Vorgeblättert

John Maynard Keynes: Freund und Feind. Teil 1

20.08.2004.
Einleitung (Auszug)
Dorothea Hauser: Politik und Gefühl

Selten sind Integrität und Augenmaß so bestraft worden wie im Fall des deutschen Juden Carl Melchior. Durch und durch Demokrat, Patriot, Realist und Europäer, galt der Hamburger Privatbankier 1919 bei den Friedensverhandlungen in Versailles den Alliierten als einziger Lichtblick inmitten einer kläglichen deutschen Delegation. Auf ihn, dessen blütenweiße Hemdkragen nicht nur John Maynard Keynes auffielen, wollte neben dem britischen Premier Lloyd George auch der amerikanische Präsident Wilson als Sprecher einer verständigungsbereiten deutschen Politik bauen. Denn Melchior war es ernst mit dem Bemühen, an einer europäischen Friedensordnung mitzuwirken, die zur Wiedergutmachung der Kriegschäden ebenso beitragen würde wie zur Stabilisierung der eben erst geborenen Weimarer Republik. Aber sein gegen alle Widerstände in den eigenen Reihen durchgekämpftes Reparationsangebot von 100 Milliarden Goldmark, das den Siegermächten mehr eingebracht hätte, als sie in den kommenden Jahrzehnten je erhalten sollten, wollten sie, die untereinander so zerstritten waren, daß sie direkte Verhandlungen mit dem besiegten Feind nicht zu überstehen glaubten, keines Blickes würdigen. 
Und doch: In einer Atmosphäre von Dummheit und Leichtfertigkeit, Borniertheit und Ranküne auf allen Seiten, so beschreibt es Keynes, bewahrte Melchior als einziger die Würde der Niederlage. Ein vernichtender karthagischer Friede, wie Keynes nach seinem demonstrativen Rücktritt von der britischen Delegation zunächst meinte und kurz darauf in seinem furiosen Bestseller "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" aller Welt verkündete, war Versailles aber nicht. Bald fand er selbst die angemessenere Formel, die sich heute allgemein durchgesetzt hat: Der Vertrag war für einen harten Frieden zu weich, für einen weichen Frieden zu hart. (....)

