Vorgeblättert

Leseprobe Goran Vojnovic: Unter dem Feigenbaum - Teil 2

23.08.2018.
IV.

2

Den ersten Tag nach Vaters Verschwinden, den 5. März 1992, verbrachte Mutter am Telefon, während ich in meinem Zimmer die Guns hörte und in der Pause zwischen zwei Songs kurz auf ihr Telefongespräch und den Ton ihrer Stimme horchte. Ich glaubte nicht, dass meinem Vater etwas passiert war, ich war überzeugt, dass er irgendwo versackt war. Dort unten begann der Krieg, und die Besäufnisse hier oben nahmen neuen Schwung auf. Vaters Freunde ersäuften ihre Angst um das Leben der Eltern, Brüder und Schwestern, und es war nicht leicht, mit ihnen zu einer letzten Runde zu kommen. Deshalb schien mir Mutter zu übertreiben und hätte meiner Meinung nach, wenn sie sich schon solche Sorgen machte, anstatt Tante Maja und Onkel Dane, Irfans Frau Rufija, die Polizei, wieder Dane und Maja, die Notaufnahme, und dann noch Danilo, Roman und ich weiß nicht wen alles anzurufen, einfach ins Emona oder ins Borsalino gehen sollen, wo auf Vaters Nachhauseweg von der Arbeit die Zwischenzeit gemessen wurde.
     Am Abend, ein wenig um Mutter zu beruhigen, ein wenig um sie nicht zum hundertdreiundsechzigsten Mal wiederholen zu hören, dass Safet schon seit gestern Morgen nicht mehr nach Hause gekommen sei, wurde ich aktiv. Ich startete zu meiner ersten tour de bar im Leben, und ich absolvierte, eines nach dem anderen, alle Lokale in der Siedlung, jene, in die Papa regelmäßig einkehrte, und auch die anderen, die er nie betreten würde, selbst wenn man ihn stockbetrunken hineintrüge. Ich traf mehrere seiner Freunde, auch Irfan, aber keiner hatte ihn gesehen oder gehört. Irfan brachte die Kellnerin Jasmina so weit, mit ihm zusammen aus dem Borsalino Ramiz, Nihad und Branko anzurufen, sodass ich nach Mutter auch noch Irfan hören konnte, wie er ihren drei Frauen auf ebenso besorgte Weise erklärte, dass Safet seit gestern Morgen nicht nach Hause gekommen sei und sie ihm melden sollten, wenn sie irgendetwas erführen. Dann orderte Irfan eine neue viljamovka.
     Sag deiner Mutter, sie soll sich nicht aufregen. Er wird von allein zurückkommen, sobald er alles das weggetrunken hat, was er wegtrinken muss.
     Als ich wieder nach Hause kam, war Mutter am Telefon, versuchte aber nichts mehr zu erklären. Sie hörte nur zu und nickte abwesend, und als sie mich sah, sagte sie, sie müsse aufhören, und legte den Hörer auf, noch bevor die Stimme auf der anderen Seite hätte Einspruch erheben können.
     Komm, wir gehen. Zur Polizei.
     Auf der Polizei sagte man uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, unser Vater würde wahrscheinlich von allein zurückkommen, es sei zwar richtig, dass wir sein Verschwinden gemeldet hätten, aber dass es in Hinblick darauf, dass es in den vergangenen Tagen keinen Unfall gegeben habe, bei dem der Verunfallte der Beschreibung Safet Dizdars entsprochen hätte, keinen Grund gebe anzunehmen, dass ihm etwas zugestoßen sei.
     Vermutlich ist er nur irgendwo hängengeblieben, gnädige Frau, sagte ein älterer Polizist, der kein übertriebenes Interesse an unserer Geschichte zeigte, zu Mutter. Mutter wiederholte ihm dreimal, dass Vater gestern nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen sei und dass niemand wisse, wo er sei, bevor der Polizist sich das auch notierte.
     Diese Leute hängen gern irgendwo ab, sagte er. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, was er damit sagen wollte, aber Mutter hatte ihn nur zu gut verstanden. Sie griff sich einen Hefter vom Tisch und warf ihn mit aller Kraft nach ihm.
