Vorgeblättert

Leseprobe zu Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Teil 3

07.04.2014.
Kaum waren sie bei Chiefs Party eingetroffen, machte Kosi die Runde durch den Raum, umarmte Männer und Frauen, die sie kaum kannte, nannte die älteren übertrieben respektvoll "Ma" und "Sir", genoss die Aufmerksamkeit, die ihr Gesicht erregte, hielt sich jedoch bescheiden zurück, so dass ihre Schönheit nicht bedrohlich wirkte. Sie bewunderte das Haar einer anderen Frau, ein Kleid, eine Krawatte. Sie sagte häufig "Wir danken Gott". Als eine Frau sie vorwurfsvoll fragte: "Was für eine Gesichtscreme benutzen Sie? Wie kann man nur so perfekte Haut haben?", lachte Kosi anmutig und versprach, der Frau eine SMS mit den Einzelheiten ihrer Gesichtspflege zu schicken.
     Obinze wunderte sich immer, wie wichtig es ihr war, eine rundherum angenehme Person ohne Ecken und Kanten zu sein. Sonntags lud sie seine Verwandten zu Yamsklößen und Onugbu-Suppe ein und achtete darauf, dass alle viel zu viel aßen. Onkel, du musst mehr essen! In der Küche ist noch Fleisch! Ich bringe dir noch ein Guiness! Als er sie zum ersten Mal ins Haus seiner Mutter in Nsukka mitnahm, kurz bevor sie heirateten, sprang sie auf und half, das Essen zu servieren, und als seine Mutter abräumen wollte, stand sie gekränkt auf und sagte: "Mummy, wie kannst du abräumen, wenn ich da bin?" Jeden Satz, den sie zu seinen Onkeln sagte, beendet sie mit einem "Sir". Sie band den Töchtern seiner Cousinen Schleifen ins Haar. Ihre Bescheidenheit hatte etwas Unbescheidenes: Sie war zu dick aufgetragen.
     Jetzt knickste sie und begrüßte Mrs Akin-Cole. Sie war eine berühmte alte Frau aus einer berühmten alten Familie mit dem hochmütigen Ausdruck - die Augenbrauen stets hochgezogen - einer Person, die es gewohnt war, dass man ihr Ehrerbietung entgegenbrachte; Obinze stellte sich oft vor, dass sie Champagnerbläschen rülpste.
     "Wie geht es Ihrem Kind? Geht sie schon in die Schule?", fragte Mrs Akin-Cole. "Sie müssen sie in die französische Schule schicken. Sie ist sehr gut, sehr streng. Sie unterrichten natürlich auf Französisch, aber es kann nicht schaden, wenn das Kind noch eine zivilisierte Sprache lernt. Englisch lernt sie ja schon zu Hause."
     "Okay, Ma. Ich werde mir die französische Schule ansehen", sagte Kosi.
     "Die französische Schule ist nicht schlecht, aber mir ist Sidcot Hall lieber. Sie unterrichten den gesamten britischen Lehrplan", sagte eine andere Frau, deren Namen Obinze entfallen war. Er wusste, dass sie während der Regierungszeit von General Abacha viel Geld gemacht hatte. Angeblich war sie Zuhälterin gewesen, hatte Offiziere der Armee mit jungen Mädchen versorgt und als Gegenleistung überzogene Lieferverträge erhalten. Jetzt, in ihrem engen, paillettenbesetzten Kleid, das die Schwellung ihres Bauches betonte, war sie der Prototyp bestimmter Frauen mittleren Alters in Lagos: vor Enttäuschung verdorrt, von Bitterkeit zerfressen, die Pickel auf ihrer Stirn mit einer dicken Schicht Make-up bedeckt.
     "O ja, Sidcot Hall", sagte Kosi. "Sie steht ganz oben auf meiner Liste, weil ich weiß, dass sie nach dem britischen Lehrplan unterrichten."
     Normalerweise hätte Obinze nichts gesagt, sondern nur zugesehen und zugehört, aber heute sagte er aus unerfindlichem Grund: "Sind wir nicht alle in Grundschulen gegangen, die nach dem nigerianischen Lehrplan unterrichtet haben?"
     Die Frauen sahen ihn an; ihre verwirrten, ungläubigen Mienen bekundeten, dass er es unmöglich ernst meinen konnte. Und auf gewisse Weise meinte er es nicht ernst. Natürlich wollte auch er nur das Beste für seine Tochter. Manchmal, jetzt, kam er sich wie ein Eindringling vor in diesem neuen Kreis von Leuten, die glaubten, dass die modernsten Schulen, die modernsten Lehrpläne die Vollständigkeit ihrer Kinder garantierten. Er teilte ihre Gewissheiten nicht. Er hatte zu lange um das getrauert, was hätte sein können, und sich gefragt, was sein sollte.
