Vorgeblättert

Jürgen Neffe: Mehr als wir sind. Teil 2

27.08.2014.
Mein Blick wandert über das grob gehauene Rund im stumpfen Fels. Ich sehe die Schatten sprechen. Wörter aus abstrakten Dimensionen, nur wirklich, solange sie vorhanden sind. Kein Halten, kein Verbleiben. Wie Schwimmen auf dem Trockenen. Die Wände der Höhle schlucken Schall und Widerhall. Konzert für zwölf Stimmen und eine Stille. Die Hände an den Hebeln der Regie treiben ihr Spiel mit Coppki und seiner Geschichte.
     Er bemerkt, wie er sich häutet, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Das Bei-sich-Sein der Immerwachen, die mit ihm sind, Vertretern seiner Sonderart, mildert die Wehen. Zum ersten Mal hat er, jenseits des Ausgabeschalters im Kellerlager, das bestimmte Gefühl, er werde gebraucht.
     Womöglich verstehen sie mich besser, als ich es wahrhaben will. Ich registriere feine Schwingungen im innersten Orbit um den Kern meines Selbst. Etwas Ansteckendes dringt hinein und erfüllt mich bis in die letzten Kapillaren. Ich könnte es das »Glück der Gruppe« nennen, hätte Coppki ein Konzept für das Gefühl. Gleichwohl, es öffnet sein Herz an der vorgesehenen Stelle. Das Fremdeln entweicht, die Scheu aus Scham verflüchtigt sich. Er weiß sich an gekommen und aufgenommen unter Gefährten in der kühlen Erde eines überbevölkerten Subkontinents.
     Jenny findet als Erste ihre Sprache wieder.
     »Entschuldige bitte, das war jetzt ein bisschen heftig. Das gemeinsame Bekenntnis gehört zu unseren täglichen Übungen.«
     »Wollt ihr euch nicht erst einmal vorstellen.«
     Mein neuer Ton fordert ihn heraus.
     »Wir verstehen uns zuvorderst als Wir, dann erst als viele Ichs.« - »Wir haben gemeinsam ein Wunder erlebt.« - »Wir sind andere Menschen geworden.« - »Wo vorher Skepsis war, herrscht Lebensfreude.« - »Wir entwerfen ein Bild der Welt von morgen, in der sich alle Menschen zu Hause fühlen können.« - »Wir haben den Optimismus entdeckt.« - »Er folgt den Regeln prophetischer Selbsterfüllung.«
     »Woher seid ihr?«
     Jeder stellt seinen Nachbarn vor, wieder geht es reihum. »Wir stammen aus allen Winkeln der Erde.« (Dieses eine Mal erlaube ich mir, Namen von Ländern zu nennen, aber auf alles Äußere wie die Beschreibung der Bekleidung zu verzichten.)