     Ihr Halunken, ihr verdorbenen, schrie sie. Ihr Halunken! Ihr könnt gern irgendwo abhängen! Ihr seid selbst alle irgendwo abgehängt! Zwei Polizisten packten sie und schleppten sie zur Ausgangstür, der dritte trat zu mir, fasste mich am Arm und hielt mich fest, bis Mutter draußen war.
     Ich rate Ihnen, sich express zu beruhigen und direkt nach Hause zu gehen, sagte einer der Polizisten zu Mutter, als wir draußen waren. Die beiden anderen standen neben ihm und hielten sich mit der einen Hand an ihrem Gürtel, mit der anderen an ihrer Mütze fest.
Als ich am zweiten Tag nach Vaters Verschwinden aufwachte, erschreckte mich Mutter zu Tode. Ich wollte zur Toilette, überzeugt, dass Mutter zur Arbeit gegangen und ich in der stillen Wohnung allein war. Als ich ihren regungslosen Körper erblickte, der mitten im Wohnzimmer stand, hob es mich vor Angst vom Boden. Und Mutter – nichts, als würde sie mich nicht sehen. Als stünde dort ihre Statue.
     Was tust du da?
     Nichts. Ich warte, dass mich Dane anruft. Er hat versprochen, heute herumzutelefonieren und mir Bescheid zu geben, wenn er etwas erfährt.
     Bist du nicht bei der Arbeit? Mutters Blick nahm mich wahr. Ich hatte die falschen Worte gesagt.
     Ist das für dich ein Jux? Bist du auch der Meinung, dass DIESE Leute irgendwo abhängen? Dass es normal ist, wenn er drei Tage nicht nach Hause kommt? Dass ich durchdrehe, weil ich mir Sorgen mache und die ganze Nacht nicht schlafe?
     Du hast nicht geschlafen?
     Ja wie denn ...
     Mutters Stimme war am Brechen. Sie war am Brechen. Sie schluchzte und zitterte. Sie schob mich weg, ging ins Bad und schloss sich ein. Bald wurde ihr Schluchzen vom fließenden Wasser übertönt. Als sie aus dem Bad herauskam, sah sie mich wieder nicht.
     Hast du heute keine Schule?
     Nachmittagsturnus.
     Sie nickte. Ich setzte mich neben sie auf die Couch, und dann saßen wir beide regungslos da und warteten auf Danes Anruf.
     Später an diesem Morgen klingelte das Telefon ein paar Mal. Dane teilte mit, dass er nichts wisse, Maja rief an, um Mutter zu trösten, dass alles in Ordnung komme, dass sie sich keine Sorgen machen solle, dann rief Dane wieder an und sagte, dass er bei seinem Kollegen im Gefängnis in der Povšetova angerufen habe und dass Safet dort mit Sicherheit nicht sei. Dann kam ein Anruf aus dem Klinikzentrum, und eine freundliche Dame sagte Mutter, dass sie gestern keinen Patienten aufgenommen hätten, auf den die Beschreibung ihres Mannes passe.
     Als ich aus der Schule kam, war Mutter nicht mehr zu Hause und das Telefon klingelte nicht mehr. Draußen wurde es dunkel, und ich sah vom Balkon hinunter auf den Platz vor unserer Wohnanlage und wartete, dass Papa und Mutter auftauchten. Jetzt dachte ich zum ersten Mal daran, dass Papa vielleicht nie mehr zurückkommen werde. Mit aller Kraft presste ich das Balkongitter und spannte die Gesichts- muskeln an. Ich versuchte meinen Körper zu verkrampfen, damit die Angst nicht aus mir ausfloss. Dann legte ich mich auf den Boden und machte zwanzig Liegestütze. Und noch zwanzig. Und noch zwanzig. Und noch dreizehn. Ich weinte nicht, und das schien mir gut zu sein.
