strand und bleibt vor dem Bauru Tchê stehen, einem Schnellimbiss in Form eines Wohnwagens mit einer Plane über einigen Metalltischen der Biermarke Brahma. Er setzt sich und bestellt ein Bier. Auf einem kleinen Fernseher auf dem Tresen läuft MTV, eine Dokumentation über Pantera. Phil Anselmo schlägt sich mit dem Mikrofon gegen die Stirn, bis es blutet, während Dimebag Darrell ein Solo spielt. Ein Betrunkener unbestimmten Alters und ein dicker Jugendlicher starren auf den Bildschirm. An einem anderen Tisch trinken ein älterer Mann und zwei Jungs mit Baseballkappen Bier, sie sehen aus wie Einheimische. Der Ältere sitzt entspannt auf seinem Stuhl und redet, die Jüngeren hören zu.
     Neunzig Prozent alles Bösen auf der Welt wird von Armen verübt, die von Reichen bezahlt werden, sagt er. Die Jungs nicken zustimmend.
     Ein zirka Zehnjähriger, der Sohn des Besitzers, kommt zu
ihm und wischt unnötigerweise den Tisch ab. Er fährt übertrieben oft mit dem Tuch hin und her, hebt die Bierflasche hoch und stellt sie wieder hin. Er bedankt sich. Der Junge sagt Bitte und läuft zurück zum Tresen.
     Der Junge bettelt förmlich um Arbeit, sagt der Vater. So
was hab ich noch nie erlebt.
     Der Akzent des Alten am Tisch nebenan ist schwer zu verstehen, und die laut aufgedrehten Clips von Pantera sind da wenig hilfreich, aber jetzt erklärt er, der Staat schulde ihm zwei Millionen Reais. Seine beiden Zuhörer nicken wieder.
     Der Junge kommt zurück und sieht ihn an.
     Kennst du den Witz mit dem Billardtisch?
     Nein.
     Lass den Mann zufrieden, sagt der Vater, ohne den Blick von dem Geld zu nehmen, das er gerade zählt.
     Was ist oben grün, hat vier Füße, und wenn es dir auf den Kopf fällt, bist du tot?
     Ein Billardtisch?
     Woher wusstest du das?, brüllt der Junge und läuft laut lachend zurück zum Tresen.
     Lass ihn zufrieden, wiederholt der Vater.
     Er trinkt noch zwei Bier, scherzt mit dem Jungen, hört dem Gespräch der Einheimischen zu und beobachtet die Passanten. Im Fernsehen wird Dimebag Darrell von einem geistig verwirrten Fan auf der Bühne erschossen. Als er aufsteht, ist er leicht angetrunken. Er zahlt bei dem Vater des Jungen, einem sympathischen, müde aussehenden Mann mit tiefen Augenringen und Dreitagebart.
     Meiner Familie gehörte damals die Strandstraße in Porto Alegre, erzählt der Alte den beiden Jugendlichen mit Baseballkappen, als er geht. Das habe ich schriftlich. Die Jungen nicken.
     Er läuft am Strand entlang zum Fischerdorf und zu seinem
Hotel. Die Wellen krachen laut wie brechende Baumstämme. Er trägt seine Flipflops in der Hand und spürt den kalten Sand an den Füßen. Der Gedanke, dass der Tag zu Ende geht, beunruhigt ihn. Hinter dem Morro da Vigia, gesprenkelt mit den Lichtern von Häusern und Straßenlaternen, liegt die Leere, derentwegen er hergekommen ist. Aber dafür ist es jetzt noch zu früh. Er hatte sich eine lange, vielleicht sogar endlose Suche ausgemalt, und es frustriert ihn, so schnell an etwas erinnert zu werden, von dem er lieber weiter so tut, als würde er es nicht wissen, daran nämlich, dass das Gefühl der Leere, nach dem er sich sehnt, in ihm selbst schlummert und er es überall mit hinschleppt. Wie eine Überraschungsparty, die schon vorher angekündigt wird, oder ein Witz, den man erklärt, bevor man ihn erzählt. Er erinnert sich an den Witz des Jungen. Vorhin hat er nicht gelacht, aber jetzt findet er ihn plötzlich urkomisch.
