Vorgeblättert

Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, Teil 2

28.07.2003.
Ich kannte einige Winterlieder aus meiner eigenen Kinderzeit. Das einfachste war: "Schneeflöckchen, Weißröckchen". Ich sang, erklärte die Wörter, und daß jeder mal zusehen solle, wie der Schnee aus dem Himmel auf die Stadt fällt. Die kleinen Gesichter sahen mich verschlossen an. Das Staunen, das behütet, auch wenn es verängstigt, das durch poetische Bilder zusammengefaßte Hören und Sehen, das auch dort noch Halt gibt, wo es sentimental macht - es wurde mit Absicht von ihnen ferngehalten. Die Schönheit fallenden Schnees, die sich seit Menschengedenken individuell betrachten läßt, war kein Thema. Auch in diesem Bereich war das Land ausgestiegen aus der Geschichte der Gefühle. Es wurde verhindert, daß Sprachbilder wie "Weißröckchen" oder "du wohnst in den Wolken" die Kinderköpfe besetzten. Auch war das Schneelied diesen so früh Verführten zu still. Ihre Gefühlsregungen begannen erst beim Strammstehen und Bellen. Sich als Einzelner zu begreifen und von diesem Punkt aus die Details an sich und den Dingen auszuhalten, wie es zu einer zivilen Sozialisation gehört, das wurde nicht zugelassen. Diese Verhinderung an Persönlichem brachte es später in jedem einzelnen Leben soweit, daß man ihm in keiner Hinsicht gewachsen war. Und genau das wollte der Staat: Die Schwäche sollte an der Stelle beginnen, wo die eigene, zu dünne Haut sitzt. Die vom Regime angebotene Flucht aus der Schwäche war Anbiederung an die Stärke der Macht, Selbstverleugnung und Unterwürfigkeit als Chance zum Weiterkommen. Ein Sensorium, das sich selbst aufrichtet, das ohne diese Flucht zurechtkommt, sollte nicht entstehen können.
Ich sagte an diesem ersten Arbeitstag im Kindergarten, die Kinder sollen Mäntel, Mützen, Schuhe anziehen, wir gehen hinaus in den Hof, in den Schnee. Die Direktorin hörte Lärm im Kleiderraum. Sie riß ihre Bürotür auf. Es gehe um ein Schneelied, sagte ich, und warum solle ich den Kindern drinnen erzählen wie Flocken fallen. In einer halben Stunde seien wir wieder in der Klasse. "Was stellen Sie sich vor", schrie sie, "dieses Lied steht in keinem Programm." Wir mußten zurück in die Klasse. Spiele und Pause und Essen, dann wieder das Lied.
Am nächsten Morgen fragte ich als erstes, ob jemand den Flocken, die "in den Wolken wohnen" zugesehen habe. Da war ich das Kind, ich hatte es getan. Um mir Mut zu machen für den Tag, hatte ich mir auf dem Weg zur Arbeit das Lied sogar stumm in den Kopf gesungen. Verlegen fragte ich, ob sie sich an das Lied von gestern noch erinnern. Da sagte ein Junge: "Genossin, wir müssen zuerst die Hymne singen." Ich fragte: "Wollt ihr oder müßt ihr." Die Kinder riefen im Chor: "Ja, wir wollen." Ich fügte mich und ließ die Kinder die Hymne singen. Und wie am Vortag standen sie im Nu in ihrem Halbkreis, preßten die Hände an die Schenkel, streckten die Hälse, hoben die Blicke und sangen und sangen. Bis ich sagte: "Gut, jetzt versuchen wir das Schneelied zu singen." Da sagte ein Mädchen: "Genossin, wir müssen die Hymne ganz singen." Es wäre zwecklos gewesen, wieder nach dem Wollen zu fragen, ich sagte nur: "Dann singt sie ganz." Sie sangen die restlichen Strophen. Der Halbkreis löste sich auf. Alle, außer einem Jungen, setzten sich an die Tischchen zurück. Der Junge kam auf mich zu, sah mir ins Gesicht und fragte: "Genossin, warum haben Sie nicht mitgesungen. Unsere andere Genossin hat immer mitgesungen." Ich lächelte und sagte: "Wenn ich mitsinge, dann höre ich nicht, ob ihr richtig oder falsch singt." Ich hatte Glück, der kleine Wächter war auf meine Antwort nicht gefaßt. Ich auch nicht. Er lief zurück an sein Tischchen. Er gehörte nicht zu den vier höheren Wesen der Gruppe. Für den Moment war ich auf meine Lüge stolz. Aber die Umstände, wie es zu dieser Lüge kommen mußte und gekommen war, nahmen mir für den ganzen Tag die Ruhe.
