Vorgeblättert

Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amery, Teil 2

09.02.2004.
Wiener Anfänge

Amerys Vater Paul (1883-1917) ist geschäftlich weniger erfolgreich als sein Vater Siegfried, er bringt es nur zu einer Art Vertreter, einem "Reisenden", wie den Unterlagen der Israelitischen Kultusgemeinde zu entnehmen ist, bevor er in den Ersten Weltkrieg zieht. Im Alter von 34 Jahren fällt er als k.u.k. Soldat im Regiment der Tiroler Kaiserjäger, wird am 1.August 1917 zunächst in Innsbruck(1), dann in der isra­eliti­schen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs am 21.Februar 1918 in einem Mannschaftsgrab beerdigt.(2) Er ist an der italienischen Front an einem Leistenbruch gestorben, korrigiert Jean Amerys Kusine, Lore Wald, die offizielle "Todesursache"(3) 
Die Mutter Jean Amerys, Valerie Goldschmidt, vier Jahre älter als ihr Mann (geb. 31.8.1879), hat den Glaubensjuden Paul Maier am 5.Juli 1908 in Wien geheiratet. Im Kriegsjahr 1914 ziehen sie vom achten Bezirk in den vierten, zunächst in die Schleifmühlgasse 19, dann in die Wiedner Hauptstr. 19, wo offensichtlich auch kein Bleiben ist, denn die 34jährige Valerie Maier mit dem eineinhalbjährigen Hans zieht 1915 ein drittes Mal um, diesmal in den 6. Bezirk in die Proschkog-Gasse 2.(4) Ein einziges Bild von Vater, Mutter und Sohn ist erhalten geblieben: In entschlossener Pose alle drei, zeigt es den winzigen Hans im stattlichen Matrosenanzug auf einer Bank stehend mit verschwommen romantischer Seelandschaft als Hintergrund zwischen aufrecht sitzender Mutter und dem stockgerade stehenden soldatischen Vater in Uniform (5) - alle drei folgen dem Gebot des Fotografen und schauen direkt in die Kamera. Die Ähnlichkeit mit der Mutter, ihren schweren Augenlidern und dem melancholischen Ausdruck auf den späteren Fotos von Amery ist auffallend.
Die Mutter ist "Halbjüdin, hatte bei der Heirat die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche mit der Mitgliedschaft bei der israelitischen Kultusgemeinde vertauscht. Ihre Kennt­nisse vom Judentum gingen denn auch dementsprechend nicht sehr tief: Sie sagte gerne 'nebbich', was ein unvergleichlicher Ausruf des Mitleids ist, und bezeichnete ihre Freundinnen, wenn sie sich exaltiert benahmen, als 'meschugge'. Noch häufiger allerdings sagte sie Jessasmariandjosef, wozu bei uns auch meist guter Grund vorhanden war." (6) Die Familie wohnt im vierten Bezirk in der Wiedner Hauptstraße 9. Die Mutter kommt aus "guter" ­Familie, kultiviert mit "Dienstmädchen und Damenbesuchen" einen bürgerlichen Lebensstandard und eine "Nachkriegsbehaglichkeit", die sie immer schwerer zu bestreiten weiß. Sie hat zwei Brüder und drei ältere Schwestern, Herta, Adele und Mila, von denen zwei sich in Bad Ischl und Umgebung niedergelassen haben. 

