Vorgeblättert

Leseprobe zu Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter. Teil 3

26.04.2010.
Jahre später ging diese Autoritätsperson eines Morgens in die Garage und schoss sich in den Kopf. In einem Brief, den er seiner entsetzten Frau und seinen Kindern hinterließ, erklärte er, er könne die Last seiner finanziellen Probleme nicht länger ertragen. In seinen letzten Jahren hatte er sich zunehmend auf meinen Vater gestützt und sich ihm anvertraut. Nach seinem Tod arrangierte mein Vater die Bestattung und versuchte, seinen Einfluss als Bürgermeister geltend zu machen, damit die Nachricht seines Suizids nicht in die Zeitung kam.
     Obwohl sie Waise war, hatte Tante Mina eine bessere Kindheit gehabt als meine Mutter, deren Mutter gestorben war, als sie noch relativ klein war. Danach war sie den Launen ihrer Stiefmutter ausgeliefert und der zerstreuten Aufmerksamkeit eines Vaters, der Disziplin mit Zuneigung verwechselte. Während ihre Halbgeschwister keinen Komfort entbehrten, erhielt Mutter eine Dachkammer und musste sich die Zähne mit Wasser und Seife putzen. Dass sie in ihrem eigenen Haus wie eine arme Verwandte behandelt wurde, kränkte sie zutiefst. Ihre Verbitterung und ihr Hass auf ihre Familie führten dazu, dass sie einen übertriebenen Stolz entwickelte. Tante Mina erzählte mir einmal, sie habe meiner Mutter ihre Bücher geliehen (mein Großvater vergaß regel mäßig, Mutter Geld für Bücher zu geben) und so sei die Gewohnheit entstanden, gemeinsam zu lernen. "Deshalb sind wir uns so nahegekommen", sagte sie. "Nehzat war immer die Klassenbeste, sie war sehr ehrgeizig. Sie konnte mit den anderen nicht mithalten, wenn es um Kleider oder andere Dinge ging. Der einzige Bereich, in dem sie konkurrieren und besser sein konnte als die anderen, war die Schule, vor allem die Mathematik." Während ihre Geschwister zum Studium ins Ausland geschickt wurden, musste Mutter ihre Ausbildung nach dem Gymnasium beenden.
     "Ich wollte Ärztin werden", erzählte Mutter gern. "Ich war Klassenbeste und galt als vielversprechende Schülerin." Immer wieder rief Mutter meinem Bruder und mir ins Gedächtnis, dass sie ihre Karriere geopfert habe, um zu Hause zu bleiben. Sie schien stolz darauf zu sein, dass ich kein "Hausmütterchen" war, und brüstete sich vor meiner Heirat meinem zukünftigen Mann gegenüber, ich könne nicht einmal mein Bett machen. "Meine Tochter", verkündete sie ihm gleich, als sie sich zum ersten Mal trafen, "wurde zu einer gebildeten Frau erzogen, nicht zu einem Haustrampel." Aber sie machte mir trotzdem immer Vorwürfe, dass ich arbeiten ging und nicht mehr Zeit zu Hause bei den Kindern verbrachte.
     Nach Mutters Tod erfuhr ich zu meiner Überraschung von der Österreicherin, die Mutters Hochzeit miterlebt hatte, dass meine Mutter einige Zeit als Bankangestellte gearbeitet hatte. Die Österreicherin erzählte mir, wie sehr Mutter sie beeindruckt hatte, weil sie so ganz anders als andere Frauen aus ihrer Schicht gewesen sei. Nezhat war intelligent, konnte sich gut ausdrücken, sprach fließend Französisch und - arbeitete in einer Bank. Damals arbeiteten junge Frauen ihrer Herkunft allenfalls als Lehrerinnen oder Ärztinnen. Offenbar hatte sich meine Mutter nach Saifis Tod eine Stelle gesucht, weil sie nicht von ihrem Vater und ihrer verhassten Stiefmutter abhängig sein wollte. Aber sie hatte es nie erwähnt, obwohl sie so stolz über ihren Wunsch, Ärztin zu werden, und ihren Wunsch nach Unabhängigkeit sprach. Statt dessen ließ sie uns immer wieder wissen, dass Khosch Kisch, der später Direktor der Iranischen Zentralbank wurde und ein Freund der Familie war, einer ihrer glühendsten Bewunderer und Verehrer gewesen sei.
     Die innere Unruhe meiner Mutter ging vermutlich auf ein Gefühl tiefer Heimatlosigkeit zurück. Sie hatte nie ein richtiges Zuhause gehabt und gehörte weder zu der Kategorie der Frauen, die gerne zu Hause blieben, noch zu denen, die Karriere machten. Wie viele Frauen ihrer Zeit saß sie zwischen den Stühlen. Sie spürte, dass in ihren Lebensumständen für ihre Fähigkeiten und Hoffnungen kein Platz war. Wenn sie von ihren guten Noten und der glänzenden Zukunft erzählte, die die Lehrer ihr vorausgesagt hatten, schloss sie oft kopfschüttelnd mit den Worten: "Wenn ich doch nur ein Mann wäre!" Das Alice-James-Syndrom nannte ich das, weil mir dabei Henry James' intelligente, kränkliche Schwester einfiel, deren Fähigkeiten und Wünsche viel größer waren als ihre Möglichkeiten.