Ich ging jeden Morgen mit größerem Widerwillen in den Kindergarten. Die pausenlose Bewachung durch Kinderaugen lähmte mich. Mir war schon klar, eine bewußte Entscheidung für das Schneelied gegen die Parteilieder war bei Fünfjährigen nicht zu erwarten. Aber sie hätten ja ohne Komplizenschaft, unbewußt, instinktiv an dem Schneelied mehr Gefallen finden können als am Bellen und Strammstehen ihrer Lieder. Objektiv war es verboten, den Kleinsten, Dreijährigen etwas Persönliches mitzugeben, aber subjektiv wäre es bei ihnen noch möglich gewesen. Bei den Fünfjährigen war es auch subjektiv unmöglich, es war zu spät. Das stand mir von Tag zu Tag kategorischer vor Augen. Der Mißbrauch menschlicher Substanz war verinnerlicht, er hatte süchtig auf seine Fortsetzung gemacht. Die Zerstörung war bei Fünfjährigen fertig geschehen.
Dies war die eine Hälfte der Tatsachen. Die andere Hälfte war der Stock. Alle Kinder, außer den höheren Wesen, in deren Herkunft ich zwecks Schonung eingeweiht worden war, zogen, egal wie und wann ich mich ihnen näherte, automatisch den Nacken ein. Ich hatte den Stock nicht in der Hand, aber sie waren so an Prügel gewöhnt, daß sie mit angstverzerrten Gesichtern zu mir schielten und bettelten: "Nicht schlagen, bitte nicht schlagen." Und jene, die nicht in Reichweite waren, riefen: "Jetzt kriegst du, jetzt kriegst du."
Ich benutzte den Stock kein einziges Mal. Die Folge davon: Ich konnte mir um Aufmerksamkeit bittend, erklärend, auch schreiend keine fünf Minuten am Stück Gehör verschaffen. Auch dafür war es zu spät. Der gewöhnlich gesprochene Wortlaut, egal in welcher Tonlage, war kein Verständigungsmittel. Der Trance des Phrasendreschens entsprach nur der Stock.
Diese Kinder versuchten, mich zu zwingen, ihr Bedürfnis nach Prügel zu stillen. Sie fühlten sich im Stich gelassen, hingen in hysterischer Leere, weil die Prügel nicht kamen. Das Weinen unterm Stock war für sie das einzige, wodurch sie sich als Person spürten. Es hob sie heraus aus dem Kollektiv.
Im Vorbeigehen an halboffenen Türen der anderen Klassen hörte ich die Stöcke schlagen und krachen und die Kinder weinen. Für Direktorin und Kolleginnen, die prügelten und vielleicht noch mehr bei den Kindern, die weinen wollten, war ich aus demselben Grund unfähig: Für die einen nicht gewillt, für die anderen nicht imstande, den Stock zu benutzen.
Aber auch mir selber war ich immer weniger gewachsen. Nicht so werden wie die anderen, und nicht so bleiben können, wie ich war - dieser Zwiespalt war nicht zu lösen. Ich kündigte nach zwei Wochen.
Der gesprochene Wortlaut, der intuitiv im Kopf entsteht, durch den wir uns wie selbstverständlich aufeinander beziehen, ist nicht angeboren. Er kann gelernt oder verhindert werden. In der Diktatur wurde er bei Kindern durch Erziehung verhindert. Und bei Erwachsenen, wo er in Reminiszenzen vorhanden war, getilgt.

Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages

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