Vorgeblättert

Leseprobe zu Adam Hochschild: Der große Krieg. Teil 3

15.08.2013.
Haig fiel es leicht, so hohe Verluste zu verlangen, weil er beschlossen hatte, sie nicht zu sehen. Er »hielt es für seine Pflicht, auf einen Besuch der Verbandsplätze zu verzichten«, schrieb sein Sohn, »weil solche Besuche ihm physische Übelkeit verursachten.«

Was hätte Haig wohl gesehen, wenn er ein solches Lazarett besucht hätte ? Ein englischer Militärarzt, der unweit des Somme-Schlachtfelds tätig war, beschrieb die Situation wie folgt:

Bahren blockierten den Fußboden im Keller, die Durchgänge, die zerbombten Bunker über der Erde und die Zugänge von außen. Häufig waren wir endlose Stunden ohne Pause tätig: an rohen Toilettentischen, an Männern, die auf Bahren lagen, an Männern, die hockten oder saßen … Ständig kamen Träger, die ihre Bahren stolpernd herbeischleppten, mühsam die Kellertreppe bewältigten, sich einen Weg herein oder hinaus und einen Platz zum Absetzen ihrer Lasten suchten … Manchmal erbrach sich ein Mann auf einer der Bahren plötzlich und heftig, spie seinen Mageninhalt über sich und seine Nachbarn. Ich habe Kavalleristen gesehen, denen flüssiger Kot aus den aufgeschnürten Beinen ihrer Breeches sickerte. Gelegentlich seufzte ein Mann auf seiner Bahre und starb. All das war Routine … Niemand sprach viel … wir sahen zu, dass wir mit unserer Arbeit vorankamen.

Dieses Feldlazarett befand sich im Keller eines Schlosses. Viele waren schlimmer: 30 Zentimeter tief im Schlamm, ohne fließend Wasser oder unter Beschuss. Denken Sie an die Erfahrungen eines Mannes, der an einem solchen Ort versorgt wurde, und multiplizieren Sie diese mit 21 Millionen - der Zahl der Männer, die im Krieg verwundet wurden.

In Haigs Tagebuch steht wenig über die Verwundeten, abgesehen von Bemerkungen wie derjenigen vom 25. Juli 1916, in der er berichtet, ein Arzt habe ihm mitgeteilt, dass »die Moral der Verwundeten vorbildlich sei … alle seien jetzt sehr zuversichtlich und voller Schneid. Wahrhaftig, die britische Rasse ist die beste der Welt !«

Täglich landeten auf Haigs Schreibtisch die unvermeidlich optimistischen Berichte seines Nachrichtenchefs Brigadegeneral John Charteris, von dem ein Offizierskamerad schrieb: »ein munterer, herzlicher Bursche und so optimistisch wie Candide, der aus jedem verdammten Vorstoß von knapp hundert Metern einen glorreichen Sieg zauberte - wie Kaninchen aus einem Hut.« Zu Beginn des Krieges lediglich Hauptmann, aber als Mitglied von Haigs »Hindubande« zu seinen Protegés zählend, hatte er genauso rasch Karriere gemacht wie sein Chef. Charteris' nachrichtendienstliche Einschätzungen waren, soweit es Dinge wie die Stationierung feindlicher Truppen betraf, durchaus professionell, aber wenn es um weniger konkrete Fragen wie die deutsche Moral und Kriegsstärke ging, versorgte er Haig regelmäßig mit denkbar schön gefärbten Lageberichten. Am 9. Juli etwa versicherte er Haig, dass die Deutschen keine Reserven mehr hätten, wenn die Briten ihre Offensive weitere sechs Wochen lang fortführten.