Am dritten Tag nach Vaters Verschwinden gingen Mutter und ich erneut auf die Polizeiwache. Dort waren dieses Mal Dane und ein Polizist, der nicht in Uniform war und der uns sehr aufmerksam zuhörte. Er fragte Mutter Dinge, die andere sie nicht gefragt hatten.
     Haben Sie in der letzten Zeit, bevor er verschwunden ist, irgendwelche Veränderungen in seinem Verhalten bemerkt? War er einmal bei einem Arzt? Hatte sich mit jemandem gestritten? Auf der Arbeit? Oder mit einem Nachbarn? Haben Sie alle seine Verwandten kontaktiert? Entschuldigen Sie, ich weiß, dass das für Sie eine unangemessene Frage ist, aber haben Sie vielleicht daran gedacht, dass er möglicherweise nach Bosnien kämpfen gegangen ist? Aus Slowenien sind eine ganze Menge hinuntergegangen, in den Krieg. Da wird einfach ein Schalter umgelegt, und sie gehen. Auch so, über Nacht. Gewöhnlich verabschieden sie sich zwar, aber die Geschichten sind ganz unterschiedlich. Hat er jemanden da unten?
     Mutter schüttelte den Kopf.
     Er wird von allen gemocht, sagte sie. Er lacht. Er lacht ständig. Ihn erkennen die Leute an seinem Lachen. Alle kennen sein Lachen.
     Dane erklärte dem Polizisten, dass Safet in Bosnien nur entfernte Verwandte habe, dass seine Eltern und sein Bruder gestorben seien und seine Schwester in Australien lebe und er deshalb schon jahrelang nicht mehr in Bosnien gewesen sei. Mutter zupfte ihn währenddessen am Ärmel und zog ihn zum Ausgang. Dann ging Dane mit uns auf einen Kaffee. Maja kam später nach.
     Wenn er sich nicht abgefüllt hat, ist er eben da runter, mal einen erschießen. Und morgen werden sie sagen, dass er irgendwo rumgevögelt hat. Weißt du, wie demütigend das ist? Weißt du nicht? Sie machen nur ihre Arbeit, nicht wahr? Eine Arbeit, für die sie bezahlt werden.
     Mutter wurde immer lauter, und die Leute an den Nachbartischen drehten sich zu uns um. Maja legte kurz mal den Zeigefinger auf die Lippen, und Mutters linke Hand fuhr reflexartig zu ihr hin. Maja stöhnte vor Schmerz auf, und Mutter stand auf und marschierte vom Tisch. Ihr Stuhl flog zu Boden, ein paar Gläser auf dem Nachbartisch fielen um, aber sie kümmerte sich um niemanden mehr. Ich wollte ihr nach, aber Dane hielt mich zurück.
     Lass sie. Soll sie ein bisschen spazieren gehen.
     Dane kehrte anschließend in den Dienst zurück, und Maja nahm mich mit in die Kora-Bar auf eine Pizza. Sie sagte, ich müsse etwas essen. In der guten Stunde, die wir zusammensaßen, sprach meine Tante mit mir nur wenige Sätze, die noch am meisten jenen Fragen ähnelten, die der Polizist, der nicht in Uniform gewesen war, Mutter gestellt hatte. Dann fuhren wir zu einem Geschäft, wo Maja zwei Tüten mit Sachen zum Essen einkaufte, sie mir in die Hände drückte und mich nach Haus schickte.
     Räum die Sachen in den Kühlschrank waren die einzigen Worte, die Mutter an diesem Abend von sich gab.
Am vierten Tag nach Vaters Verschwinden machte meine Mutter einen auf Detektivin, und wir gingen zu Vaters Arbeit, nach Kolinsko. Mutter rauschte am Pförtner vorbei, und ich lief fast hinter ihr her durch die langen Gänge bis zu seinem Büro. Die Leute drehten sich um, sie wollten ihr etwas sagen, aber sie war zu schnell, und so konnten sie nur dastehen und uns nachsehen.
     An Vaters Schreibtisch saß seine dicke Frau mit dicken Brillengläsern, die, als Mutter das Büro betrat, unverzüglich aufstand und ihr Platz machte. Alle im Büro verstummten, das Telefon klingelte, aber niemand nahm ab. Ich glaube, es läutete die ganze Zeit, die wir dort waren.
