Vorgeblättert

Leseprobe zu Amitav Ghosh: Der rauchblaue Fluss. Teil 2

12.11.2012.
Doch ich greife vor: Ich muss Dich ja erst noch zum Landungs-ghat von Fanqui-Town führen, das - ich schwöre es - "Jackass Point" heißt. Es unterscheidet sich jedoch in keiner Weise von unseren Landungs-ghats in ­Kalkutta: Es gibt keinen Pier, sondern nur eine Treppe, deren Stufen von der letzten Flut verschlammt sind (ja, meine liebste Pagglischwari, der Perlfluss steigt und fällt zweimal am Tag, wie unser Hugli!). Doch nicht einmal in Kalkutta habe ich je ein solches Durcheinander wie am Jackass Point erlebt: so viele Menschen, so viel Lärm, so viel Betrieb, so viele Kulis, die sich mit einem unglaublichen Tamtam darum balgen, Deine Koffer und Taschen zu tragen! Mir gelang es zum Glück, mit meinem Gepäck auf einen jungen Burschen mit einem gewinnenden Lächeln zuzusteuern, einen gewissen Ah Lei. (Warum so viele Ahs, könntest Du fragen, und nie irgendwelche Ohs? In den Straßen von Macao wirst Du auf zahllose junge Männer stoßen, die sich als "Ah Mann", "Ah Gan" und so weiter ausgeben, und solltest Du jemals fragen, was das "Ah!" bedeutet, wird man Dir sagen, dass diese Vokabel im Kantonesischen, genau wie im Englischen, einzig und allein dem Zweck dient, sich zu räuspern. Doch nur, weil die Inhaber von "Ah" für gewöhnlich jung und arm sind, darfst Du nicht davon ausgehen, dass sie keinen richtigen Namen haben. In ihrer anderen Inkarnation können sie durchaus "Feuerspeiender Drache" oder "Unermüdlicher Hengst" heißen - ob zu Recht oder nicht, wissen nur ihre Frauen und Freunde.)
Ah Lei war weder Drache noch Hengst - er war kaum halb so groß wie ich. Ich dachte, er würde unter meinem Gepäck zusammenbrechen, aber er lud sich im Handumdrehen alles auf den Rücken. "Was Platz woll?", fragt er mich, und ich sage: "Markwick's Hotel." Und so betrat ich im Gefolge meines jungen Atlas den offenen Bereich zwischen den Faktoreien und dem Flussufer, der das Herzstück von Fanqui-Town bildet. Die Engländer nennen ihn den "Platz", aber die Hindustanis haben einen besseren Namen dafür. Sie sprechen vom "Maidan", und genau das ist es auch, eine Kreuzung, ein Treffpunkt, eine Piazza, eine Promenade, eine Bühne für ein nie endendes Theaterstück. Es ist eine Szenerie von solch unglaublicher Betriebsamkeit und Belebtheit, dass ich nicht hoffen kann, sie jemals auf Leinwand zu bannen. Wohin man auch blickt, sieht man höchst merkwürdige, einzigartige Dinge: Ein vielstimmiges ohrenbetäubendes Gezirpe kommt auf Dich zu, und mittendrin ein Mann mit Tausenden von Walnussschalen, die von Schulterstangen herabhängen; bei näherem Hinsehen entdeckst Du, dass aus jeder der Nussschalen ein zierlicher Käfig geschnitzt wurde - für eine Grille! Der Mann trägt Tausende dieser Insekten, und alle zirpen sie aus Leibeskräften. Kaum bist Du ein paar Schritte gelaufen, kommt schon in flottem Trab ein neues Spektakel daher: Den Mittelpunkt bildet eine hochgestellte Persönlichkeit, ein Mandarin etwa oder ein Kaufmann der Cohong-Gilde in einer Sänfte. Die Männer, die sie an Schulterstangen tra­gen, werden "schweiflose Pferde" genannt, und ihre Gehilfen laufen trommelnd und rasselnd nebenher, um den Weg frei zu machen. Es ist alles so neu, dass man vor lauter Schauen beinahe von den schwanzlosen Hengsten über den Haufen gerannt wird …
Dabei ist die ganze Enklave winzig! Fanqui-Town in seiner Gesamtheit - der Maidan, die Straßen und alle dreizehn Faktoreien - würden in einer Ecke des Maidan von Kal­kutta Platz finden. Von einem Ende zum anderen ist die Enklave nur gut dreihundert Meter lang und halb so breit. In gewisser Weise ist Fanqui-Town wie ein Schiff auf See, mit Hunderten - nein Tausenden - von Männern, die auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt keinen zweiten so kleinen und doch so vielfältigen Ort, an dem Menschen aus aller Herren Länder sechs Monate im Jahr auf Tuchfühlung leben müssen. Ich sage Dir, Paglissima mia, würdest Du auf dem Maidan stehen und sehen, wie die Flaggen der Faktoreien vor den grauen Mauern der Zitadelle von Kanton flattern, dann wärst auch Du überwältigt: Es ist, als wäre man am Tor der letzten und größten Karawanserei der Welt angekommen.