     Auch Mina war sehr begabt. Sie hatte nicht die Mittel für eine weiterführende Ausbildung und heiratete stattdessen: "Noch eine intelligente Frau, aus der etwas hätte werden können." Tante Mina erhob nie die Stimme, sprach nie laut, stellte nie ihre Gefühle zur Schau. Im Gegensatz zu meiner Mutter legte sie es nicht darauf an zu streiten und rebellierte nicht offen. Sie zog sich sogar von den Menschen zurück, die ihr am nächsten standen, als müsse sie etwas Kostbares vor der Welt verstecken, die ihr so viel versagt hatte. Sie suchte sich bewusst ihre Ventile: Sie war spielsüchtig und sie rauchte. Mutter, die sich rühmte, an beidem Vergnügen zu haben, aber aus moralischen Gründen absichtlich darauf zu verzichten (obwohl sie sich gelegentlich zu einem Spiel Gin Rommee hinreißen ließ), begab sich auf einen Dauerkreuzzug, um ihre Freundin zum Verzicht auf ihre Laster zu bewegen. Tante Mina deutete dann ihr ironisches Lächeln an und sagte: "Ich bin keine Masochistin wie du, Nezhat." Sie war aber doch ein wenig irritiert, als Mutter sich in dieser Frage mit Mahbod, Tante Minas Mann, zusammentat. Sie vermied eine offene Konfrontation und ging ihren Weg, selbst wenn das bedeutete, dass sie ihr Tun vor den beiden Menschen versteckt halten musste, die ihr am nächsten standen - ihrem Mann und ihrer besten Freundin.
     Zwischen meinem Vater und Tante Mina entstand eine Sympathie, die auf gemeinsamen Interessen und Abneigungen basierte. Doch Vater konnte sie mit seinem Charme nicht einwickeln. "Ahmad Khan, ich bin nicht eine von diesen Frauen, die du bezirzen kannst." Sie hatte ihn sehr gern und wandte sich später Hilfe suchend an ihn, aber seine Klagen nahm sie nie ganz ernst.
     Als ich heranwuchs, sprach Mutter häufig darüber, wie es "zu ihrer Zeit" üblich war, dass nur die Mädchen eine längere Ausbildung machten, die man nicht verheiraten konnte. Gebildete Frauen galten als hässlich, und man hackte auf ihnen herum. Manche Familien erklärten, Lesen und Schreiben zu können würde "einem Mädchen Augen und Ohren öffnen" und sie zu einer Frau mit "loser Moral" machen. Mein Großvater war fortschrittlich genug, nicht auf solchen Unsinn zu hören. Mutters jüngere Halbschwester Nafiseh wurde zum Studium nach Amerika geschickt, während Mutter nie eine solche Chance erhielt. "Ich hatte niemanden, der sich für mich eingesetzt hat", sagte sie, "ich hatte keine Mutter, die sich darum gekümmert hat, was aus mir wurde". Mutter und Tante Mina kamen nie darüber hinweg, dass sie unter ihren Möglichkeiten blieben, das, was Emily Dickinson "ein ahnender Besitz von Flügeln" nannte. Vielleicht hielt ihre Freundschaft deshalb so viele Jahre, obwohl sie vom Temperament her sehr unterschiedlich waren und es vieles gab, was die eine an der anderen nicht schätzte, oder, besser gesagt, nicht tolerieren konnte.
     Mutter machte gerne Szenen. Sie war stolz darauf, "vollkommen offen und ehrlich" zu sein. Manchmal nannte sie Tante Mina vor lauter Frustration hinterhältig. "Es scheint Minas Natur zu sein, dass sie mit Dingen hinterm Berg hält", beschwerte sie sich. "Sie weiß, wie viel mir Ehrlichkeit bedeutet, und trotzdem lügt sie mich an oder will mir einfach die Wahrheit nicht sagen." - "Deine Mutter hat den Kopf in den Wolken", meinte Tante Mina. "Diese Frau ist durch und durch idealistisch. Sie ist so naiv wie eine Zweijährige."
     Tante Mina reagierte unwirsch auf die verträumten Reminiszenzen meiner Mutter an ihren ach so perfekten ersten Mann. "Wenn man bedenkt, wie Saifi mich behandelt hat", schwärmte Mutter, "vom ersten Augenblick an hatte er nur Augen für mich. Und jetzt ..." Sie seufzte. "Und jetzt was?", gab Tante Mina mit gutmütiger Ironie zurück. "Jetzt hast du einen guten Mann und zwei gesunde, wunderbare Kinder. Nezhat, willst du für immer mit dem Kopf in den Wolken leben?"