     Mutter warf die Sachen auf Vaters Schreibtisch durcheinander, öffnete und schloss Schubladen, blätterte lange in den Papieren, die sie im Schrank hinter dem Schreibtisch fand, verhörte Vaters Mitarbeiter, die ihr bereitwillig antworteten, ihr Kaffee anboten, Mitarbeiter aus anderen Büros anriefen, ihr anboten, sich zu setzen, ihr von Papas letzten Tagen im Dienst erzählten, und eine Dame in einem grünlichen Kostüm sagte, dass ihnen Papa an jenem Nachmittag, an dem sie ihn zuletzt gesehen hatten, etwas stiller vorgekommen sei, fügte aber sofort hinzu, das sei so ein Tag gewesen. Ein Mann, der als Einziger einen Anzug trug und wahrscheinlich Papas Chef war, sagte, man habe sie von der Polizei angerufen und er habe mit allen gesprochen, aber dass niemand etwas wisse und dass sie schon den Schreibtisch durchgesehen, aber nichts gefunden hätten. Mutter nickte und schüttete die Sachen aus den Schubladen auf den Tisch und sah sich jedes Blatt einzeln an, zwei Frauen halfen ihr, den Schrank zu leeren, und dann sahen alle zusammen, an die fünf oder sechs Leute, auch den ganzen Bürobedarf durch, öffneten sogar die Schachteln für Büroklammern, leere Kuverts und Hefter.
     In dem Büro mit den vier Schreibtischen hatten sich mit der Zeit schon mehr als zwanzig Leute versammelt, und jeder von ihnen wollte sich nützlich machen, jeder wollte helfen. Frau Zdenka, die von allen am längsten mit Papa zusammengearbeitet hatte und die ich auch am besten kannte, drückte mich mächtig an sich, dass ich schon glaubte, sie würde mich nie mehr auslassen.
     Dann begannen die um Papas Schreibtisch Versammelten auseinanderzurücken, und ich sah Mutter, wie sie sich den Weg durch die Menge bahnte.
     Gehen wir, sagte sie. Als ich mich auf dem Gang nach Vaters Büro umdrehte, sah ich einen Trauerzug hinter uns herkommen, wie auf einer Beerdigung. Ich dachte bei mir, diese Leute wissen etwas, wollen es uns aber nicht sagen. An die zwanzig Menschen bewegten sich im Schneckentempo den Gang hinunter, als wären sie aneinandergebunden, in gleicher Unglückshaltung, mit gleichem Trauerblick, die Beine auf gleiche Weise über den Boden schleppend und auf gleiche Weise schweigend.
     Dann gingen wir noch auf die Unfallklinik, und Mutter zeigte bei den Rettungsfahrern Papas Bild herum, bis uns ein glatzköpfiger Arzt bat, uns vom Acker zu machen, da er sonst die Polizei rufen werde.
Am fünften Tag nach Vaters Verschwinden konnte Mutter gegen Morgen endlich schlafen. Ich stellte einen Stuhl ins Vorzimmer, schloss die Tür zum Wohnzimmer, setzte mich neben das Telefon und hob sofort ab, wenn es läutete, damit Mutter nicht aufwachte. Die Leute riefen jetzt an und fragten, wie es uns gehe oder ob wir etwas bräuchten. Mutters Kolleginnen riefen an und wollten wissen, ob es wahr sei, dass man Papa noch immer nicht gefunden habe, sie sagten, das sei schrecklich, und hinterließen Grüße für Mutter, Mütter meiner Mitschüler riefen an, es riefen Leute an, die ich nicht kannte, und stellten sich als Mutters und Papas Freunde vor, und Nachbarin Minka kam gleich direkt an die Tür, um zu fragen, wie es Mutter gehe, und drückte mir ein Backblech mit Pita in die Hände.
     Weshalb hast du mich nicht geweckt? Bist du verrückt? Weißt du, wie spät es ist, sagte Mutter, als sie an mir vorüber ins Bad ging.