     »Das ist João (ein milchkaffeehäutiger Brasilianer). Er verkörpert die Überwindung der Rassenschranken.« - »Joejoe (als Amerikanerin in Chile aufgewachsen) entwirft geschlossene Stoffkreisläufe.« - »Numbutu (der lange Ugander) plant eine gesunde Wirtschaft ohne Wachstum.« - »Shadiye (saudi-arabisches Herz, europäische Seele) predigt den Sieg der dialektischen Vernunft.« - »Ihre (hier heimische, indische) Mitbewohnerin Rajiji hat das Selbstbestimmungsrecht der Frauen im Blick.« - »Raissa (die seidenblonde Russin) träumt vom Ende der selbst verschuldeten Unmündigkeit im Jahrhundert der Psychologie.« - »Jennifer (aus Deutschland) von freier Beweglichkeit in einer Welt ohne Grenzen.« - »Kato (von der japanischen Insel Okinawa) besitzt einen Plan zur Entwaffnung der Welt.« - »Sein Freund Vaúvaú (von der Südseeinsel Tuvalu) kümmert sich um die Entgiftung der Erde.« - »Aris (aus Israel) will die Gärten der Welt verbinden.« - »Für eine Gesellschaft ohne Klassenschranken steht Jeanette (aus dem australischen Kernland).« - »Chan-chan-Charlie (aus dem großen China) entwirft Modelle für die Mehrheitsfindung in basisdemokratischen Systemen.«
     Ich habe mich oft gefragt, was es mit dem Bad in der Menge auf sich hat. Coppki erlebt es am eigenen Leib. Gedankenexperimente kennt er bislang nur als selig einsame Erlebnisse. Nun geht ihre Saat in der Lebenspraxis auf. Neben seiner Ideenwelt hat sich ein Gemeinwesen zusammengefunden, in dem die Entwicklungslinien nicht wie in der Evolution üblich auseinandertreiben, sondern zum umfassenden Ganzen zusammenwachsen. Sie nennen es Welt von morgen. Ihm ist, als hätte das Wasser aus seiner Hand verborgene Energien aus seinem Inneren auf Jenny und ihre Freunde übertragen. Oder als wäre es durch eine Fügung genau in die Hände derer geraten, die im gleichen Denkraum zu Hause sind wie er.
     Als Forscher könnte ich sagen, Coppki habe ein Modellsystem entdeckt, mit dem sich seine Thesen testen lassen. Tatsächlich hat er es selbst begründet, wenn auch eher nach dem Gesetz der Unbeabsichtigten Folgen. Bislang hat er verwandeltes Wasser nie als Medium verstanden, das Menschen gleicher Wellenlänge verbindet. Schon gar nicht als Kitt einer eingeschworenen Gemeinschaft, die ihn zu ihresgleichen zählen und mit ihren jugendlichen Träumereien verzaubern könnte. Er lässt sich vereinnahmen und ergreift seine Chance, als ihn Aris (»Gärten aller Länder, vereinigt euch«) in der Einsiedlerhöhle in den Mittelpunkt rückt.
     »Es wäre uns eine Ehre, wenn du uns heute dein Mittel persönlich verabreichst.«
     Der Lockenschopf zieht aus seiner Hosentasche ein daumenkleines Gefäß aus braunem Lichtschutzglas mit Saugballverschluss hervor, wie sie damals zum Verabreichen von Tropfen Verwendung fanden.
     »Du wirst uns hoffentlich nicht enttäuschen.« - »Wir freuen uns schon so lange darauf.«
     »Wie macht ihr es sonst? Ich reihe mich gerne ein.«
     »Das geht leider nicht.« - »Wir glauben an die gute Zahl.« - »Wie die Zwölf.« - »Mit dir als Dreizehntem stünde die Runde unter schlechtem Omen.« - »Außerdem sind wir für die Gleichverteilung von weiblich und männlich.« - »Aber wenn du willst, tritt einer von den Jungs zurück, und du nimmst seinen Platz ein.«
     »Auf gar keinen Fall. Ich bin nur euer Gast.«
     Wer wüsste denn besser als ich, dass der Vorgang so oder so ohne Folgen bliebe. Sie lehnen die Idee eines Leitwolfs ab. Sie wollen nur das Bild vollenden, an dessen Anfang Jennys Geständnis und die erste Nacht des Teilens stand. Ich aber sehe durch Coppkis Augen den Auslöser einer Explosion und möchte den Augenblick verstehen, in dem die Welt ihre neue Form angenommen hat. Der Wunsch, zu wissen, wie wir wurden, was wir sind, steht am Anfang aller historischer Neugier.