     Als er jünger gewesen war, hatte er Leute mit einer begüterten Kindheit und einem ausländischen Akzent bewundert, aber jetzt spürte er eine unausgesprochene Sehnsucht in ihnen, eine traurige Suche nach etwas, was sie nie fanden. Er wollte kein gut ausgebildetes Kind verstrickt in Unsicherheiten. Buchi würde nicht in die französische Schule gehen, dessen war er sicher.
     "Wenn Sie Ihr Kind benachteiligen wollen, indem Sie es in eine dieser Schulen mit unerfahrenen nigerianischen Lehrern schicken, dann sind Sie selbst schuld", sagte Mrs Akin-Cole. Sie sprach mit dem nicht lokalisierbaren ausländischen Akzent - britisch und amerikanisch und gleichzeitig noch etwas anderes - der reichen Nigerianerin, die nicht wollte, dass irgendjemand vergaß, wie weltgewandt sie war, wie viele Meilen sich auf ihrer British Airways Executive Card angesammelt hatten.
     "Der Sohn einer meiner Freundinnen geht in eine Schule auf dem Festland, und stellen Sie sich vor, sie haben in der ganzen Schule nur fünf Computer. Nur fünf!", sagte die andere Frau. Jetzt fiel Obinze ihr Name ein. Adamma.
     Mrs Akin-Cole sagte: "Die Dinge haben sich verändert."
     "Das stimmt", sagte Kosi. "Aber ich verstehe auch, was Obinze sagt."
     Sie schlug sich auf beide Seiten, um es allen rechtzumachen; sie entschied sich immer für den Frieden und nicht für die Wahrheit, war stets darauf bedacht, sich anzupassen. Als er ihr jetzt zusah, wie sie mit Mrs Akin-Cole sprach, und der goldene Lidschatten auf ihren Augen schimmerte, fühlte er sich schuldig für seine Gedanken. Sie war eine so treuergebene Frau, eine so wohlmeinende, treuergebene Frau. Er ergriff ihre Hand.
     "Wir werden uns Sidcot Hall und die französische Schule und auch ein paar nigerianische Schulen wie Crown Day ansehen", sagte Kosi und blickte ihn flehentlich an.
     "Ja", sagte er und drückte ihre Hand. Sie wusste, dass es eine Entschuldigung war, und später würde er sich richtig entschuldigen. Er hätte still sein, ihr Gespräch nicht stören sollen. Sie erzählte ihm oft, dass ihre Freundinnen sie beneideten und behaupteten, er würde sich wie ein Ausländer verhalten, weil er ihr am Wochenende das Frühstück brachte und jeden Abend zu Hause blieb. Und im Stolz in ihren Augen sah er eine bessere Version seiner selbst. Er wollte gerade etwas zu Mrs Akin-Cole sagen, etwas Belangloses und Versöhnliches, als er in seinem Rücken Chiefs erhobene Stimme hörte: "Und während wir uns hier noch unterhalten, fließt Öl durch illegale Leitungen und wird flaschenweise in Cotonou verkauft! Ja! Ja!"
     Chief stürzte sich auf sie.
     "Meine wunderschöne Prinzessin!", sagte Chief zu Kosi und umarmte sie, drückte sie fest an sich; Obinze fragte sich, ob er ihr jemals Avancen gemacht hatte. Es würde ihn nicht wundern. Er war einmal in Chiefs Haus gewesen, als ein Mann mit seiner Freundin kam, und als sie den Raum verließ, um die Toilette aufzusuchen, hörte Obinze, wie Chief zu dem Mann sagte: "Das Mädchen gefällt mir. Überlass sie mir, und ich schenke dir ein schönes Grundstück in Ikeja."
     "Sie sehen gut aus, Chief", sagte Kosi. "So jung."
     "Ah, meine Liebe, ich tue mein Bestes." Chief zog scherzend an den Satinrevers seines schwarzen Jacketts. Er war wirklich eine stattliche Erscheinung, schlank und aufrecht, im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen, die aussahen wie schwangere Männer.
     "Mein Junge!", sagte er zu Obinze.
     "Guten Abend, Chief." Obinze schüttelte mit beiden Händen seine Hand und verneigte sich leicht. Auch die anderen Männer auf der Party verneigten sich, scharten sich um Chief und wetteiferten darum, lauter als die anderen zu lachen, wenn Chief einen Witz erzählte.