1918 nach dem Tod von Amerys Vater zieht die Mutter zunächst mit Sohn und Schwester Herta, beide "Kriegerwitwen", in "eine recht ordentliche Wohnung in der Kleinen Neuengasse im IV.Wiener Gemeindebezirk", wo auch Hertas Tochter Lore, fünf Jahre jünger als Hans, geboren wird. Die beiden Kinder wachsen bis zum 17. Lebensjahr Lores zusammen auf. Jean Amery erinnert sich "deutlich an den Tag, an dem das elektrische Licht eingeleitet wurde, eine Sache, die mir höchst zauberhaft erschien und die ich auch später nie begriffen habe", und spürt "den kalten feuchten und muffigen Geruch, den das auf den Korridor gehende sogenannte 'Dienstbotenzimmer' ausströmte."(7) Am wichtigsten zu dieser Zeit sind ihm die wechselnden Dienstmädchen. "Ich habe sie als Kind wie Mütter geliebt, alle, wie sie da waren, die Mitzis, Lintschis, Fannys, habe als Fünfzehnjähriger mit ihnen geschlafen und habe sie später", greift er voraus, "als sie schon längst keine Dienstmädchen mehr waren, sondern Servierfräulein in unseren diversen verunglückten Pensionsbetrieben, systematisch gegen die Mutter in Schutz genommen." Sein faible für das andere Geschlecht - tatsächlich umgeben ihn während seiner ganzen Erziehung nur Frauen -, die Mutter, die Tanten, die Kusinen, die Schwägerinnen und die sich ewig abwechselnden weiblichen Bediensteten -, ist Bekannten und Freunden ein offenes Geheimnis. Von den zwei Dienstmädchen der Jahre 1918-1919 weiß er folgendes zu sagen: Die Anna, die ihm "mit greulicher Ausführlichkeit von den Leiden des Heilands erzählte", und die Loisi steckte ihn "mit einer damals verbreiteten Hautkrankheit an, die das Volk Krätze nannte..."
Auch die Nahrungsnot des ersten Nachkriegs ist ihm in Erinnerung geblieben: "Häufig gab es keinen Zucker; dann schickte man mich in ein Zuckerlgeschäft in der Margarethenstraße, wo ich 'Fondant-Bonbons' kaufen sollte, mit denen wir den Kaffee süßten."(8) Oder es fehlte an Kartoffeln, und er erhielt von der Mutter den Auftrag, "zu einem Manne namens Pilz (zu) gehen" -, "ein buckliger, kleiner Mensch" - um ihn "um Erdäpfel (zu) bitten".(9)
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(1) Das Original des Totenscheins befindet sich im Privatarchiv Maria Amery; es stammt aus der "Mili­tär­seelsorge des k.u.k. Garnisonspitals Nr.10 in Innsbruck, Nr.754" zusammen mit einem anderen Original, dem Totenschau-Befund, wo Paul Mayer als "Kraftfahrsoldat" verzeichnet wird, von Beruf Kaufmann, ansässig in Feldkirch/Vorarlberg. Sterbegrund: "eingeklemmter Leistenbruch, infolge durch Kriegsstrapazen zugezoge­ner Erkrankung (sic!)", unterzeichnet vom Leichenbeschauer am 1.August 1917.
(2) Auf Paul Maiers Totenschein wird sein Grab genau lokalisiert: "Gruppe 76B, I.Seiten Abteil, 17. Mann­schaftsgrab." Dokument im DLA.
(3) Lore Wald, geb. Goldschmidt (26.10.1917), Tochter von Herta Goldschmidt, Schwester von Amerys Mutter Valerie, ist Jean Amerys Kusine. Die ersten 18 Jahre ihres Lebens, vor allem aber die frühe Kindheit in Wien und Bad Ischl, als die Schwestern Valerie und Herta zusammen wohnten und arbeiteten, hat sie in nächster Nähe von Jean Amery verbracht. Seit 1935 lebt sie in London. Ihr verdanke ich viele Informationen die Familie betreffend aus Telefongesprächen und einem längerem Besuch bei ihr in London am 21.Oktober 2000.
(4) Vgl. die "Meldezettel für Hauptwohnparteien" vom Einwohnermeldeamt Wien vom Mai 1912 bis Dezember 1938, dem Jahr von Hans Mayers Auswanderung.
(5) Bild abgedruckt im Marbacher Magazin 24/1982, Amery. Unterwegs nach Oudenaarde, (künftig nur MM), bearbeitet von Friedrich Pfäfflin, in: Jean Amery. Daten zu einer Biographie, S.16
(6) "Gasthof zur Stadt Graz", S.10
(7) Ebda, S.2
(8) Ebda
(9) Ebda

Teil 3