Vorgeblättert

Leseprobe zu Adam Hochschild: Der große Krieg. Teil 1

15.08.2013.
14. KAPITEL

Allmächtiger, wo ist der Rest der Jungs?


Die Vorbereitungen für die Somme-Offensive liefen bereits auf Hochtouren, als die erste Gruppe der nach Frankreich verschleppten Wehrdienstverweigerer mit anderen Soldaten auf den Exerzierplatz eines Militärcamps gebracht wurde und den Befehl erhielt: »Rechts um ! Marsch !« Die anderen Soldaten marschierten davon; die siebzehn blieben unbeweglich stehen. Das Militär zog ihnen fünf Tage vom Sold ab, was die Betroffenen amüsierte, weil sie schon aus Prinzip jeden Sold ablehnten. Doch sonst hatten sie wenig zu lachen. In regelmäßigen Abständen mussten sie sich Urteile anhören, in denen Soldaten wegen Fahnenflucht oder Befehlsverweigerung zum Tod verurteilt wurden. Natürlich wussten sie auch, dass in Irland gerade die Führer des Osteraufstands von militärischen Exekutionskommandos erschossen worden waren. Von Zeit zu Zeit konnten sie den Kanonendonner von der Front hören.

Sie weigerten sich, irgendwelche Arbeit zu verrichten. Zornige Feldwebel verhängten die sogenannte Feldstrafe Nr. 1, bei der der Delinquent zwei Stunden lang mit ausgebreiteten Armen in Kreuzigungshaltung an ein festes Objekt wie ein Lafettenrad oder einen Gefängniszaun gebunden wurde. »Wir wurden so fixiert, dass unser Gesicht dem Stacheldraht des inneren Zauns zugewandt war«, berichtete der Wehrdienstverweigerer Cornelius Barritt. »… ich befand mich so nahe an dem Zaun, dass ich, wenn ich den Kopf wenden wollte, sehr vorsichtig sein musste, damit mein Gesicht nicht von den Stacheln zerrissen wurde. Noch ungemütlicher wurde es, als es zu regnen anfing und der kalte Wind direkt über die Hügelkuppe strich.« Doch die Männer verloren nicht den Mut, denn wenn die Offiziere nicht hinsahen, verhielten sich die einfachen Soldaten unerwartet freundlich. Einer gab dem Verweigerer Alfred Evans sein Abendessen, und ein Feldwebel der Irish Guards kaufte von seinem eigenen Geld, als seine Vorgesetzten Feierabend gemacht hatten, für die ganze Gruppe der Verweigerer Kuchen, Obst und Schokolade in der Kantine des Stützpunktes. Offenbar besorgt, dass die Männer mit ihrem Pazifismus die Moral der Truppe untergraben könnten, entfernte die Armee sie aus dem Stützpunkt und verlegte sie in eine Fischhalle im Hafen von Boulogne, die in ein Militärgefängnis umgewandelt worden war. Dort wurden sie in Gruppenzellen eingeschlossen und bekamen pro Tag nur Wasser und vier Zwieback.

Von Zelle zu Zelle konnten sich die Männer nur durch Astlöcher in den Holzwänden verständigen. So gut es ging, hielt die gesamte Gruppe - zu der ein Lehrer, ein Uhrmacher, ein Studentenmissionar, mehrere Angestellte und ein Katholik aus einer Gewerkschafterfamilie gehörten - Debatten ab: über Marxismus, Tolstoi'schen Pazifismus und die Vorzüge der internationalen Kunstsprache Esperanto. Die Quäker unter ihnen hielten ein Quäkertreffen ab. Einige waren wegen ihres Glaubens hinter Gitter gebracht worden, andere vom Sozialismus, viele von beidem. So waren die Lieder, die sie sangen, teils Kirchenlieder

Baut auf ihn, solang das Leben währt
Baut auf ihn, bis diese Welt vergeht.

teils das bekannte Arbeiterlied The Red Flag:

Des Volkes Fahn' von tiefem Rot
Bedeckt die unseren im Tod,
Und ehe die noch steif und kalt
Ihr Herzensblut färbt jede Falt'.