     Beta hat ihr Futter gegessen und das Wasser ausgetrunken. Während er das Wasser nachfüllt, liegt sie auf ihrer Hundedecke auf den klebrigen Fliesen und beobachtet ihn. Er putzt sich die Zähne und legt sich in Unterhose aufs Bett. Es riecht nach Zement und Weichspüler. Er hört, wie sich die Wellen zweihundert Meter weiter brechen. Er hört die Mofas Gas geben und über allem die Stille.
     Er steht wieder auf und zieht Hose, Turnschuhe und ein frisches Hemd über. Die Uhr unten auf der Straße zeigt kurz nach Mitternacht. Er läuft zur Pizzeria. Zwei Tische sind noch von Gästen besetzt, die unbedingt ein letztes Getränk bestellen wollen. Die Angestellten warten ungeduldig und kauen auf den Fingernägeln. Er sucht nach der großen Kellnerin mit dem krausen Haar. Vielleicht hätte er sie nach ihrem Namen fragen sollen. Krauses Haar haben viele. In seiner Erinnerung wird ihr Gesicht jetzt zu einer verschwommenen Karikatur, fast abstrakt. Dann erkennt er sie doch, an der Haltung. Sie steht draußen, weiter hinten, im Halbdunkel der kleinen Einkaufspassage, und versucht, einen Tisch zusammenzuklappen. Irgendetwas rastet nicht ein. Er geht auf sie zu und spricht sie schüchtern an. Von der spontanen Unbefangenheit, mit der man als Gast mit der Kellnerin flirtet, ist nichts mehr übrig. Er fand sie hübsch und findet sie auch jetzt noch hübsch, aber was diese Schönheit ausmacht, war ihm entfallen, und jetzt ist es wieder da. Es ist, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Sie lächelt, als sie ihn bemerkt. Jeder Mensch merkt, wenn er wiedererkannt wird, aber er hat diese Fähigkeit notgedrungen überdurchschnittlich verfeinern müssen. Der Ausdruck des Wiedererkennens kann schon alles beinhalten, was man wissen muss.
     He. Hast du Lust, gleich noch irgendwo ein Bier trinken
zu gehen?
     Während sie überlegt, gelingt es ihr endlich, den Tisch zusammenzuklappen.
     Im Pico ist heute eine Party.
     Pico.
     Pico do Surf, kennst du das nicht?
     Nein. Ich bin heute erst angekommen. Ich kenn gar nichts.
     An der Praia do Rosa. Ich bin mit ein paar Freundinnen
verabredet. Ich weiß aber noch nicht, wie ich hinkommen soll.
     Ich bin mit dem Auto da. Kann ich dich mitnehmen?
     Sie heißt Dália und bittet ihn, sie in einer halben Stunde abzuholen. Er läuft zum Hotel zurück, duscht kurz und geht dann zum Parkplatz. Eine Weile bleibt er vor dem Wagen stehen, der noch voll beladen mit Sachen ist. Er holt den anderen Koffer raus, den Fernseher, die Tasche mit der Playstation, eine Schachtel mit Unterlagen und was sonst noch halbwegs wertvoll ist, und bringt alles aufs Zimmer. Insgesamt muss er dreimal laufen. Beta schläft und wacht auch nicht auf. Verschwitzt lässt er den Motor an. Er ist spät dran. Im Auto riecht es nach Hund.
     Dália steht rauchend vor der geschlossenen Pizzeria, in Begleitung eines jungen Mannes mit Baseballkappe und Surfershorts.
     Kommt er mit? Ich glaube, auf der Rückbank ist kein Platz.