Und doch ist einem andererseits alles so vertraut: Allenthal­ben sieht man Khidmatgars, Daftardars, Khansamas, Chuprassys, Peons, Durwans, Khalasis und Laskaren. Und das, liebste Paggli, ist eine der größten Überraschungen von Fanqui-Town: Sehr viele seiner Bewohner sind Inder! Sie kommen aus Sindh und Goa, Bombay und Malabar, Madras und den Coringa Hills, Kalkutta und Sylhet - doch diese Unterschiede spielen für die jungen Männer, die den Maidan bevölkern, keine Rolle. Sie haben ihre eigenen Namen für jede Spielart der fremden Teufel: Die Briten sind die "I-says", die Franzosen die "Merdes". Die Hindustanis werden "Achhas" genannt: Egal, ob ein Mann aus ­Karatschi oder Chittagong stammt, die jungen Burschen laufen ihm scharenweise mit ausgestreckten Händen nach und rufen: "Achha! Achha! Gib cumshaw!"
Anscheinend glauben sie, dass die Achhas alle aus demsel­ben Land kommen - ist das nicht eine amüsante Vorstellung? Es gibt sogar eine Faktorei, die "Achha Hong" genannt wird - natürlich hat sie keine eigene Flagge.


Nils Tage im Achha Hong begannen früh. Bahram war ein Mann mit festen Gewohnheiten, und seine Dienstboten und Angestellten mussten sich ihre Zeit nach seinem Willen und seinen Vorlieben einteilen. Für Nil bedeutete das, dass er aufstehen musste, wenn es noch dunkel war, denn er hatte dafür zu sorgen, dass Bahrams daftar seinen Wünschen entsprechend geputzt und aufgeräumt wurde. Der Seth duldete in dieser Hinsicht keine Nachlässigkeiten: Spätestens eine halbe Stunde bevor er ihn betrat, musste der Raum gefegt werden, damit der Staub sich setzen konnte. Nils ­Schreibtisch und sein Stuhl mussten millimetergenau an ihrem Platz stehen, in der Ecke an der gegenüberliegenden Wand. Dies alles zu bewerkstelligen war keine einfache Aufgabe, denn es bedeutete, dass viele andere geweckt und angetrieben werden mussten, von denen die meisten nicht die geringste Lust hatten, sich von einem so jungen und unerfahrenen Munshi wie Nil herumkommandieren zu lassen.
     Der daftar war ein überaus seltsamer Raum. Er sah aus, als sei er aus einem eisigen Teil Nordeuropas nach China geschafft worden. Die Decke war hoch und von Balken gestützt wie die einer Kapelle, und es gab sogar einen Kamin samt Kaminsims.
