Vorgeblättert

Leseprobe zu Anne Wiazemsky: Jeune Fille. Teil 1

13.07.2009.
Seite 29 ff

Die Probeaufnahmen fanden in den Studios von Boulogne statt. Einige Tage zuvor war ich achtzehn geworden, noch immer minderjährig, und Mama begleitete mich.
In dem Taxi, mit dem wir dorthin fuhren, waren wir beide aufgewühlt. Das war überraschend. Seit dem Tod meines Vaters gerieten wir oft beim geringsten Anlass aneinander, was uns das tägliche Zusammensein sehr erschwerte. Ein wechselseitiges Unverständnis war zwischen uns entstanden, das offenbar durch nichts zu beheben war.
Doch in den letzten Wochen war mir Mama nähergekommen. Zunächst zwar misstrauisch, hatte sie doch schon bald meinen Wunsch, in dem Film mitzuspielen, verstanden und dann auch akzeptiert. Das zeigte sie mir nicht offen und wahrte im Meinungs- und Stimmengewirr der Familie vorsichtige Zurückhaltung, doch wurde sie immer mehr zu einer Verbündeten. Besonders an jenem Tag im Taxi entlang der Seine: "Es wird schon klappen, ich weiß, dass es klappen wird", wiederholte sie und drückte mir die Hand. Ich rezitierte im Stillen den Text von Les Anges du peche, den zu lernen sie mir geholfen hatte und den ich auswendig konnte. Die Angst zu ver sagen quälte mich, und zugleich jagte mir die unbekannte Welt, die sich jenseits der Tore der Studios vor mir auftat, Schrecken ein. Mir schnürte sich die Kehle zu, und ich hatte das schwindelerregende Gefühl, hier, auf dem Trottoir, zu sterben oder zumindest in Ohnmacht zu fallen.
"Na geh schon", murmelte Mama.
Ich geriet in Panik.
"Bleib bei mir, ich möchte da nicht allein hingehen..."
"Ich würde dich nur stören."
Ich wollte protestieren, doch sie kam mir zuvor.
"Ich warte im Cafe gegenüber auf dich."
Sie gab mir schnell einen Kuss und überquerte die Straße. Vor dem Cafe drehte sie sich noch einmal um und machte eine kleine Handbewegung. Eine kleine aufmunternde Geste voller Liebe. Sie war stehen geblieben und sah mir nach in der Erwartung, dass ich mich entschließen würde, das Gebäude zu betreten. Ich verstand in dem Moment, wenn auch vage, die Botschaft, die sie mir, ebenso vage, mitteilen wollte: "Es ist dein Leben, jetzt bist du dran." Zum ersten Mal seit langer Zeit schenkte sie mir Vertrauen. Ich machte ebenfalls eine kleine Handbewegung in ihre Richtung und ging dann durch den Flur des Gebäudes. Mama hatte den Anstoß zu einer neuen Kraft gegeben, die ich nicht in mir geahnt hatte.

In diesen weitläufigen Ort einzutreten, der sich Studio nannte, hieß so viel wie, sich an der Grenze zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten wiederzufinden. Einmal war da die dunkle, in der ich stand, und dann eine andere im Hintergrund, die so intensiv leuchtete, dass sie unwirklich schien. Eine Gruppe von Personen bewegte sich dort schweigend um Robert Bresson, den man von Weitem an seinem schönen weißen Haar erkannte. Man hatte mich gemeldet, jemand kam und führte mich zu ihm, ins Licht.
Er legte die Hände auf meine Schultern. Seine Augen, sein Mund, ja sein ganzes Wesen lächelten mir zu. Um uns gingen die Gespräche, die kurz unterbrochen worden waren, weiter, doch im Flüsterton. Von der Kraft seines Blicks und der leichten Berührung seiner Hände gebannt, stand ich reglos da. Es war sehr warm, und eine Stimme befahl:
"Dämpfen Sie das Licht!"
"Sie brauchen keine Angst zu haben", sagte Robert Bresson zu mir.
"Ich habe keine Angst."
So unglaublich es scheinen mag, es war so. Von dem Augenblick an, in dem ich das Dunkel verlassen hatte und ins Licht getreten und er mir entgegengekommen war, hatte ich keine Angst mehr.
"Können Sie Ihren Text?"
"Ja."
Er zeigte auf einen einsamen Stuhl vor einem weißen Hintergrund; ihm gegenüber standen etwa fünfzehn Personen um die Kamera herum, die mir - bei meiner Ankunft hatte ich sie gleich bemerkt - wie eine sehr schöne mächtige Skulptur vorkam.
"Setzen Sie sich. Ich werde 'Kamera ab!' rufen, Sie werden eine Klappe schlagen hören, ich werde 'bitte' sagen, und erst dann werden Sie Ihren Text vorsprechen. Genau wie bei mir zu Hause."
Er gab ein Zeichen, jemand trat aus dem Schatten heraus.
"Helfen Sie ihr, da Platz zu nehmen. Licht! Alle auf Position!"
Die grellen Scheinwerfer blendeten mich nicht, all die Blicke, die auf mich gerichtet waren, erschreckten mich nicht. Ich war mir bewusst, dass ich einen außergewöhnlichen Augenblick erlebte, und ich kostete jede Minute aus, denn jede Minute unterschied sich von der vorhergehenden. Nur der gegenwärtige Augenblick zählte.
"Ruhe, bitte!"
"Kamera ab!"
"Ansage!"
"Probeaufnahmen, Marie, die erste!"
"Kamera läuft."
"Bitte!"
"Ich kenne kein Rätsel, doch ich weiß ein Geheimnis. Lieber Staub auf den Möbeln oder auf der Seele?"
"Was soll die Frage?"
"Mutter Saint-Jean meint, etwas Staub auf einem Möbelstück schockiere Gott."
"Na und?"
"Ich behaupte, etwas Staub auf der Seele beleidigt ihn mehr."

