Vorgeblättert

Joseph J. Ellis: Seine Exzellenz George Washington. Teil 3

08.08.2005.
Tatsächlich wurden während dieses ersten Kriegsjahres, als sowohl Washington als auch die Führung des Kongresses am Rande der imperialen Krise improvisierten, im Fluge wichtige Präzedenzfälle geschaffen. Wie sollte man beispielsweise die Armee nennen? Bevor die Bezeichnung "Kontinentalarmee" Anerkennung fand, sprach man vorwiegend von der "Armee der Vereinigten Kolonien von Nordamerika ". (Die Kolonien mußten erst noch zu Staaten werden, und der Terminus "Amerikaner", den Engländer als Bezeichnung für die provinziellen Geschöpfe am westlichen Rand des British Empire verwendeten, hatte immer noch einen pejorativen Beigeschmack.) Als Washington den Entwurf für eine Unionsflagge billigte, hatte dieser unheimliche Ähnlichkeit mit dem Union Jack, und als diese Flagge im Januar 1776 erstmals über Cambridge gehißt wurde, jubelten die in Boston eingeschlossenen britischen Soldaten, weil sie vermuteten, das sei das Zeichen der Kapitulation. Zur ersten offiziellen Manifestation von Zivilkontrolle kam es im Oktober 1775, als eine Delegation des Kontinentalkongresses, zu der auch Benjamin Franklin gehörte, in Cambridge mit Washington und seinem Stab zusammentraf, um Truppenanforderungen für eine Armee von 20.372 Mann zu billigen.
     Streng genommen existierte die Kontinentalarmee erst mit Beginn des neuen Jahres; bis dahin befehligte Washington eine Ansammlung von provinziellen Milizeinheiten, deren Verpflichtungen im Dezember 1775 ausliefen. Politisch gesprochen war die Billigung der Truppenanforderungen Washingtons durch den Kontinentalkongreß eine trügerische Ermutigung, da dieses Einverständnis von der Billigung durch die Regierungen der einzelnen Staaten abhängig war, die darauf bestanden, daß alle Rekruten Freiwillige sein und eine begrenzte Dienstzeit von nicht mehr als einem Jahr absolvieren sollten. Und logistisch gesprochen führten die gepriesenen Prinzipien der Staatensouveränität, des Freiwilligenwesens und der zeitlich beschränkten Verpflichtungen - alles Ausdrucksformen revolutionärer Überzeugung - zu einem militärischen Kommen und Gehen, unter dem Washington während des gesamten Krieges zu leiden hatte. Anstelle eines harten Kerns erfahrener Veteranen wurde die Kontinentalarmee zu einem ständig fluktuierenden Strom von Amateuren, die wie Touristen auftauchten und wieder verschwanden. "Es findet sich vielleicht nicht in den Annalen der Geschichte ein Fall wie der unsere", beklagte sich Washington bei Hancock, "daß man über sechs Monate hinweg eine Stellung in Schußweite des Feindes hält ? und zu gleicher Zeit die eine Armee auflöst und eine andere rekrutiert, und das in dieser Entfernung von etwa 20 britischen Regimentern. " Schon allein die Bezeichnung "Kontinentalarmee" implizierte also einen Grad der Kohärenz und Stabilität, der ständig im Widerspruch zu dem kurzlebigen Kollektiv stand, das er befehligte.
     In diesem ersten Jahr des Krieges, als die revolutionären Feuer am hellsten loderten, nahm Washington an, er werde einen Überschuß an Rekruten haben. Im Oktober 1775 beschloß ein Kriegsrat einstimmig, "alle Sklaven abzuweisen, und mit großer Mehrheit, Neger überhaupt abzuweisen". Im darauffolgenden Monat ordnete Washington an: "Weder Neger noch Knaben, die keine Waffen tragen können, noch alte Männer, die nicht in der Lage sind, die Strapazen des Feldzuges zu ertragen, sollen angeworben werden." Doch innerhalb von wenigen Monaten, als deutlich wurde, daß es nicht genügend neue Rekruten geben werde, um die Reihen aufzufüllen, wenn sich die Milizeinheiten auflösten, war er gezwungen, seine Ansicht zuändern: "Mir ist dargelegt worden", schrieb er an Hancock, "daß die freien Neger, die in dieser Armee gedient haben, sehr unzufrieden darüber sind, daß man sie entläßt - und es ist zu befürchten, daß sie vielleicht Beschäftigung in der Ministerialarmee suchen -; ich habe mir erlaubt, von der Entschließung, die sich auf sie bezieht, abzugehen, und habe die Genehmigung erteilt, daß sie angeworben werden; wenn dieses Vorgehen vom Kongreß mißbilligt wird, werde ich ihm ein Ende bereiten." Auf diese indirekte Weise schuf Washington einen Präzedenzfall für eine rassisch integrierte Kontinentalarmee, in der amerikanischen Militärgeschichte abgesehen von einigen wenigen Fällen bis zum Koreakrieg das einzige Beispiel dafür, daß Schwarze und Weiße Seite an Seite in integrierten Einheiten dienten.