Bald wurde die Zahl der britischen Gefallenen so groß, dass sie in Massengräbern beerdigt wurden. Als in den Bahnhöfen Charing Cross und Waterloo die Kette der Lazarettzüge voll Verwunderter gar nicht mehr abriss und sich die Bahnsteige mit verzweifelten Ehefrauen und Müttern füllten, bekam Haig vom Kriegsministerium höfliche, aber dringliche Anfragen, warum so viele Männer starben - und für so wenig. Trotzdem ging das Blutbad weiter: An einem einzigen Tag Mitte September wurden 30 000 britische Soldaten getötet oder verwundet. »'Die da oben' fangen an, sich wegen der Situation ein wenig Sorgen zu machen«, notierte Haig auf eine Nachricht vom Chef des Imperialen Generalstabs, aber er erwiderte lediglich, dass »die Aufrechterhaltung eines stetigen Offensivdrucks schließlich zum vollständigen Zusammenbruch [der Deutschen] führen wird«. Niemand widersprach ihm: Der König besuchte Montreuil und brachte seine Zufriedenheit zum Ausdruck; auch Asquith kam, und Haig fand ihn »sehr liebenswürdig«, obwohl er missbilligend festhielt, wie viel Brandy der Premierminister trank. (Jahre später, nachdem Auszüge aus Haigs Tagebüchern veröffentlicht worden waren, forderte Winston Churchill einen Mittagsgast auf: »Trinken Sie noch ein Glas, alter Junge. Ich schreibe es auch nicht in mein Tagebuch!«)

Während die Kämpfe sich bis in die herbstlichen Regenfälle hinzogen, gingen kurz vor einem weiteren Angriff ein Gefreiter namens Arthur Surfleet und ein Freund an einem Friedhof in der Nähe ihres Feldlagers vorbei. Zu ihrer Überraschung sahen sie Männer, die damit beschäftigt waren, Gräber auszuheben - für Soldaten, die noch nicht gefallen waren. »Wenn das nicht gefühllos ist, weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Allein die Tatsache, dass wir uns abwandten und lediglich angeekelt zurückstapften in unsere schmutzigen Hütten, lässt mich vermuten, dass mit uns allen eine seltsame Veränderung vor sich gegangen sein muss, seit wir hier draußen sind.«

Es war in der Tat eine seltsame Veränderung, und Surfleet war nicht der Einzige, der sie spürte. Nach all dem Wirbel um den »Großen Vorstoß« wurden die schrecklichen Verluste an der Somme in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 für viele britische Soldaten zum Wendepunkt. Keine Wende zur Rebellion, aber zu einem hartnäckigen Zynismus, der Überzeugung, dass keine Schlacht noch etwas verändern könne. So marschierten die Männer zwar noch immer pflichtgemäß an die Front, aber sie sangen nicht mehr. Ein Soldat, der einen Kameraden eilig in den Schützengraben kommen sah, eine mit einem roten Band zusammengebundene Rolle Karten unter dem Arm, rief aus: »Lasst ihn um Gottes willen durch, er kommt mit dem Friedensvertrag.«

Der ungeheure Blutzoll veranlasste die Soldaten weniger, den Zweck des Kriegs in Frage zu stellen, als größere Solidarität mit denen zu empfinden, die ihn mit ihnen erduldeten. So spürte Surfleet beispielsweise ein Gefühl von »Korpsgeist oder Kameradschaft - ich weiß nicht, was es war«. Bei einem Blick »in die Gesichter der anderen wusste ich, dass ich einer von ihnen war«. Manchmal fand man Befriedigung darin, die anderen einzuweisen. Burgon Bickersteth, ein ehemaliger anglikanischer Laienmissionar, beschrieb, wie es war, eine Stellung in den Schützengräben an frisch eingetroffene Kameraden zu übergeben:

Ganz toll fühlt man sich bei solcher »Übergabe«. Man ist überlegen in puncto Wissen und Erfahrung, bestrebt, dem Neuankömmling nicht »zu viel Angst zu machen«, aber doch nicht abgeneigt, ihn mit der »blutigen« Realität des Ortes zu beeindrucken. »Hier musst du tagsüber auf die Scharfschützen Acht geben.« »An dem großen Drahtknäul da drüben kriechen die Boches nachts raus« - und so fort. Die Geschehnisse der letzten Tage, die eigentlich fürchterlich waren, erscheinen jetzt in rosigen Farben. »Aber sonst ist alles in Ordnung«, beeilt man sich hinzuzufügen, »eigentlich ganz gemütlich, kein Grund zur Beunruhigung.« »Klar«, sagt der Neuankömmling, etwas unsicher.