     Es war voll geworden. Obinze schaute sich um und entdeckte Ferdinand, einen stämmigen Bekannten Chiefs, der bei den letzten Wahlen für den Gouverneursposten kandidiert und verloren und wie alle unterlegenen Politiker das Wahlergebnis vor Gericht angefochten hatte. Ferdinand hatte einen harten unmoralischen Gesichtsausdruck; würde man seine Hände untersuchen, fände man vermutlich das getrocknete Blut seiner Feinde unter seinen Fingernägeln. Ferdinand sah zu ihm, und Obinze wandte den Blick ab. Er war besorgt, dass Ferdinand mit ihm über das dubiose Landgeschäft sprechen wollte, das er bei ihrer letzten Begegnung erwähnt hatte, deswegen murmelte er, dass er auf die Toilette gehen wollte, und entfernte sich von der Gruppe.
     Am Buffet sah er einen jungen Mann, der traurig und enttäuscht auf die kalten Braten und Nudelgerichte schaute. Obinze fühlte sich von seiner Unbeholfenheit angezogen; die Kleidung des jungen Mannes und seine Haltung zeugten von einem Außenseitertum, das er nicht verbergen konnte, so sehr er es auch versuchte.
     "Auf der anderen Seite steht ein Tisch mit nigerianischem Essen", sagte Obinze zu ihm, und der junge Mann schaute ihn an und lachte dankbar. Er hieß Yemi und war Zeitungsjournalist. Das war keine Überraschung; Bilder von Chiefs Partys tauchten zuhauf in den Wochenendausgaben auf.
     Yemi hatte Anglistik studiert, und Obinze fragte ihn, welche Bücher er mochte, weil er endlich über etwas Interessantes reden wollte, aber bald begriff er, dass Yemi nur Bücher als Literatur durchgehen ließ, die vielsilbige Wörter und unverständliche Passagen enthielten.
     "Das Problem ist, dass der Roman zu simpel ist, der Mann benutzt nicht einmal schwierige Wörter."
     Es betrübte Obinze, dass Yemi so ungebildet war und nicht wusste, dass er es war. Obinze verspürte den Wunsch, Lehrer zu sein. Er stellte sich vor, er stünde vor einer Klasse voller Yemis und unterrichtete. Es würde zu ihm passen, das Leben als Lehrer, so wie es zu seiner Mutter gepasst hatte. Er dachte oft an andere Dinge, die er hätte tun können oder noch immer tun könnte: an der Universität lehren, eine Zeitung herausgeben, als professioneller Tischtennislehrer arbeiten.
     "Ich weiß nicht, was Sie beruflich tun, Sir, aber ich bin immer auf der Suche nach einem besseren Job. Ich beende gerade meinen Master", sagte Yemi auf die Art des wahren Lagosianers, der sich immer ins Zeug legte und nach Vielversprechenderem und Besserem strebte. Obinze gab ihm seine Karte und kehrte zu Kosi zurück.
     "Ich habe mich schon gefragt, wo du bist", sagte Kosi.
     "Entschuldige, ich habe mich mit jemand unterhalten", sagte Obinze. Er griff in die Tasche und berührte seinen BlackBerry. Kosi fragte ihn, ob er noch etwas zu essen wolle. Er wollte nichts mehr. Er wollte nach Hause. Es zog ihn mit aller Macht in sein Arbeitszimmer, wo er Ifemelus E-Mail beantworten könnte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er in Gedanken die Antwort bereits formuliert. Wenn sie vorhatte, nach Nigeria zurückzukehren, hieß das, dass sie nicht mehr mit dem schwarzen Amerikaner zusammen war. Aber vielleicht nahm sie ihn auch mit; sie war schließlich eine Frau, die einen Mann mühelos dazu brachte, sein Leben aufzugeben, eine Frau, die eine gewisse Art von Sicherheit möglich machte, weil sie Sicherheit nicht erwartete oder darum bat. Wenn sie während des Studiums seine Hand gehalten hatte, hatte sie so fest zugedrückt, dass beide Handflächen schweißnass wurden, und im Spaß gesagt: "Nur für den Fall, dass wir zum letzten Mal Händchen halten, lass uns richtig Händchen halten. Weil uns jeden Moment ein Motorrad oder ein Auto überfahren kann, oder ich sehe auf der Straße den wahren Mann meiner Träume und verlasse dich, oder du siehst die wahre Frau deiner Träume und verlässt mich." Vielleicht käme der schwarze Amerikaner auch nach Nigeria und klammerte sich an sie. Aber aufgrund ihrer E-Mail glaubte er es nicht. Er nahm den BlackBerry heraus, um die amerikanische Uhrzeit zu berechnen, zu der sie geschickt worden war. Früher Nachmittag. Sie schien die Sätze hastig geschrieben zu haben; er fragte sich, was sie zu diesem Zeitpunkt getan hatte. Und er fragte sich, was Ranyinudo ihr noch über ihn erzählt hatte.