Keynes? Erinnerungsstück "Dr. Melchior" ist die Geschichte einer unerhörten Freundschaft, vielleicht auch Liebe zwischen Sieger und Besiegtem unter wahrhaft welthistorischen Umständen. Anfang Februar 1920 hat er sie im privaten Freundeskreis der Bloomsbury-Gruppe vorgetragen, jenem nach ihrem Quartier im Londoner Stadtteil Bloomsbury genannten Zirkel von Literaten und Künstlern, dessen experimenteller Lebensstil und Kunstgeschmack richtungweisend für Englands kulturellen Anschluß an die europäische Moderne wurde. John Maynard Keynes war damals 36 Jahre alt und stand im Begriff, von einem Cambridger Lokal-Genie zu einem weltberühmten Mann zu werden. Denn seine fulminante Streitschrift gegen Versailles "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" war trotz des Keynes gelegentlich nachgesagten klinischen Intellekts weit davon entfernt, ein technisches Traktat zur unerquicklichen Reparationsfrage zu sein. Der Ökonom entpuppte sich vielmehr als brillanter Schriftsteller und prophezeite für den Fall einer wirtschaftlichen Schwächung Zentraleuropas nichts weniger als "einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution, vor dem die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen werden, und der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird«. Die Wirkung auf eine durch die Kluft von Anspruch und Wirklichkeit des Friedenswerks desillusionierte Weltöffentlichkeit war nachhaltig. Später allerdings hingen Kritiker Keynes nicht nur das Beiwort vom Vater des Appeasement an. Gehörige Resonanz fand auch der französische Ökonom Etienne Mantoux, der 1944 behauptete, Keynes? Polemik habe maßgeblich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Beide Vorwürfe sind jedoch ähnlich abwegig wie die Unterstellung, Keynes? Cambridger Bekanntschaft mit den Spionen Anthony Blunt und Guy Burgess zeuge von Sympathien für den Kommunismus oder das Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner General Theory von 1936 offenbare Krypto- Faschismus. In Wahrheit plädierte Keynes, der im Unterschied zu den anderen Mitgliedern des Bloomsbury-Kreises kein Pazifist war, seit Mitte der 1930er Jahre für eine verstärkte Aufrüstung der europäischen Demokratien "gegen die Schurkenstaaten« Italien und Deutschland.
Es ist davon auszugehen, daß es sich bei "Dr. Melchior" um den Gründungstext des sogenannten Memoir Club handelt, einer intimen Abendunterhaltung des harten Kerns von Bloomsbury, bei der sich die Freunde in loser Folge persönliche Begegnungen und Erlebnisse vorlasen. Neben der Schriftstellerin Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard zählten dazu die Literaten und Künstler Lytton Strachey, E. M. Forster, Roger Fry, Duncan Grant, Vanessa Bell sowie Desmond und Molly McCarthy. Was hier zur Aufführung und anschließenden Diskussion kam, waren autobiographische Texte für den strikt privaten Gebrauch, oft voller Anspielungen, Indiskretionen und vertraulicher Scherze. Dahinter stand das Bedürfnis nach teilnehmender Nähe und Selbstvergewisserung eines in die Jahre gekommenen und durch den Krieg auseinandergerissenen Freundeskreises. Bedeutsam war aber auch der Einfluß der Psychoanalyse, zu deren Wegbereiter im England der zwanziger Jahre Bloomsbury werden sollte. Lytton Strachey, ebenso wie Duncan Grant ein ehemaliger Geliebter von Keynes, hatte bereits 1918 die psychohistorische Porträtsammlung Eminent Victorians veröffentlicht, und Stracheys Bruder James und seine Frau Alix besorgten die erste englische Übersetzung der Werke Freuds, die ab 1925 in Virginia und Leonard Woolfs Hogarth Press erschienen.
Obgleich Keynes zu den zentralen Figuren von Bloomsbury gehörte, blieb er doch immer das Kuckucksei. Dabei war es nicht allein seine mathematische Begabung und seine Profession als Ökonom, die ihn von Bloomsburys higher camp trennte, sondern vor allem sein intellektueller Hang zur Praxis, seine Weltzugewandtheit. Für Keynes, von dem Bertrand Russell meinte, er habe "den schärfsten und klarsten Verstand, der mir je begegnet ist«, war Bloomsbury nur eine Facette seines vielseitigen Talents, das ihn auf vielen Bühnen gleichermaßen erfolgreich machte : als Publizist, Theaterintendant, Financier einer Ballet-Compagnie, Mäzen, Kunstsammler und Gründer des britischen Arts Council ebenso wie als Professor, Börsenspekulant, Manager der größten britischen Versicherungsgesellschaft, Staatsbeamter im India Office und im Schatzamt, Eigentümer und Herausgeber des liberalen Wochenblatts The Nation, Regierungsberater, Chefredakteur des Economic Journal, Finanzverwalter des King?s College und schließlich als Revolutionär des ökonomischen Denkens, der einem ganzen Zeitalter - den Wohlstandsjahren von Bretton Woods 1944 bis zur ersten Ölkrise 1973 - den Namen gegeben hat. Unumstritten war Keynes, der heute von den einen als Einstein der Ökonomie gefeiert, von anderen als ihr Nietzsche verdammt wird, freilich nie. (....) 