     Sie öffnet die Tür, setzt sich und sagt, er habe ihr nur Gesellschaft geleistet, solange sie warten musste. Er hatte ihr Gesicht schon wieder vergessen. Als sie sich kurz auf die Wange küssen, kann er sie nicht richtig sehen, und jetzt blickt sie nach vorn und zeigt nur ihr Profil.
     Wir müssen noch kurz zu mir nach Hause, okay? Ich muss
mich umziehen. Wenn's dir nichts ausmacht.
     Sie lenkt ihn durch kleine, uneben gepflasterte Straßen in
den älteren Vierteln der Stadt. Riesige Hunde und schnelle Radfahrer sind auf den nächtlichen Straßen unterwegs, die nur hier und da beleuchtet sind. Um die Stadt herum zeichnen sich die Umrisse der Hügel ab. Im Radio läuft leise Reggae. Sie erzählt von ihrer Arbeit in der Pizzeria, und er erklärt, dass der Kram hinten im Wagen mit seinem Umzug aus Porto Alegre zu tun hat. Sie kommen auf einen Feldweg und biegen dann in eine Zufahrt, die nur noch aus Reifenspuren im Gras besteht. Im Licht einer Straßenlaterne sieht er ein paar alte Baumstämme und die Fassaden von vier oder fünf Häusern. Sie zeigt auf eines der Häuser, und sie halten an.
     Warte kurz, ja? Ich bin gleich wieder da.
     Es dauert fast eine Stunde. Er wartet, ohne auszusteigen, und hört sich durch verschiedene Radiosender. Er kann warten.
     Als Dália endlich kommt, verströmt sie einen vanilleartigen Duft und trägt Jeans, hellblaue Sandaletten, eine schwarze Bluse mit fast unsichtbaren Trägern und eine silberne Sonne an einer Kette. Die Haare sind mit einem weißen Haarband hochgebunden und quellen wie eine schwarze Koralle daraus hervor. Ihre Lippen glänzen.
     Lass mich dich ansehen, sagt er, und sie dreht sich zu ihm.
     Auf dem Weg bittet sie ihn, an der Tankstelle zu halten. Sie kauft ein Bier und einen Schokoriegel und bietet ihm von beidem an. Auf der Straße ist kaum Verkehr, und Dália redet gern. Sie ist zweiundzwanzig, stammt aus Caçador, wo vor allem Tomaten angebaut werden, und will im Juli nach Florianópolis ziehen, um dort Naturheilkunde zu studieren. Dass er Sportlehrer ist, interessiert sie nicht besonders, dafür äußert sie sich begeistert über seinen Umzug nach Garopaba.
     Du wirst dich wohlfühlen hier. Jeder fühlt sich hier wohl. Es ist einfach wunderschön. Ich lebe jedenfalls sehr gern hier. Darf man bei dir im Auto kiffen?
     Sie zündet einen Joint an und reicht ihn ihm. Er nimmt ein paar Züge und kriegt langsam etwas Angst vor den entgegenkommenden Scheinwerfern.