Im Schatten sah ich die hohe Gestalt von Robert Bresson; er stand neben der Kamera. Mit seiner monotonen Stimme, die mir vertraut geworden war, antwortete er mir, korrigierte mich und ließ mich in einem anderen Rhythmus wieder von vorn anfangen. Meine Einsamkeit im Licht, die Konzentration und Reglosigkeit aller Anwesenden waren Elemente, die mir bisher unbekannt gewesen waren, die mich jedoch keineswegs erschreckten, sondern mir halfen. Mir genügte es, ihm zuzuhören und zu tun, worum er mich bat, ohne zu versuchen zu verstehen. Ich musste ihm vertrauen und akzeptieren, meinen eigenen Willen aufzugeben. Aus Gründen, die ich mir nie werde erklären können, sagte mir das vollkommen zu. Mehr noch, es bereitete mir großes Vergnügen, ihm zu gehorchen. Später sollte ich oft zu hören bekommen, dass das eine schwer erträgliche, zur Revolte reizende Übung war, unter der viele gelitten hatten. Bei mir war das niemals der Fall.
"Gut, danke."
Er drehte sich zu einer massiven Gestalt um, die hinter ihm stand. Sie wechselten leise einige Worte, und jemand fragte mich:
"Mademoiselle, könnten Sie bitte Ihren Kopf nach links drehen . . . nach rechts . . . Langsam . . . Noch langsamer . . . Senken Sie ihn jetzt, und heben Sie ihn dann wieder hoch, indem Sie meine Hand über der Kamera fixieren . . . Ganz sachte . . ."
Ich führte diese seltsame Gymnastik aus. Nach einer Minute trat ein etwas behäbiger Mann mit heller Haut und rotblondem Haar aus dem Schatten, näherte sich mir und brummte ein paar Anordnungen zur Beleuchtung. Daraufhin eilte man in alle Richtungen, und Robert Bresson wurde ungeduldig: "Etwas Ruhe, bitte!" Das ging den Mann neben mir, der einen seltsamen kleinen Gegenstand an meinem Gesicht entlanggleiten ließ, offenbar nichts an. "Das ist ein Belichtungsmesser", sagte er freundlich. Sein aufmerksamer Blick und sein Ernst machten ihn mir sofort sympathisch. Zudem ähnelte er einem Bären, einem Eisbären. Ich deutete ein Lächeln an, und er lächelte zurück. "Ich bin der Kameramann ... Mein Name ist Ghislain Cloquet", sagte er etwas mürrisch. Robert Bresson war von seinem Klappstuhl aufgestanden und an den Rand des erleuchteten Bereichs getreten. Er schien entnervt.
"Sind Sie bald fertig? Sie brauchen zu lange!"
"Ich arbeite, Monsieur."
Der, dessen Name ich nicht behalten hatte, der Eisbär, drehte ihm den Rücken zu, hob die Augen gen Himmel und zuckte mit den Schultern. Seine Antwort und seine lässige Haltung riefen im dunkelsten Teil des Sets so etwas wie Gelächter hervor - Gelächter, das rasch unterdrückt wurde, als Robert Bresson wütend herauszu? nden suchte, woher es kam. "Machen Sie schneller", sagte er in den Raum hinein, bevor er wieder seinen Platz einnahm. Ich konnte deutlich sehen, wie seine Finger nervös auf seiner Hose trommelten. "Und Ruhe!", fügte er etwas lauter hinzu. Mir schien, dass sich plötzlich Spannung ausgebreitet und alle Anwesenden erfasst hatte. Nur den Eisbären nicht, der noch immer meinen Stuhl umkreiste und mit seinem Belichtungsmesser herumfummelte. Er pfiff den Anfang eines Chansons von Adamo zwischen den Zähnen, das damals sehr in Mode war, Tombe la neige. Das war so unpassend, dass ich fast in Lachen ausgebrochen wäre.

Das schöne, gequälte Gesicht von Mama, als ich sie zusammengesunken auf der Bank des Cafes, in dem sie auf mich wartete, wiedertraf . . . Sie war keine Frau von achtundvierzig Jahren mehr, sondern ein Mädchen meines Alters, das von einem Anderswo, von einem anderen Leben träumte. Sie glich einem Spiegelbild - sie mir so ähnlich oder ich ihr. Zwei oder drei Sekunden lang war ich sicher, dass wir endlich etwas Wesentliches miteinander teilten.

Teil 2

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