     Schließlich erlaubte die Belagerung von Boston den ersten ausführlicheren Einblick in Washingtons Denkweise als Militärstratege. Seine Motive für die Unterstützung der amerikanischen Unabhängigkeit waren stets eher elementar als verfeinert. Im wesentlichen sah er den Konflikt als einen Kampf um die Macht, bei dem die Kolonisten, wenn sie siegreich waren, britische Überlegenheitsanmaßungen zunichte machten und sich die Kontrolle über einen halben Kontinent sicherten. Es wäre zwar etwas übertrieben zu sagen, daß sein zentrales militärisches Ziel ein ebenso elementarer Drang war, die britische Armee in einer einzigen Entscheidungsschlacht zu zerschmettern, aber es gab in seinem Denken eine deutliche Zweikampf- Dimension, eine Tendenz, jede Kampfhandlung als persönliche Herausforderung seiner Ehre und seines Rufes zu betrachten. In Cambridge führte das zu mehreren riskanten Offensivplänen, mit denen die regulären Soldaten der Briten vertrieben werden sollten, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Howe nicht gewillt war, hinter seinen Bostoner Schanzen hervorzukommen und ihm in offener Feldschlacht entgegenzutreten. Bei drei Gelegenheiten, im September 1775 und dann wieder im Januar und im Februar 1776, schlug Washington Frontalangriffe auf die britischen Verteidigungsanlagen vor und behauptete, "ein gut gezielter Schlag zu diesem kritischen Zeitpunkt könnte dem Krieg ein Ende bereiten". (In einem der Pläne dachte er an einen Nachtangriff über das Eis, bei dem Vorauseinheiten Schlittschuhe tragen sollten.) Sein Stab lehnte jeden Vorschlag mit der Begründung ab, daß die Kontinentalarmee weder über die Größe noch über die Disziplin verfüge, um einen derartigen Angriff mit hinreichender Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Schließlich akzeptierte Washington einen begrenzteren taktischen Plan zur Einnahme von Dorchester Heights, wodurch die Garnison Howes in Reichweite der amerikanischen Artillerie geriet; das stellte Howe vor die Entscheidung, sich entweder zurückzuziehen oder mit anzusehen, wie seine Armee langsam vernichtet wurde. Während der gesamten Belagerung hielt Washington jedoch immer nach einer direkteren und abschließenderen Schlacht Ausschau, was darauf hindeutet, daß er selbst zu einer größeren Kampfhandlung bereit war, auch wenn seine Armee es nicht war.
     In seinem aggressivsten Vorschlag, der tatsächlich angenommen wurde, forderte er einen separaten Feldzug gegen Quebec. Nachdem klar war, daß Howe nicht die Absicht hatte, ihm den Gefallen zu tun und aus Boston herauszukommen, entschloß sich Washington, von seinem Feldlager in Cambridge 1200 Soldaten abzukommandieren und sie unter dem Kommando eines jungen Obersten namens Benedict Arnold den Kennebec hinauf nach Kanada zu schicken. In Washingtons Ansichten über die Wichtigkeit des kanadischen Kriegsschauplatzes schlugen sich seine Erinnerungen an den French and Indian War nieder, in dem kanadische Forts die strategischen Schlüssel zum Sieg gewesen waren, und ebenso auch seine Überzeugung, daß zu dem, was in dem jetzigen Krieg auf dem Spiel stand, die gesamte östliche Hälfte Nordamerikas gehörte. An Arnold schrieb er: "Ich brauche Ihnen gegenüber nicht die große Wichtigkeit dieses Ortes und der damit verbundenen Herrschaft über ganz Kanada im Rahmen der amerikanischen Angelegenheiten zu erklären - wem immer er gehört, zu dessen Gunsten wird sich wahrscheinlich die Waagschale neigen." Durch die Einnahme von Quebec würde Arnold "das einzige Bindeglied wiederherstellen, das in der großen Kette der kontinentalen Einheit fehlt".
     So konventionell seine Ansichten über die strategische Bedeutung Quebecs waren, Washingtons Eintreten für einen kanadischen Feldzug war kühn und wagemutig. Arnolds Truppe mußte während des Einsetzens der winterlichen Schneefälle auf schwierigstem Gelände in Neuengland über 550 Kilometer zurücklegen. Innerhalb eines Monats aßen die Soldaten ihre Pferde, ihre Hunde und Mokassins, und sie starben zu Dutzenden an Unterkühlung und Krankheiten. Es läßt sich nur schwer vorstellen, daß man je in einer späteren Phase des Krieges einen derartigen Feldzug in Erwägung gezogen hätte, aber in diesem frühen Stadium teilte Washington die allgemein herrschende Ansicht, daß patriotische Inbrunst in Verbindung mit bloßem Mut die Elemente und die Übermacht besiegen könnten.