     Wie hast du mich schlafen lassen können? Blödmann, Jadran. Du bist doch kein Kind mehr, sagte sie, als sie aus dem Bad kam.
     Was ist das?, fragte sie, als sie auf dem Boden zu meinen Füßen Minkas Backblech mit der Pita sah.
     Das hat Minka gebracht.
     Was? Hierher? Sie hat geklingelt und Pita gebracht? Die Leute sind verrückt geworden. Und wie konntest du sie einfach auf den Boden stellen? Ich wäre fast reingetreten!
     Jožica und Dunja haben angerufen. Sie grüßen dich ...
     Was kümmert mich das? Was hilft mir das? Blödsinn, alle interessiert, wie es mir geht. Wie wird es mir schon gehen? Keiner weiß was. Keiner hat was gesehen. Keiner! Er ist einfach verschwunden, und keiner hat ihn gesehen. Blöde Ignoranten. Dane kennt immer alle, und alle sind seine Kollegen, aber jetzt auf einmal kann er nichts tun. Denen ist das scheißegal. Brich mir mal ein Stück von der Pita ab, bitte. Danke. Warum bist du nicht in der Schule? Ja, ich weiß, Nachmittagsturnus. Wann gehst du aus dem Haus?
     Um zwölf.
     Um zwölf.
     Borut hat gesagt, dass du nicht zur Arbeit gehen musst, dass du zu Hause bleiben kannst, solange du willst, dass Neža dich krankgemeldet hat.
     Alle benehmen sich so, als wäre er schon gestorben. Idioten, nichts als schadenfroh. Keiner sucht ihn. Keiner sucht ihn. Keiner. Keiner sucht ihn.
     An diesem Tag kam ich nicht bis zur Schule. Hinter unserem Block bog ich rechts ab und ging zuerst zum Emona und zum Borsalino und klapperte anschließend alle Lokale in der Siedlung ab. Ich betrat Räume voll abgestandener Luft und kontrollierte verqualmte Ecken, und die Kellner fragten mich, wen ich suche, aber ich gab keine Antwort, sondern drehte mich nur um und ging weiter, zum nächsten verrauchten Raum, bis es keinen mehr gab. Als ich an den Geschäften vorüberkam, sah ich durch die Schaufenster hinein, ob ich irgendwo zufällig Vaters Gesicht sähe, und auf der Straße sah ich die Menschen an, die vorübergingen, alle starrte ich an, und von weitem gab es ein paar Männer, die ihm glichen, und ich wartete, dass sie näher kamen, oder folgte ihnen, wenn sie vor mir hergingen, bis ich nahe genug war und sah, dass sie graue Haare hatten oder einen Bart trugen. Dann sah ich in der Ferne jemanden, der so ging, wie Papa geht. Er war weit weg und ging zu einem Auto, ich fürchtete, er könnte einsteigen und losfahren, bevor ich ihn mir angesehen hätte, und lief zu ihm, gut hundert Meter lief ich, und als ich ankam, stand er noch immer an dem Auto und nahm etwas aus dem Kofferraum. Er sah Safet Dizdar überhaupt nicht ähnlich, er war älter und hatte ein rundes Gesicht, Safet Dizdar hingegen hat ein längliches, deshalb lief ich weiter und lief noch eine ganze Zeit, ohne mich umzudrehen. Dann ging ich am Fluss entlang und schaute auf diese und auf die andere Seite des Flusses, ich schaute, ob am Ufer eine Leiche angeschwemmt worden war, wie in den Filmen, ich sah meinen Vater, wie er von der Brücke fällt und wie ihn der Fluss davonträgt, ich ging immer schneller, um so rasch wie möglich das ganze Flussufer abzusuchen, und dann lief ich auch schon wieder, und mir schien, als sähe ich eine Leiche, aber es war nur ein schwarzer Plastiksack, und ich lief weiter, bis zur Stadt, und ich lief unter der Brücke durch und noch weiter Richtung Polje, und dann hielt ich an und sah, wie das Wasser Vaters Leiche weiter Richtung Zalog trägt und noch weiter, ich konnte nicht mehr laufen, am Fluss gab es keinen Weg mehr, und es wurde auch schon dunkel.