In einer solche Stimme hören wir die Kraft, die dafür sorgt, dass Soldaten selten meutern, und den höheren Zweck des Krieges - oder das Fehlen eines solchen - fast unerheblich macht für die Männer, die kämpfen. Die Möglichkeit menschlicher Brüderlichkeit, die die Sozialisten predigten, war zutiefst real, aber die Brüderlichkeit, wie sie die Männer jetzt empfanden, kam von ganz allein durch das gemeinsame Erlebnis der Feuertaufe zustande. Je qualvoller und schmerzlicher diese Erfahrung, desto stärker das Gefühl, zu einer Bruderschaft zu gehören, zu der kein Zivilist Zutritt hatte. Obwohl der Dichter Robert Graves den Krieg für »entsetzlichen Unsinn« hielt und seine Erinnerungen Good-bye to All That ein klassischer Bericht über den Prozess einer Ernüchterung ist, empfand er das Gespräch mit seinen Eltern als »fast unmöglich«, als er nach etwa zwei Kriegsjahren verwundet nach Hause kam. Schließlich kürzte Graves die Zeit ab, die er hätte in England bleiben können, um an die Front zurückzukehren - und war damit keineswegs der Einzige. »Sobald du einmal in ihren Armen gelegen hast«, schreibt Guy Chapman, ein anderer Autor und Westfront-Veteran, über die Schlacht, »kann dir keine andere Geliebte mehr genügen. Du magst sie verabscheuen, verfluchen, aber du kannst nicht von ihr lassen … Kein Wein gibt uns einen stärkeren Rausch, keine Droge heftigere Verzückungen … Selbst die, die sie am meisten hassen, sind ihrem Zauber verfallen. Sie erheben sich aus ihren Umarmungen, erschöpft, beschmutzt, vielleicht beschämt; aber sie gehören immer noch ihr.«

Was konnte das mörderische Patt beenden ? Als die Hoffnung auf einen Durchbruch schwand, sehnten sich die erschöpften Männer nach einer Superwaffe. Was immer sie sein mochte, sie musste unverwundbar für Kugeln sein und, vor allem, Stacheldraht überwinden können. Auch die zivile Öffentlichkeit hoffte auf ein solches kriegsentscheidendes Wunderwerk, und immer wieder machten verheißungsvolle Gerüchte die Runde. Mitte September 1916 brachten die Briten endlich ihre neue Geheimwaffe zum Einsatz: den Panzer. Paradoxerweise bedurfte es dieser technisch höchst komplexen Waffe, um die einfachste aller Waffen zu überwinden, gegen die so vieles vergeblich versucht worden war - von Enterhaken bis hin zu Torpedos auf Rädern. Als die neuen Panzer auf die verwüstete Landschaft an der Somme rumpelten, sah es so aus, als wäre das Problem des Stacheldrahts endlich gelöst.

Die ersten Modelle waren riesige Stahlrhomboide; ihre beiden Rautenketten liefen direkt um den ganzen Rumpf des Panzers. Die Seitentürme und manchmal auch die Vorder- und Rückseite waren mit Geschützen gespickt. Das ganze mit Panzerplatten bedeckte Gefährt wog 28 Tonnen und war fast 10 Meter lang. Man stelle sich den Schrecken der deutschen Soldaten vor, als sie sahen, wie sich dieses Ungetüm durchs Niemandsland auf sie zuwälzte und über den Stacheldraht rollte, als wäre er Gras. Wenn das Erscheinungsbild allein Kriege gewinnen könnte, hätten die Panzer auf der Stelle den Sieg errungen.