     Von Vico hatte Nil erfahren, wie der Seth in den Besitz dieses daftars gelangt war. In seiner ersten Zeit in Kanton hatte Bahram wie die meisten anderen parsischen Kaufleute in der holländischen Faktorei residiert. Man erzählte sich, in ferner Vergangenheit hätten die Parsen in Gujarat den Kaufleuten aus den Niederlanden viel geholfen, und diese hätten dann ihrerseits den Parsen Unterkunft gewährt, als sie anfingen, mit China Handel zu treiben. Zu Hause in Surat hatte auch Bahrams Großvater einmal einen Handelspartner aus Amsterdam gehabt, und aufgrund dieser Verbindung kam Bahram in die niederländische Faktorei. Doch dieser Hong sagte ihm nicht zu: Er war ein düsteres, würdevolles Gebäude, in dem einem schon ein lautes Lachen oder eine erhobene Stimme strafende Blicke oder scheltende Worte eintragen konnte. Außerdem musste Bahram als eines der jüngsten Mitglieder des Bombay-Kontingents fast immer mit dem muffigsten und dunkelsten Raum im ganzen Komplex vorliebnehmen. Lästig war ihm auch, dass so viele andere Parsen in diesem Hong lebten - darunter viele Ältere, die es für ihre Pflicht hielten, ein Auge auf ihn zu haben. Als er erfuhr, dass in einem anderen Gebäude eine schöne Wohnung frei geworden war, ging er unverzüglich, um sie sich anzusehen.
     Wie sich herausstellte, handelte es sich um den Fungtai Hong, eine "gemischte" Faktorei. Die Fassade des Fungtai war, verglichen mit seinen Nachbarn, bescheiden. Wie alle Faktoreien war auch diese kein einzelnes Gebäude, sondern bestand aus einer Reihe von Häusern, die durch Tore und überdachte Gänge miteinander verbunden, durch einen Hof jedoch voneinander getrennt waren. Manche der Häuser waren klein, andere dagegen so groß, dass sie in mehrere Wohnungen aufgeteilt werden konnten, jede mit Küche, Lagerraum, daftar, Kontor und Wohnräumen. Eines der Häuser auf der Rückseite zu beziehen war im Allgemeinen weniger erstrebenswert. Durch zahlreiche Korridore und Höfe vom Maidan getrennt, waren sie dunkler und schmuddeliger als die auf der Vorderseite; manche erinnerten an Mietshäuser, und ihre zellenartigen Räume wurden von den ärmsten Ausländern in Fanqui-Town bewohnt - kleinen Händlern und Maklern, Dienern und unbedeutenden Daftardars.
     Die begehrtesten Wohnungen in Fanqui-Town waren diejenigen, die auf den Maidan hinausgingen, doch wegen der schmalen Fassaden war ihre Zahl begrenzt. Sie galten als luxu­riös und waren entsprechend kostspielig, und dennoch kam es sehr selten vor, dass eine Wohnung mit Aussicht frei wurde. Als Bahram deshalb eine Suite mit Blick auf den Maidan angeboten wurde, hinterlegte er sofort eine Anzahlung. Seither mietete er die Suite bei jedem Aufenthalt in Fanqui-Town erneut und erweiterte sie jedes Mal um einige Räume, um sein wachsendes Personal unterbringen zu können.
     Später folgten viele Kaufleute aus Bombay Bahrams Beispiel und bezogen ebenfalls im Fungtai Quartier, und allmählich bürgerte sich für die Faktorei der Name "Achha Hong" ein. Doch das Verdienst, als erster Parse dort eingezogen zu sein, gebührte Bahram, und nach nunmehr über zwei Jahrzehnten belegte er gewissermaßen von Rechts wegen die besten Räume: Seine Niederlassung umfasste ein Lagerhaus, eine Küche, ein Kontor und mehrere kleine Schlafkammern für sein fünfzehnköpfiges Personal. Seine eigene Wohnung befand sich in der obersten Etage und bestand aus einem geräumigen, wenn auch düsteren Schlafzimmer, einem eiskalten Badezimmer und einem Speisezimmer, das nur bei besonderen Anlässen benutzt wurde. Und dann war da natürlich noch der daftar mit seiner schönen Aussicht auf den Maidan und den Fluss - im Lauf der Jahre war das längs unterteilte Fenster dieses Büros zu einer Sehenswürdigkeit der Ausländerenklave geworden, und mancher Alteingesessene hatte es schon einem Neuling gezeigt: "Sieh mal, da oben; da hat Barry Moddie seinen daftar."

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