»Ratten waren keine seltenen Besucher«, schrieb Barritt. »Sie saßen auf dem Rand eines Löscheimers und tranken von dem Wasser, und liefen einem während des Essens auch einmal am Rücken hoch … Wir waren jetzt zu elft in einer Zelle … Es konnten jeweils sechs auf einer Seite liegen, wobei sich unsere Füße fast berührten; aber es war ein Problem, einen Platz für den Eimer zu finden, der für 'sanitäre' Zwecke in der Zelle stand. Die Zellen maßen 3,58 × 3,43 Meter.«

Unfähig zu begreifen, dass so viele Menschen nur ihrem eigenen Gewissen gehorchten, gelangte das Militär zunächst zu der Auffassung, dass Barritt und drei andere Verweigerer die Rädelsführer und damit für die Gehorsamsverweigerung der größeren Gruppe verantwortlich seien. Sie kamen vor ein Kriegsgericht und wurden schuldig gesprochen. Keiner von ihnen wusste, ob die Nachrichten, die sie hinausgeschmuggelt hatten, nach England gelangt waren - oder dort irgendeine Wirkung hätten. Am 15. Juni 1916, nur zwei Wochen vor dem geplanten Beginn der Somme-Offensive, wurden die vier »Rädelsführer« zur Urteilsvollstreckung in ein nahegelegenes Heereslager gebracht.

»Ich blickte oft hinüber in Richtung der weißen Klippen von Dover«, erinnerte sich einer, »denn das war vielleicht unsere letzte Gelegenheit.« Sie wurden auf einen großen Exerzierplatz geführt, wo an drei Seiten einige hundert Soldaten als Zeugen versammelt waren. Ein Kommandeur befahl Ruhe. »Als ich vortrat, erhaschte ich einen Blick auf das Dokument, das dem Adjutanten ausgehändigt wurde. Ganz oben stand in großen roten Buchstaben und doppelt unterstrichen das Wort 'Tod'.«

Während jeder der Männer vortrat, verlas der Adjutant Namen, Kennziffer, Anklage und verkündete: »Verurteilt zum Tode durch Erschießen.« Pause. »Bestätigt durch General Sir Douglas Haig.« Längere Pause. »Und umgewandelt in zehn Jahre Zuchthaus.«

In den folgenden Tagen, während Züge und Lkw-Konvois um sie herum das letzte Material für die große Offensive an die Front schafften, teilte man insgesamt 34 britischen Wehrdienstverweigerern in Stützpunkten auf französischem Boden mit, dass sie zum Tode verurteilt und zu einer zehnjährigen Haftstrafe begnadigt worden seien; rund 15 andere bekamen mildere Strafen. Keiner von ihnen wusste von dem Besuch, den Bertrand Russell und andere Mitglieder der No-Conscription Fellowship dem Premierminister Asquith abgestattet hatten, aber dieser Besuch war entscheidend für die Rettung ihres Lebens, denn unmittelbar danach übermittelte der Premierminister einen Geheimbefehl an Haig, mit dem er anordnete, dass kein Verweigerer erschossen werden dürfe. Zwei Wochen nach den ersten Urteilssprüchen wurden die Wehrdienstverweigerer nach England zurückgebracht und an Zivilgefängnisse überstellt - wie es von da an mit allen Verweigerern geschah, die auch den Ersatzdienst ablehnten. Höhnische Zuschauer bewarfen sie mit Eiern und Tomaten, als sie in Southampton landeten. Doch die Männer hatten die Gewissheit, dass sie ihren Überzeugungen selbst unter Androhung des Todes treu geblieben waren. »Als ich dort stand und die Urteile für die anderen aus unserer Gruppe vernahm«, schrieb ein Verweigerer später über diesen Tag auf dem Exerzierplatz, »empfand ich Freude und Triumph ob des Privilegs … für eine Wahrheit einzustehen, die die Welt noch nicht begriffen hatte, die sie aber eines Tages als eines ihrer kostbarsten Vermächtnisse zu schätzen wüsste.«

Überall auf den Britischen Inseln warteten Millionen Menschen gespannt auf Nachrichten vom großen Angriff. »Das Krankenhaus wurde angewiesen, alle Rekonvaleszenten zu entlassen und uns auf den großen Ansturm von Verwundeten vorzubereiten«, schrieb die Schriftstellerin Vera Brittain, die damals als Hilfsschwester in London arbeitete. »Wir wussten, dass ein ungeheures Artilleriefeuer begonnen hatte, denn wir konnten die Vibrationen der Kanonen spüren … Stunde um Stunde, in dem Maße, wie die Rekonvaleszenten abreisten, verlängerten wir die Reihen der weißen Betten, die so unheilvoll waren in ihrer weißen, erwartungsvollen Leere.«