Im nächsten Weltkrieg betrachtete man schnelle Panzer als Ersatz für die Kavallerie. Doch diese erste Generation verhielt sich im Vergleich zu ihren Nachkommen wie ein Flusspferd zu einer Antilope: Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei kläglichen 3 Kilometern pro Stunde. Außerdem war bei einigen Modellen der Kühler im überfüllten Innenraum untergebracht, wodurch es rasch zu Temperaturen von über 50 Grad Celsius kommen konnte; manchmal wurden ganze Panzerbesatzungen von der Hitze und den Abgasen bewusstlos. Auch litt der Panzer unter dem zeittypischen Missverhältnis von Feuerkraft und Nachrichtentechnik: Er besaß kein Funkgerät, nur Brieftauben, die in der Hoffnung, sie würden zum Hauptquartier zurückfliegen, aus kleinen Öffnungen freigelassen werden konnten. Von den 49 Panzern, die in ihren ersten Einsatz rumpelten, fielen alle bis auf 18 vor oder während des Gefechts durch Defekte aus oder blieben in Granattrichtern stecken, sodass sie zu Zielscheiben für die Artillerie wurden. Der Überraschungseffekt des ersten Panzereinsatzes - der weit größer hätte sein können, wenn Haig gewartet hätte, bis mehr Panzer zur Verfügung standen - wurde vermasselt; so wie die Deutschen den Vorteil ihrer ersten Giftgasverwendung im Jahr zuvor nicht wirklich zu nutzen wussten.

Während die Panzerkonstrukteure sich beeilten, Verbesserungen vorzunehmen (und die Deutschen, panzerbrechende Waffen zu entwickeln), griff Haig wieder auf seine mittlerweile sattsam bekannte Taktik zurück: massives Geschützfeuer, gefolgt von Infanterieangriffen. Während der viereinhalbmonatigen Schlacht schossen beide Seiten 30 Millionen Granaten aufeinander ab. (Auch heute noch fördert jeder heftige Frühlingsregen das metallische Glänzen von Schrapnellen zutage; allein im Jahr 2005, fast 90 Jahre nach den Kämpfen, haben französische Kampfmittelräumdienste 50 Tonnen Granaten von den Schlachtfeldern an der Somme entfernt.) Jedenfalls trieben Haigs sture Befehle seine Männer immer wieder nach vorn. Am 7. Oktober 1916 versicherte er dem Imperialen Generalstab, dass sich »sehr viele, wenn nicht alle deutschen Kräfte in unserem Frontabschnitt von der Aufgabe, unsere Vorstöße aufzuhalten, überfordert fühlen«.

Doch der Verlauf der deutschen Frontlinie sprach eine andere Sprache: Als die Kämpfe in Herbstniederschlägen und Schlamm zum Stillstand kamen, hatten die Truppen unter britischem Kommando an der Somme-Front fast 500 000 Männer verloren, darunter mindestens 125 000 Gefallene. Die ebenfalls an der Schlacht beteiligten französischen Truppen hatten 200 000 Gefallene und Verwundete zu beklagen. Dabei hatten die Alliierten rund 18 Quadratkilometer erobert.

Wir würden es uns allerdings zu leicht machen, die Schlacht an der Somme nur als einen Beleg für die Verbohrtheit von Douglas Haig anzusehen. Die Deutschen trugen ihren Teil an mörderischer Sturheit zur Schlacht bei, vor allem durch den fatalen Befehl von Generalstabschef General Erich von Falkenhayn, keinen Fußbreit Boden verloren zu geben. Die Folge: Jedes Mal wenn es den Briten gelang, einen Flecken pulverisierte Erde zu erobern, versuchten die Deutschen, sie zurückzugewinnen, häufig indem sie wie ihre Gegner direkt in ein mörderisches Maschinengewehrfeuer marschierten. Nach einer Zählung gab es während dieser monatelangen Schlacht mehr als 300 solcher Gegenangriffe, und sie trugen - mehr als jeder andere Faktor - dazu bei, dass die Deutschen in der Schlacht an der Somme fast genauso viele Gefallene zu beklagen hatten wie die Alliierten. Von einer berichtete der Journalist Philip Gibbs: Die deutschen Soldaten »rückten Schulter an Schulter, wie ein massiver Balken, gegen unsere Männer vor. Es war der reine Selbstmord. Ich sah unsere Männer ihre Maschinengewehre betätigen, und wie die rechte Seite des lebendigen Balkens zersplitterte, und dann fiel die ganze Linie ins versengte Gras. Die nächste Angriffslinie folgte. Es waren große Männer, und sie zauderten nicht bei ihrem Vorrücken … Sie marschierten wie Männer, die wussten, dass sie in den Tod gingen.«

Selten hatte in diesem Krieg nur die eine Seite ein Monopol auf den Wahnsinn.

Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags

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