     Auf einem sandigen, mit Schlaglöchern übersäten Weg, flankiert von Straßengräben, gelangen sie schließlich zum Pico do Surf. Vergeblich versucht er, sich an den gerade zurückgelegten Weg zu erinnern. Es dauert, bis er den Fiesta so geparkt hat, dass sie nicht in einen Krater zwischen dem Weg und einem Stück Brachland fallen. Ein Palisadenzaun umschließt den Club, aus dem tiefe Bässe wummern und Stroboskoplicht aufblitzt. Ein paar Leute lehnen an Autos und trinken Bier. Vor der Tür ist eine kleine Schlange. Die Mädchen tragen hohe Absätze, kurze Röcke und schulterfreie Tops, ziehen entweder erwartungsvolle Grimassen oder lachen krampfhaft und sehen sich dabei nach allen Seiten um, als würden sie verfolgt. Die Jungs tragen Shorts, und ein paar von ihnen Flipflops. Alle sehen aus wie Surfer oder Surfer-Freundinnen. Dália verspricht, sie beide umsonst reinzubringen, aber am Ende lässt der Türsteher nur sie rein, und er muss die zwanzig Reais Eintritt zahlen. Sie steigen eine in den Hang geschlagene Treppe hinauf und laufen durch einen Garten mit großen Holztischen und einem Billardtisch. Auf der Tanzfläche ist es dunkel, die Musik ist sehr laut. Es läuft ein hypnotischer, irgendwie nerviger Hip-Hop-Track, der ihn sofort schlecht drauf bringt. Sie gehen an die Bar und kaufen Bier, und kaum hat er Dália den Rücken zugewandt, ist sie verschwunden. Er verliert sie lange genug aus den Augen, um ihr Gesicht zu vergessen, und erkennt sie erst sehr viel später an ihrer Kette wieder, als er sie in einer kleinen Gruppe tanzen sieht. Er geht auf sie zu, sie umarmt ihn kurz und stellt ihn den anderen vor, lässt ihn dann aber wieder los und tanzt mit einem Energy-Drink in der Hand weiter. Er versucht zu tanzen, kommt aber nicht in Stimmung und bleibt stattdessen am Rand stehen. Kurz darauf erscheint ein Typ mit wasserstoffblonden kurzen Haaren und redet auf Dália ein. Sie wirkt genervt, hört ihm aber zu und antwortet, das Ganze scheint endlos zu dauern. Er denkt an sein Auto, das etwas ungünstig neben dem Graben parkt und in dem seine Sachen offen sichtbar auf der Rückbank liegen. Er hat vergessen, das Autoradio rauszunehmen. Bestimmt schlagen sie mir die Scheibe ein und klauen das Radio, denkt er. Er kauft noch ein Bier. Es kommt ihm vor, als würde die ganze Zeit dasselbe Lied laufen. Dálias Haarschopf taucht vor ihm auf, sie beschwert sich über den Typen, mit dem sie geredet hat. Ihr heißer Atem riecht nach zuckerfreiem Menthol-Kaugummi und wirkt beruhigend auf ihn. Meine Güte, was für ein Idiot, regt sie sich auf. Bleib bei mir, dann belästigt er dich nicht mehr, sagt er. Sie schlingt ihre langen Arme um ihn, fängt an zu tanzen und fragt, ob er eine Pille wolle, sie habe gerade eine genommen. Ein Freund verkauft sie für einen Dreißiger. Er bemerkt den Schweiß auf ihrem Schlüsselbein und im Nacken. Er hält die Nase an ihren Hals und atmet den säuerlichen Geruch der Haut gemischt mit dem süßen Parfüm ein. Sie sagt, Bin gleich zurück, und verschwindet wieder. Er überlegt, auch Ecstasy zu nehmen, was er seit der Uni nicht mehr gemacht hat, und ihr ab jetzt die Führung zu überlassen, einerseits, weil er davon ausgeht, dass sie sowieso die Nacht zusammen verbringen, andererseits, weil er zu faul ist, selbst die Initiative zu ergreifen. Kurz darauf beobachtet er, wie sie sich wieder von dem Typen mit den gebleichten Haaren vollquatschen lässt. Die Dunkelheit schluckt nicht nur die Gesichter, sondern auch Körper, Gesten, Kleider und Accessoires und damit so gut wie jede Möglichkeit, jemanden wiederzuerkennen. Eine kleine blonde Fotografin läuft die ganze Zeit herum und macht Fotos. Die Grüppchen posieren Arm in Arm, strecken die Zunge raus und machen das Victory-Zeichen. Die Fotografin kommt auf ihn zu und blitzt ihm zweimal ins Gesicht. Er denkt an seinen Wagen, an die Hündin im Hotel und daran, dass er morgen eine Wohnung finden will. Er geht zu Dália, unterbricht den Blonden und sagt, dass er los will. Sie stehen neben einem Lautsprecher, er muss also brüllen. Du kannst jetzt nicht los, schreit sie und legt ihm die Hand auf die Brust. Doch, brüllt er. Mir gefällt es hier nicht, und ich muss mir morgen früh eine Wohnung suchen. Aber du musst mich mit zurücknehmen, sagt sie, leicht verärgert. Dann komm. Mann, ey, protestiert sie. Okay, hau ab, ich komm schon nach Hause. Du bist echt bescheuert. Ohne nachzudenken greift er ihr in die Haare, dringt mit den Fingern zwischen die stramm gespannten Strähnen im Nacken und streicht mit den Kuppen über die Wurzeln auf der Kopfhaut. So hält er sie fest. Sie sieht ihn mit aufgerissenen Augen an und versteht nicht, was er da macht, und er versteht es auch nicht, aber es fühlt sich gut an, und ihr scheint es trotz allem auch zu gefallen. Vielleicht ist es das Ecstasy. Er küsst sie ins Gesicht und lässt sie los. Sie lächelt ein bisschen. Der Typ mit den gebleichten Haaren stößt ihn weg, und er nutzt die Gelegenheit, geht zielsicher in Richtung Ausgang und schmunzelt in sich hinein.