Am sechsten Tag nach Vaters Verschwinden rief Irfan an. Ohne sich vorzustellen, sagte er, ich solle ihm Mutter geben, und sie nahm mir den Hörer aus der Hand, hielt ihn ans Ohr und horchte und gab ihn mir dann zurück und ich legte ihn auf, und dann sagte sie Safet ist in Bosnien und holte tief Luft und schloss die Augen und lehnte sich dann an mich, und so standen wir mitten im Vorzimmer, und ich wagte nicht, mich zu rühren und sah durch das weit geöffnete Fenster, Mutter war es heiß geworden und hatte alles weit aufgemacht, und draußen war es ungewöhnlich warm und die Luft stand, in Ljubljana gab es keinen Wind, da gibt es nie Wind, genauso wie in unserer Wohnung, die ganz nach Osten geht und in der es nie einen Durchzug gibt.
     In Bosnien ist er, nur das weiß ich, sagte Mutter, als sie die Augen öffnete. Sie nahm das Telefon mit beiden Händen und hielt den Hörer ans Ohr. Sie begann die Wählscheibe zu drehen.
     Ich muss Maja anrufen, und die Polizei, und auf der Arbeit.
     Sie legte den Hörer auf und stellte das Telefon zurück aufs Bord. Wieder lehnte sie sich an mich.
     Nur einmal sind wir zusammen in Bosnien gewesen, dachte ich, in Bihać. Ich konnte mich nicht erinnern, weshalb. Ich war noch klein, aber ich weiß, dass wir auf einer Wiese hinter einem Haus gesessen haben, am Wasser. Mir war langweilig, weil es keine anderen Kinder gab, nur ältere Leute, die am Tisch saßen und Kaffee tranken. Ich wollte mit dem Ball spielen, aber sie ließen mich nicht, weil die Wiese abschüssig war und der Ball in den Fluss kullern konnte. So sagten sie zu mir, und ich sagte zu ihnen, dass ich aufpassen würde, aber keiner brachte Geduld für mich auf, sondern sie nahmen mir den Ball weg und sagten, ich solle mich hinsetzen. Dann saß ich mit ihnen am Tisch und wollte weder essen noch trinken, aber niemand kümmerte sich um mich. Dann kamen und gingen unbekannte Menschen, und Vater begrüßte sie, ernst, viel ernster als gewöhnlich. Vielleicht war jemand gestorben, aber ich konnte mich nicht erinnern, wer. In der Erinnerung sah ich nur mich selbst, wie ich beleidigt neben meinem Vater sitze, der die ganze Zeit aufsteht und fremde Menschen umarmt und küsst.
     Das war für mich Bosnien, und als Mutter sagte, dass Safet in Bosnien sei, war er wieder dort, an dem Tisch auf der abschüssigen Wiese, wieder benahm er sich so, als gäbe es mich nicht neben ihm, wieder war er ein anderer, ernster Mensch, und ich zupfte ihn am Ärmel und sagte, ich wolle nach Hause. So mochte ich ihn nicht, diesen Vater in Bosnien mochte ich nicht, einen Vater, der anders spricht, der anders sitzt, der Kaffee trinkt, den er zu Hause nie trinkt. Mein Vater war der einzige Bosnier, der keinen Kaffee trank, aber in Bosnien trank er ihn, dort stellte man ihn vor ihn hin und schenkte ihm ein, und er sagte nichts, sondern schlürfte nur laut aus dem kleinen Schälchen, das sich zwischen seinen großen Fingern verlor.
     Ruf Maja an und sag ihr, dass Safet wohlauf ist, dass alles in Ordnung ist, dass er in Bosnien ist ... Nein, lass, ich mache das, etwas später ... oder du ... Nein, nicht nötig, bring mir nur ein Glas Wasser, ich werde anrufen ... gleich jetzt.

Mit freundlicher Genehmigung des Folio Verlags


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