Dr. Melchior
Ein besiegter Feind

Keiner der Beamten in London, die mit der Friedenskonferenz zu tun hatten, wußte, wann sie beginnen würde. Das entsprach der üblichen Methode des Premierministers. Es mußte zwar eine Menge Beamte auf Abruf bereitstehen, für den Fall, daß er sie brauchen sollte, aber die eigentlichen Geschäfte der Konferenz mußten von ihm selbst und den anderen beiden (oder vielleicht dreien) abgewickelt werden. Und je weniger den Beamten klar war, was eigentlich vor sich ging, desto freiere Hand hatte er dabei. Also würde an einem bestimmten Tag - der nicht im voraus bekanntgegeben wurde - der Premierminister nach Paris aufbrechen ; das Ganze würde jedoch erst einmal mit informellen Begegnungen der Großen beginnen. Wann man dann die Beamten tatsächlich benötigte und was sie dort am Ende oder in der Zwischenzeit eigentlich treiben sollten - das war ganz ungewiß.
Dies stellte sie vor ein peinliches Dilemma. Ein zeitiger Aufbruch nach Paris hätte wahrscheinlich bedeutet, daß es dort für sie nichts Bestimmtes zu tun gab - während in ihren Büros in London übergenug zu erledigen war. Andererseits hatten sich die meisten Leute, die es fertiggebracht hatten, in den Konferenzstab aufgenommen zu werden, schon überaus wichtig gemacht ; es war ausgeschlossen, daß die Konferenz plötzlich ohne sie anfing. Da außerdem die Stellung eines jeden im Hinblick auf die Stellung der anderen und auf die allgemeine Arbeit noch ganz unklar war, bestand die große Gefahr, daß die zuerst Anreisenden sich über Gebühr breitmachten. Und schließlich hörte man, daß die Zimmer im Hotel Majestic sehr unterschiedlich seien, wer als letzter kam, mochte hier der Dumme sein.
Angesichts dieser Probleme entschied ich mich zu einem Kompromiß : Ich schickte meinen Sekretär, Geoffrey Fry, voraus, damit er uns rasch gute Zimmer sichern sollte (wobei er allerdings kein großes Geschick bewies), und meinen Bürochef Dudley Ward, damit er die Atmosphäre in sich einsaugte, den Klatsch meldete, die angestammten Rechte des Schatzamts verteidigte und im Falle wirklicher Gefahr sofort telegraphierte - in alledem, das wußte ich, würde er vollkommen verläßlich sein.
Als ich schließlich Anfang Januar 1919 in Paris ankam, war es wie erwartet : Niemand hatte eine Ahnung, was die Konferenz eigentlich machte oder ob sie schon begonnen hatte. Doch die eigenartige Atmosphäre im Majestic mit all ihren Ritualen hatte sich schon zusammengebraut, die Stenotypistinnen tranken ihren Tee in der Hotelhalle, diejenigen Gäste, die im Speisesaal aßen, hatten sich von den Restaurantgängern abgesondert, die Sicherheitsbeamten von Scotland Yard verbrannten jenen Teil des Inhalts der Papierkörbe, an dem die Putzfrauen nicht interessiert gewesen waren, viel scheinhafte Geschäftigkeit zirkulierte in roten Aktenschachteln, und der fieberhafte, hartnäckige, langweilige Klatsch des infernalischen Ortes hatte schon sein ganz eigenes Aroma von Kleingeistigkeit, Zynismus, Wichtigtuerei und gelangweilter Anspannung entwickelt, das er nie verlieren sollte.
Bei meiner Ankunft erfuhr ich aber auch, daß Dudley etwas herausgefunden hatte, was zwar die Konferenz nicht direkt betraf, aber doch von einigem Interesse und nicht unwichtig war. Als am 11. November 1918 der Waffenstillstand mit Deutschland geschlossen wurde, galt dies als eine Angelegenheit der Marine und der Armee ; keine Vertreter ziviler Autoritäten waren anwesend oder wurden auch nur konsultiert. Was mit dem Feind zu Lande noch näher zu erörtern sein mochte, war fortan Angelegenheit der Armee, das hieß : von Foch und ausschließlich von Foch (ohne irgendwelche Vertreter des Militärs der anderen Alliierten), und was auf See noch zu klären war, blieb ebenso ausnahmslos in der Zuständigkeit der britischen Admiralität, vertreten durch Admiral Browning, einen überaus mürrischen und ignoranten alten Seebären, der anstelle der einen Hand in ehrwürdigster nautischer Tradition tatsächlich einen richtigen großen Haken trug und keinen einzigen anderen Gedanken im Kopf hatte als die Ausrottung und weitere Demütigung eines verachteten und besiegten Feindes. Als man diese Regelungen ursprünglich traf, ging man wohl davon aus, daß der Waffenstillstand eine Angelegenheit weniger Wochen sein würde, und man übersah, daß die Fortdauer des Embargos, die Besetzung feindlichen Gebiets und viele andere Umstände zwangsläufig zu endlosen finanziellen und wirtschaftlichen Problemen führen mußten, welche die zivilen Ministerien angingen. Die Franzosen machten sich rasch die Möglichkeiten zunutze, welche diese Situation bot.
Was Dudley Ward also entdeckt hatte, war die Tatsache, daß die Franzosen - mit der vorgeschobenen Begründung, dies gehöre alles in die Zuständigkeit von Foch - einen Finanzbevollmächtigten ernannt hatten, der ohne Unterrichtung der anderen Alliierten bereits direkte Verhandlungen über Angelegenheiten von großer Bedeutung mit den Deutschen führte, direkt vor der Nase und den blinden Augen Admiral Brownings. Die ersten, die dies bemerkt hatten, waren die Amerikaner gewesen (die wie üblich sehr mißtrauisch waren, man könne ihnen ihren Platz in der ersten Reihe vorenthalten), und von denen hatte es Ward. Norman Davis, der Vertreter des amerikanischen Finanzministeriums, und ich entschieden deshalb, es würde höchst amüsant und möglicherweise nützlich sein, wenn wir in ein, zwei Tagen einfach den Zug des Marschalls auf seiner Reise nach Trier bestiegen, wo er Erzberger und andere Deutsche treffen wollte, um in gewissen aktuellen Angelegenheiten Befehle zu erteilen oder Gespräche zu führen. Ich schickte eine kurze Mitteilung an Lord Hardinge und telegraphierte dem Schatzkanzler, und alles wurde arrangiert. Als die Zeit gekommen war, stiegen wir in den Zug des Marschalls ein. Das geschah zu seinem offensichtlichen Mißvergnügen, und er gab sich so wenig mit uns ab wie nur möglich.

Teil 2