     Er fragt den Türsteher nach dem Weg und fährt betrunken los. Plötzlich fängt er an zu schluchzen. Die Straßen sind leer, Garopaba wirkt wie ausgestorben. Immer noch schluchzend betritt er sein Zimmer und erschrickt. Die Hündin sitzt auf dem Bett. Beta, Beta, Beta, wiederholt er zärtlich und drückt das Tier an sich. Sie ist heiß, ihr weiches Fell rutscht über die Muskeln. Erleichtert atmet er ihren salzigen Geruch ein, dann lässt er sie los. Sie bleibt neben dem Kopfkissen sitzen. Erst als er sich die Zähne putzt, merkt er, dass das Schluchzen aufgehört hat.
     Bevor er sich schlafen legt, sucht er nach seinem Handy,
um zu sehen, wie spät es ist, und stellt fest, dass seine Mutter
versucht hat, ihn zu erreichen.*

* Er war da. Noch vor mir. Er ist gerade erst weg. Ich hab deinen Bruder noch nie so erlebt, er schien völlig fassungslos. Natürlich hatte er Angst, dich zu treffen. Er blieb eine Ewigkeit neben dem Sarg stehen. […] Natürlich hat er nicht geweint, dein Bruder weint nie, du kennst ihn ja. Er wollte nur wissen, ob ich wüsste, wann du kommst und ob sie mit dir käme. Ich hab gesagt, dass sie nicht mitkäme, aber sie ist nicht das Problem, du bist es, den er nicht sehen will. Er sagte, Mama, ich kann nicht hierbleiben. Ich schlag zu, wenn ich ihn sehe. Und ich hab gesagt, Euer Vater ist tot und liegt dort im Sarg. Benimm dich nicht wie ein Kleinkind, du wirst demnächst dreiunddreißig, tu deinem Vater den Gefallen, er würde wollen, dass ihr euch vertragt, aber dein Bruder hat nur gelacht. […] Ich weiß nicht warum, ich hab es nicht verstanden, aber zwischen deinem Vater und ihm gab es etwas, dass nur sie beide verband, weißt du. Er hatte Beta im Wagen. […] Ich habe keine Ahnung, Dante. […] Ich finde es auch äußerst merkwürdig, aber ich habe Angst, ihn zu fragen. Dein Vater hatte eine Nachricht hinterlassen… er hat mir das Haus vermacht und euch ein bisschen Geld. Morgen bekommen wir das Testament zu Gesicht. Mehr besaß er nicht, es ist unglaublich. Er hat alles verprasst. Und bei der ganzen Bürokratie kann das dauern - […] Nichts. Ach so, da ist noch die private Lebensversicherung, die geht auf euch über. Eine Stange Geld. Zu dem Haus hat er geschrieben, Mach was du willst damit, Sônia, ich weiß sowieso, dass du es verkaufst und unter deinen beiden Prinzen aufteilst. Und das werde ich natürlich auch. Es ist so lange her, dass ich diesen Mann geliebt habe, und wir haben so viel gestritten, dass ich mich nicht mal mehr erinnern kann, wie er war. Dein Bruder war eine Viertelstunde da, er hat mit Onkel Natal gesprochen, mit Golias da vorne… er ist der einzige von seinen alten Freunden, den ich ertrage. Dann noch mit dieser Frau da, die ich nicht kenne, war das seine Freundin? […] Hab ich mir doch gedacht. Guck dir das Flittchen an, total geliftet. […] Mal sehen, wie viele von diesen Schlangen noch hier auftauchen. Verspritzen ihr Gift und behandeln mich wie den letzten Dreck. […] Was?