Haig wartete ungeduldig in seinem vorgeschobenen Kommandoposten im Château de Beauquesne, 15 Kilometer vom Schlachtfeld entfernt. Im Morgengrauen des 1. Juli blickte ein Beobachter des Royal Flying Corps auf eine Nebelbank hinab, die einen Teil der Front bedeckte: »Es waren kleine Wellen zu sehen … Ergebnis des schrecklichen Beschusses, der dort unten stattgefunden hatte. Das Ganze sah wie ein weiter See aus Nebel aus, in den man Tausende von Steinen geworfen hatte.« Dann, nach fünf Tagen ununterbrochenem Beschuss, hörte das britische Feuer plötzlich auf, und Schweigen legte sich über das Schlachtfeld.

Als um 7 Uhr 30 die Pfeifen ertönten, begannen die aufeinander folgenden Angriffswellen ihren Vormarsch, wie geplant: 100 Schritt pro Minute. Langsam rückte jeder Mann mit seinen fast 30 Kilogramm Gepäck vor - unter anderem 200 Schuss Munition, Handgranaten, Schaufel, Lebensmittel und Wasser für zwei Tage. Doch als diese Soldaten tatsächlich die Grabenleiter hinaufkletterten und über die Brustwehr stiegen, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Die vielfältigen Stacheldrahtverhaue vor den deutschen Schützengräben und die überall verteilten und gut befestigten Maschinengewehr-Stellungen waren weitgehend unversehrt.

Offiziere hatten es beim Blick durch ihre Scherenfernrohre schon befürchtet; auch einige deutsche Deserteure, die durch das Geschützfeuer gelangt waren, hatten Ähnliches berichtet. Doch jeder Angriffsplan entwickelt eine ungeheure Eigendynamik; selten ist ein Kommandeur bereit zu der Einsicht, dass eine Sache katastrophal misslingt. Man muss mutig sein, um eine Offensive abzubrechen, weil ein General, der sich dazu durchringt, Gefahr läuft, als Feigling zu gelten. Aber Haig war nicht der Mann für solche Mutproben. Die Pfeifen ertönten, die Männer schrien Hurra und Hauptmann Nevills Kompanie der East Surreys schoss ihre Fußbälle ab. Wider besseres Wissen hofften die Soldaten darauf, am Leben zu bleiben - und manchmal sogar auf noch mehr: Die Soldaten des 1. Newfoundland Regiments wussten, dass eine junge Dame aus der besten Gesellschaft daheim versprochen hatte, den ersten Mann des Regiments zu heiraten, dem ein Viktoriakreuz verliehen würde.

Wie sich herausstellte, war an dem tagelangen Geschützfeuer nichts beeindruckender als der dadurch verursachte Lärm. Mehr als ein Viertel der britischen Granaten waren Blindgänger, die sich in der Erde vergruben und, falls überhaupt, erst explodierten, wenn sie Jahrzehnte später von der Egge irgendeines unglücklichen französischen Bauern gestreift wurden. Zwei Drittel der abgefeuerten Geschosse waren Schrapnelle, die zur Zerstörung von Maschinengewehrstellungen aus Beton, Stahl oder Steinen von nahen Häusern denkbar ungeeignet waren. Auch gegen das undurchdringliche Dickicht der deutschen Stacheldrahtverhaue konnten die Schrapnelle, die kleine Stahlkugeln in alle Richtungen streuten, nur etwas ausrichten, wenn sie genau in der richtigen Höhe über dem Boden platzten. Doch ihre Zünder waren höchst unzuverlässig, daher explodierten sie oft erst, nachdem sie sich tief in die Erde gebohrt hatten, wo sie wenig zerstörten und so viel Metall im Boden versenkten, dass Soldaten, die versuchten, sich in der Dunkelheit oder im Pulverrauch zu orientieren, manchmal feststellen mussten, dass ihr Kompass nicht mehr funktionierte.