     Lange habe ich geglaubt, jeder Umbruch gehe ursprünglich von einem Elementarteilchen in irgendeiner Gehirnzelle aus, so wie letztendlich ein einziger Mensch unter den mehr als hundert Milliarden, die je gelebt haben, den Ausschlag gegeben hat für Windmühlen, Impfstoffe oder Dadaismus. An einem Punkt im Universum, der sich molekülgenau benennen ließe, an irgendeinem Synapsenspalt in einem Basalganglion, zum Beispiel im frontalen Cortex eines Laientheoretikers namens Coppki, breche etwas ab, kippe um oder schaukle sich auf, das auf einem Bündel von Ursachen beruht, einen kritischen Punkt überwindet und die Spezies in eine neue Richtung schickt.
     Seit ich mir den Gedanken erlaube, die Ewigkeit habe keine Dauer, und der Zeitpfeil zeige in mehr als eine Richtung, seit ich das Jetzt nicht nur aus dem Entstehen sehe, was es war, sondern auch aus dem, was es wird, verstehe ich jeden Fortschritt der Welt als Gemeinschaftswerk, in dem sich Ahnungen und Erwartungen anhand ihrer Ziele verwirklichen. Außer dass mir das selbst unheimlich vorkommt, ist daran nichts Unheimliches. Jeder Kristall blüht von einem Kern in seine unnachahmliche Form und Schönheit. Wenn überhaupt so etwas wie Zufall im Spiel ist, dann allenfalls, wen es trifft, aber nicht, was es ist, das trifft.
     Coppki hat längst mit sich ausgemacht, womit ich noch lange hadere. Er ist weder auserwählt noch verflucht, sondern gerade an der Reihe. Eine Sekunde Verzögerung im Weltverlauf, und eine andere Person am anderen Ort stünde nun vor der gleichen Aufgabe. Hier knien zwölf junge Menschen im Kreis auf ihren Kissen und halten ihm mit geschlossenen Augen ihre ausgestreckten Zungen hin wie Vögelchen, die aufgereiht am Rand ihres Nestes die Fütterung erwarten.
     Im Geiste der Geschichtsschreibung ist es ohne Bedeutung, ob es so war. Dass es so gewesen sein könnte, ist das Einzige, was zählt. Erst als ich meinen Widerwillen überwinde, mich erhebe und den Kreis abschreite, enthüllt sich mir die neue Dimension. Das hier ist nur ein Anfang, der bald vergessen sein wird. Das erste Glied einer sich verzweigenden Kette, die sich, zum Netz verknüpft, um den Erdball spannen wird. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Wässerchen vor den nächsten trete, sehe ich, wie im Lichtschein der Öllampe unsere Schatten verschmelzen. Am Ende der Runde fehle als Letzter nur noch ich selbst.
     »Nun setz dich bitte wieder auf dein Kissen und schließe die Augen.« Jenny führt das Wort wie aus verwandtschaftlicher Nähe. Dann das Defilee. Dabei summen sie den ersten Buchstaben des Sanskrit-Alphabets im Kammerton A.
     Die Erste nimmt mir das Fläschchen aus der Hand, hält mir die Pipette über die Zunge, aber nichts passiert. Kein Tropfen. Nur Om wie in Omega. Der Nächste tut es ihr gleich. Ich höre, wie sie aufstehen und auf ihre Kissen zurücksinken. Wieder kein Wasser. Ich öffne die Augen. Sofort senke ich die Lider wieder. Alle anderen haben ihre geschlossen. Gleiten heran, halten das Kapillarröhrchen, geben das Glasgefäß weiter und entschweben.
     Vielleicht haben Spritzer meine Zunge erreicht, Mikrotröpfchen allenfalls, vielleicht auch nicht. Kein Gefühl von Flüssigem jedenfalls. Dennoch empfinde ich die gleiche erquickende Wirkung wie durch den Schluck, den ich mir seit Monaten jeden Abend gönne. Vermutlich liegt hier die Grundlage seiner bald folgenden Versuche zur Nulldosierung, die milliardenfache Herstellung und weltweite Verbreitung erst ermöglichen.
     Auf der Merkliste in seinem Kopf taucht das Wort Verdünnungsreihe auf.