     An dem Samstag im Dezember, als er Ranyinudo vor dem Palms-Einkaufszentrum getroffen hatte, hatte er Buchi auf dem Arm und die Tüte mit Buchis Keksen in der anderen Hand und wartete, dass Gabriel mit dem Wagen kam. "Der Zed!", hatte Ranyinudo gerufen. In der Oberschule war sie ein sprudelnder Wildfang gewesen, sehr groß und dünn und direkt, ohne das Geheimnisvolle der Mädchen. Die Jungs hatten sie alle gemocht, waren ihr aber nie nachgelaufen, und sie hatten sie liebevoll Lass-mich-in-Ruhe genannt, denn wenn man sie nach ihrem ungewöhnlichen Namen fragte, sagte sie meist: "Ja, das ist ein Igbo-Name, und er bedeutet 'Lasst uns in Ruhe', also lasst mich in Ruhe!" Er war überrascht, wie schick sie jetzt aussah und wie anders mit ihrem kurzen stachligen Haar und den engen Jeans, ihr Körper voll und kurvig.
     "Der Zed - der Zed! Ist ja ewig her! Aber du erkundigst dich ja nicht mehr nach uns. Ist das deine Tochter? Gott segne sie. Neulich habe ich einen Freund getroffen, Dele. Kennst du Dele, er arbeitet in der Hale Bank? Er hat gesagt, dass dir das Gebäude neben dem Ace-Büro auf Banana Island gehört. Glückwunsch. Du hast es wirklich weit gebracht. Und Dele hat gesagt, dass du so bescheiden bist."
     Der übertriebene Wirbel, den sie um ihn machte, die Hochachtung, die ihr aus jeder Pore triefte, waren ihm unangenehm gewesen. In ihren Augen war er nicht länger der Zed aus der Oberschule, und die Geschichten über seinen Reichtum veranlassten sie zu der Annahme, dass er sich mehr verändert hatte, als überhaupt möglich war. Die Leute bezeichneten ihn oft als bescheiden, aber sie meinten nicht echte Bescheidenheit, sondern nur, dass er mit seiner MitgliedsS. Fischerchaft im Club der Reichen nicht angab, die Rechte nicht ausübte, die damit verbunden waren - unhöflich zu sein, rücksichtslos, gegrüßt zu werden, statt zu grüßen -, und weil so viele andere sich diese Rechte anmaßten, wurde sein Verhalten als bescheiden interpretiert. Er protzte auch nicht mit seinen Besitztümern oder sprach darüber, weswegen die Leute vermuteten, dass er weit mehr besaß, als tatsächlich der Fall war. Sogar sein bester Freund Okwudiba nannte ihn oft bescheiden, und das ärgerte ihn etwas, weil er wünschte, Okwudiba würde begreifen, dass Unhöflichkeit zum Normalfall wurde, wenn man ihn für bescheiden hielt. Außerdem war ihm Bescheidenheit immer als etwas Trügerisches erschienen, erfunden für das Wohlbehagen der anderen; man wurde von den Leuten für Bescheidenheit gelobt, weil man ihnen kein größeres Gefühl der Unzulänglichkeit vermittelte, als sie es sowieso schon hatten. Was er schätzte, war Aufrichtigkeit; er hatte sich schon immer gewünscht, wirklich ehrlich zu sein, und fürchtete fortwährend, dass er es nicht war.
     Auf dem Rückweg von Chiefs Party sagte Kosi im Wagen: "Liebling, du musst noch Hunger haben. Hast du nur die Frühlingsrolle gegessen?"
     "Und suya."
     "Du musst etwas essen. Gott sei Dank habe ich Marie gebeten zu kochen", sagte sie und fügte kichernd hinzu: "Ich hätte besser auf mich achten und die Schnecken nicht anrühren sollen. Ich glaube, ich habe zehn Stück davon gegessen. Sie haben so gut und pfeffrig geschmeckt."
     Obinze lachte, er war etwas gelangweilt, aber zufrieden, weil sie glücklich war.

                                                        *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
(Copyright S. Fischer Verlag)


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