Die restlichen britischen Geschosse waren hochexplosive Granaten, die zwar eine deutsche Maschinengewehrstellung wirklich zerstören konnten, aber nur wenn sie punktgenau trafen. Bei Geschützen, die aus einer Entfernung von mehreren Kilometern abgeschossen wurden, war das fast unmöglich. Die vielen Fotografien von der Westfront, die zeigen, wie eine explodierende Granate eine Erdfontäne aufspritzen läßt, belegen in der Regel, dass das Geschoss sich in den schlammigen Boden vergraben hat und seine Energie sinnlos verschwendet, indem es den Dreck in die Luft schleudert. Die deutschen Maschinengewehrschützen harrten während des Geschützfeuers in ihren bis zu 12 Meter tiefen Unterständen aus, in denen sie Strom, Wasser und Belüftung hatten. Es war zwar für sie außerordentlich unangenehm, sich dort eine Woche lang, weitgehend ohne Schlaf und zeitweise mit angelegten Gasmasken aufzuhalten, endete aber selten tödlich. An einer der wenigen Stellen, wo britische Truppen am 1. Juli die deutsche Frontlinie erreichten, brannte in einem der Unterstände noch das elektrische Licht. Und als schließlich nach mehreren zehntausend britischen Toten ein größeres Stück des Frontgrabens erobert war, berichtete ein Soldat: »Ich bin nicht auf einen einzigen Unterstand gestoßen, dessen Dach durch unser Geschützfeuer zum Einsturz gebracht worden ist.«

Unerklärlicherweise explodierte eine unterirdische Mine unter den deutschen Linien 10 Minuten vor der Stunde X und signalisierte damit deutlich, dass der Angriff unmittelbar bevorstand. Wie eine letzte Warnung wurden die restlichen Minen um 7 Uhr 28 gezündet, gefolgt von einer zweiminütigen Wartezeit, damit die viele hundert Meter in die Luft geschleuderten Trümmer zur Erde zurückfallen konnten - dann erst kletterten die britischen Soldaten aus ihren Gräben, um vorzurücken. Diese zwei Minuten ließen den deutschen Maschinengewehrschützen genügend Zeit, um auf ihren Leitern und Treppen aus den Unterständen zu klettern und ihre Plätze in den Maschinengewehrstellungen einzunehmen, von denen es auf dem angegriffenen Frontabschnitt rund 1000 gab. Mit sehr unguten Gefühlen vernahmen die Briten während dieser zwei Minuten die Signalhörner, die die deutschen Schützen in ihre Stellungen riefen.

Noch bevor die Briten ihre Gräben verlassen konnten, hatten einige Maschinengewehre bereits zu feuern begonnen, sodass Ströme deutscher Kugeln Erde und Gras aufwirbelten, als sie über den oberen Rand der britischen Brustwehren strichen - ein erschreckender Hinweis darauf, dass das fünftägige Sperrfeuer der Artillerie vergebens war. An anderen Stellen warteten die deutschen Schützen noch ab, während die Briten vorrückten. Von einigen Ausnahmen abgesehen, war den Angriffseinheiten befohlen worden, zu gehen und nicht zu laufen. »Gemächlichen Schrittes kommen die ersten Wellen an. Glauben sie doch, in den vorderen Gräben alles tot zu finden«, schrieb ein deutscher Soldat, der sie kommen sah. »… Tödlicher Geschosshagel schlägt dem Angreifer entgegen … Rote Leuchtkugeln klettern in den blauen Himmel und sinken gleich blutigen Zähren in das weiße Trümmerfeld, aus Schluchten, Tälern und Hohlwegen des Hinterlandes heulen Granaten heran und schlagen in die Stürmer, reißen ganze Gruppen nieder.« Wie die Briten waren auch die Deutschen reich versehen mit Artilleriegeschossen; die lagen unter Tarnnetzen und waren in den Wochen vor dem Angriff nicht verwendet worden, um der britischen Luftwaffe ihre Lage nicht zu verraten. Jetzt schossen sie ihre tödlichen Schrapnelle ab, deren Auswirkung die Deutschen beobachten konnten: »Da wirft einer die Arme mit der charakteristischen Bewegung, die den Tod anzeigt, in die Luft. Dort stürzt einer im Sprung zusammen … Da … wälzt sich einer schwer getroffen am Boden … Hilferufe … Todesschreie … Röcheln, Wimmern.«

zu Teil 2