[…] Sonst hat er nichts gemacht. Er kam rein, ging zum Sarg und ist wieder abgehauen. […] Nein, mein Sohn. Das heißt, er meinte, er müsse ein andermal mit mir reden, er wolle umziehen. Raus aus Porto Alegre. […] Das weiß ich nicht. Er wollte nur weg von hier. Abgesehen von der Minute, die er neben dem Sarg stand, hat er die ganze Zeit zur Tür gesehen, und dann ist er zu mir gekommen und hat gesagt, Ich muss jetzt weg, es ist besser, wenn ich gehe, und er hat mich umarmt und ist los. […] Hab ich doch versucht! Das ist die Beerdigung deines Vaters, habe ich gesagt, sei nicht kindisch, warum machst du es uns so schwer, aber er ist einfach gegangen. Ich glaube, er ist nur meinetwegen gekommen, damit man mir keine Vorwürfe macht. Er blieb gerade mal so lange wie nötig, und dann war er weg, aber was soll's? Familie war nie unser Ding. Außer bei dir, mein Schatz. Ich hatte noch Zeit, ihm Ronaldo vorzustellen, du wirst ihn auch gleich kennenlernen, er ist nur kurz das Auto umparken, er hatte Angst, einen Strafzettel zu bekommen, wegen der Parkuhr. […] Ich? Ja, ich bin glücklich.[…] Findest du? Ach was, alt bin ich. […] Nur weil ich deine Mutter bin. Kann aber sein, man sieht es einem an, wenn man seinen Frieden mit dem Leben gemacht hat. Das mit deinem Vater ist tragisch, aber das ist alles so lange her. Ich hätte gedacht, er stirbt irgendwann an einem Herzinfarkt oder so, er hat sich ja sein ganzes Leben kaputt gemacht, das weißt du selbst, aber so was … in seinem Alter. Warum macht man das mit vierundsechzig? Und auf so schreckliche Art und Weise, er hätte doch … […] Du hast recht, man weiß es nicht. Jetzt ist er nicht mehr da. […] Genau. […] Ich bin vollkommen deiner Meinung, Liebling. […] Ja, du hast recht. […] Nein, lass deinen Bruder zufrieden. Sonst wird alles nur noch schlimmer. Lass ihn in Ruhe. Er will dich nicht sehen. Wenn nicht heute, dann nie. […] Finde ich auch, aber so ist es nun mal. Ich denke, du leidest mehr darunter als er, Liebling. […] Ja, ich weiß. Aber lass uns jetzt nicht darüber reden, ja? Komm her, lass dir von deiner Mutter einen Kuss geben. […] Der Gottesdienst ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Die machen das wirklich gut, die Leute vom Bestattungsinstitut. Müssen wir später aufschreiben. Ah, da kommt Ronaldo. Ich bin so glücklich mit ihm. Du musst uns unbedingt besuchen kommen. […] Genau, in der Nähe der Av. Assis Brasil. So weit weg ist São Paulo auch nicht, das ist doch ein Katzensprung, ihr müsst wirklich öfter kommen. Ja? Komm deine Mutter öfter besuchen. Ronaldo, das ist mein Großer.

zu Teil 3