Freitags fand sich ein anderer Besuchertyp in unserem Wohnzimmer ein. Diese Zusammenkünft e waren ernsthaft erer Natur. Die Gäste trafen gewöhnlich am späten Vormittag ein, und an den Gesprächsrunden nahmen beide Eltern teil. Die Anzahl variierte, aber es gab einen harten Kern. Tante Mina erschien gelegentlich, sagte jedoch selten etwas. Ich glaube, sie kam teils aus Neugier und teils aus Loyalität. Nur ab und zu warf sie ein, zwei Worte ein, um einer Behauptung zu widersprechen.
     Ich erinnere mich an Herrn Khalighi, einen älteren und sehr erfahrenen Kollegen meines Vaters. Er hatte mit ansehen müssen, wie Vater Karriere machte, während er selbst bis zu seiner Pensionierung ein kleiner Regierungsbeamter blieb. Die beiden Männer müssen sich kennengelernt haben, als Vater Abteilungsleiter im Finanzministerium war; und sie müssen ihre Freundschaft weitergepflegt haben, als Vater Vizepräsident der Planungs- und Haushaltsorganisation wurde. Herr Khalighi würdigte die öff entlichen Erfolge meines Vaters mit seltener Großmut. Er hatte die Angewohnheit, zu allen möglichen Anlässen humorvolle Gedichte zu verfassen und sie laut vorzutragen, wann immer er uns besuchte. Er kam meist vor den anderen und ließ kaum einen Freitag aus. Auf mich wirkte er alterslos - er schrumpfte nur mit der Zeit, bis er eines Tages nicht mehr kam und man mir sagte, er sei gestorben.
     Eine weitere Konstante dieser Freitage war ein Oberst, der früh in Rente gegangen war, weil er das Leben genießen wollte. Er sah auf eine altmodische Art gut aus, ein wenig wie ein Filmstar, und färbte seinen Schnurrbart a la Clark Gable so schwarz wie seine Haare. Anders als Herr Khalighi schwieg der Oberst meist und lächelte in seinen Schnurrbart hinein. Er hörte sich die manchmal hitzigen Diskussionen an, schien aber keine rechte Lust zu haben, sich an ihnen zu beteiligen.
     Schirin Khanum, die Frau des Oberst, stieß auch bald dazu, anfangs, um sicherzugehen, dass der Oberst nicht mit "irgend so einer Schlampe" unterwegs war, wie sie sich ausdrückte, und später, weil sie mitdiskutieren wollte. Im Gegensatz zu ihrem Mann interessierte sie sich sehr für alle Debatten. Sie war eine kräftige Frau - mit einem starken Knochenbau, wie man heute sagt -, und viel größer als ihr Mann. Sie hatte eine tiefe, dröhende Stimme, was vielleicht mit ihrer unbändigen Energie und Ausdruckskraft zusammenhing und damit, dass ihr großer Körper ihre Bedürfnisse und Begierden nicht zu fassen vermochte. Der Oberst hatte nicht viel Geld und Schirin Khanum musste arbeiten gehen. Sie führte eine Nähschule, in der sie arme junge Frauen drangsalierte, die bei ihr Nähen lernen, um sich damit einmal ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Manche dienten ihr gleichzeitig als Hausmädchen, obwohl sie, soviel ich weiß, für diese Ehre nie entlohnt wurden. Schirin Khanum und Tante Mina konnten sich nicht leiden, und da beide auf ihre Weise unverblümt waren, gaben sie sich wenig Mühe, ihre Abneigung zu verbergen.
     An den Freitagen saßen immer auch ein paar ehrgeizige junge Männer dabei - entfernte Verwandte, die hofft en, nützliche Kontakte zu knüpfen, und ehemalige Staatsbeamte, die in Ungnade gefallen waren. Diese Mischung aus ehemaligen und Möchtegern-Prominenten gefiel Schirin Khanum gar nicht. Sie misstraute allen und behauptete, Mutter sei viel zu nett, sie durchschaue die bösen Absichten andere Leute nicht. "Faulenzer" nannte sie sie, mit einer Bestimmtheit, gegen die nicht einmal meine Mutter ankam. "Nezhat Khanum", verkündete sie, "hat ein gutes Herz." Sie schwieg einen Moment. "Und damit", fuhr sie von oben herab fort, "handelt sie sich nichts als Ärger ein."

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Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt

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