     »Wenn du nichts dagegen hast, würden wir jetzt gerne das Licht löschen.«
     »Wozu soll das gut sein?«
     »Wenn wir arbeiten, wollen wir uns ohne Ablenkung auf die Worte konzentrieren.«
     »Reicht es nicht, die Augen zu schließen?«
     »Im Dunkeln denkt es sich entspannter.«
     »Also gut. Ich bin für alles offen.«
     Eine Floskel wie dahingesagt, hätte sie es nicht in sich. Coppki ist genau das, was er von sich gibt, so offen wie nie zuvor für das, was kommt. Joejoe bläst die gelbe Flamme aus. Seine Seele begreift schneller als sein Geist, wie ihm geschieht. Ohne das Gefühl, beobachtet zu werden, kann er seine Gedanken ungleich freier äußern als im Angesicht anderer Menschen. Die Kunst des Redens als Blinder unter Blinden geht ihm leicht von den Lippen. Wie wenn sich in der lichtlosen Höhle ein Wachtraum erfüllt. Darin senden und empfangen sie auf einer neuen, für alle gleichen Frequenz, vollkommen sachlich, ruhig und gelassen, als wäre mit dem Licht aller Aufruhr der Gemüter erloschen.
     Jeder sieht in einer Figur, was er mit ihr verbindet. Menschen existieren in so vielen Varianten wie Menschen, die sie wahrnehmen. Auch meine Version von Coppki und seinen jungen Gefährten ist nur eine unter anderen. Es gibt keine biografische Wahrheit jenseits der unabweislichen Fakten.
     Was haben wir denn zu bieten? Eine Klemmkarte mit der Aufschrift Jennys Gast, die Beschreibung einer freigelegten Höhle im Hang der ehemaligen One World School (Überreste der Eremitenbehausung dienten dem Nachbau) und ein ziemlich originalgetreues Bild der dortigen Verhältnisse in der fraglichen Zeit. Alles andere bleibt uns überlassen. Das ist die Wahrheit der Biografie.
     In jener Nacht und in den folgenden, als sie sich zu Theaterproben in der Aula treffen und dort bis zum Morgen bleiben, dann in einem Klassenraum, um Mathe zu pauken und danach an ihrer Utopie zu basteln, im Lesesaal der Bibliothek, der ihnen ab Mitternacht allein gehört - in all den Arbeitsnächten sind die zwölf plus eins (auf die Formel haben wir uns schon bald verständigt) zur symbiotischen Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen. Wenn man so will, haben zwei an sich harmlose Komponenten, seine Theorie und ihr Weltentwurf, zum reaktiven Gemisch zusammengefunden.
     Ich erläutere meinen Mitstreitern das Wirkprinzip des Elixiers, lege ihnen Coppkis Vorstellungen vom aktiven Wasser mit Gedächtnis auseinander und mache sie mit der These vertraut, waches Bewusstsein brauche und verbrauche eine Form von gedächtnisgesättigtem H2O, die nur im Schlaf nachgebildet werden kann: »Das wache Ich als höchstorganisiertes Aggregat im Universum verfeuert reine Lebenskraft.«
     Sie ihrerseits öffnen meine Augen für den möglichen Triumph der Vernunft im Sinne der damals gefährdeten Aufklärung, nach Kant, den sie zitieren, der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Man beachte die Verwendung des Ausrufezeichens.
     Die jungen Leute sprechen von der Domestizierung des Menschen durch den Menschen, der seit seiner Werdung daran arbeite, seinen animalischen Kern zu überwinden. Dabei liefern sie mir das Vokabular für den Aufbruch der Spezies, den sich Coppki ohne Ahnung vom Wann und Wie seit Jahren ausmalt. Der Sieg des Bewusstseins, das vierundzwanzig Stunden immer wach bei sich sein kann, werde dazu beitragen, das Tier im Menschen zu zähmen.

Teil 3