     Trotz wahrhaft heldenmütiger Anstrengungen Arnolds und seiner Soldaten enthüllte der kanadische Feldzug den illusorischen Charakter von Washingtons Überzeugungen. Nachdem sie sich wie geplant mit einer Streitmacht unter dem Kommando von General William Montgomery vereinigt hatte, unternahm Arnolds dezimierte Armee am 31. Dezember 1775 in einem Schneesturm, der den Soldaten die Sicht raubte, einen verzweifelten Nachtangriff auf Quebec. Das Ergebnis war eine katastrophale Niederlage, bei der sowohl Arnold als auch Montgomery in den ersten Minuten der Schlacht außer Gefecht gesetzt wurden. (Arnold wurde schwer am Bein verwundet, blieb aber am Leben, während Montgomery von einer Kugel ins Gesicht getroffen wurde und auf der Stelle starb.) Wenn Kanada der Schlüssel war, dann hielten ihn die Briten jetzt fester als zuvor in der Hand. Das Debakel von Quebec war ein entscheidender Schlag, aber nicht von der Art, wie Washington ihn sich vorgestellt hatte.
     Schließlich enthüllte das Cambridge-Kapitel noch einen weiteren Zug Washingtons, der in der Forschung nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden hat, weil er nur indirekt mit militärischer Strategie zusammenhängt. Historiker wissen seit langem, daß mehr als zwei Drittel der Verluste in diesem Krieg auf Krankheiten zurückzuführen waren. Doch erst kürzlich - und das ist ziemlich bemerkenswert -haben sie erkannt, daß sich die Amerikanische Revolution währendeiner schweren Pockenepidemie von kontinentalen Ausmaßen abspielte, der etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Washington begegnete der Epidemie erstmals vor Boston, wo er erfuhr, daß wegen der Krankheit Tag für Tag zwischen zehn und dreißig Begräbnisse stattfanden. Britische Soldaten waren zwar gegen das Pockenvirus nicht gerade unempfindlich, aber sie waren gegen die Krankheit meist besser gefeit, weil sie aus Regionen Englands, Schottlands und Irlands kamen, in denen die Seuche seit Generationen umging, so daß die Familien im Laufe der Zeit eine gewisse Immunität entwickelt hatten. Die Soldaten der Kontinentalarmee hingegen kamen eher von Farmen und aus Dörfern, die der Ansteckung bis dahin noch nicht ausgesetzt gewesen waren, und daher waren sie äußerst anfällig. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt war zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Armee Washingtons dienstunfähig, wobei die Mehrheit an Pocken litt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war auch Arnolds Streitmacht vor Quebec in den Wochen vor dem fatalen Angriff von der Krankheit dezimiert worden.
     Washington war gegen Pocken natürlich immun, weil er sich in seiner Jugend in Barbados angesteckt hatte. (Spätere Bewunderer behaupteten, er sei gegen alles immun gewesen.) Ebenso wichtig war, daß er die verheerenden Folgen einer Pockenepidemie in den beengten Verhältnissen seines Lagers erkannte und die Patienten in ein Krankenhaus in Roxbury in Quarantäne schickte. Als die Briten im März 1776 mit dem Abzug aus Boston begannen, ordnete er an, daß nur Soldaten mit pockennarbigen Gesichtern die Stadt betreten durften. Und wenngleich zahlreiche gebildete Amerikaner gegen eine Impfung waren, weil sie glaubten, daß die Krankheit dadurch in Wirklichkeit verbreitet werde, war Washington nachdrücklich dafür. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis die Pockenimpfung für alle Soldaten der Kontinentalarmee obligatorisch wurde, aber die Anfänge dieser Politik reichen in das erste Kriegsjahr zurück. Wenn Historiker über Washingtons folgenreichste Entscheidungen als Oberbefehlshaber diskutieren, streiten sie sich fast immer über bestimmte Schlachten. Es lassen sich jedoch überzeugende Argumente dafür anführen, daß seine rasche Reaktion auf die Pockenepidemie und der Übergang zu einer Impfkampagne die wichtigste strategische Entscheidung seiner militärischen Karriere war.
     Nachdem sich die britische Flotte noch über eine Woche im Hafen von Boston aufgehalten hatte, segelte sie am 27. März 1776 davon. Die amerikanische Presse beschrieb den Rückzug als vernichtenden Schlag für die britische Armee. Der Kontinentalkongreß ordnete die Prägung einer Goldmedaille zu Ehren Washingtons an. Das Harvard College verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Und John Hancock prophezeite, er habe sich "einen herausragenden Platz im Tempel des Ruhms [erworben>, der die Nachwelt davon unterrichten soll, daß unter Ihrer Leitung eine disziplinlose Bande von Bauern innerhalb von wenigen Monaten zu Soldaten wurde", die "eine Armee von altgedienten Soldaten unter dem Kommando der erfahrensten Generäle" besiegten. Diese Worte waren zwar erbaulich, aber die nachfolgenden Ereignisse zeigten schon bald, daß es sich dabei umeine allzu optimistische Einschätzung handelte.

Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages

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