Vorgeblättert

Hemley Boum: Gesang für die Verlorenen - Leseprobe Teil 2

09.08.2018.

Teil 2

     Die Frauen hatten keinen Zugang zu den Mysterien männlicher Geheimgesellschaften, hatten aber ihren eigenen Wirkungskreis. Jeder trug in seiner Rolle zum sozialen Zusammenhalt bei.
     "Den Ko'ô vernehmen" war nicht ohne Bedeutung für ein Mädchen, nur die großen Priesterinnen werden in einem so jungen Alter bestimmt. Jeannette sagte sich, dass sie wirklich keine zusätzlichen Unannehmlichkeiten gebrauchen konnte. Sie war glücklich und erleichtert, dass Esta sich dem kleinen Amos Manguele anschloss, sie sogar unzertrennlich wurden, ihre Tochter somit nicht mehr den Festen und den Trommeln hinterherlief. Sie vergaß für einige Zeit den Tanz, verbrachte ihre Zeit lieber mit Ballspielen, dem fortwährenden Raub wilder Früchte, der Jagd auf Kleinwild, dem Lieblingszeitvertreib der Jungen im Dorf. Die beiden Kinder waren im gleichen Alter, hatten einen gleichen Hang zu Dummheiten, und oft erhielten sie die gleichen Strafen … Im Alter von sieben Jahren kam Amos auf die presbyterianische Schule von Makaï, danach kam er nach Ilanga in der Nähe von Eseka, wo er sein Abschlusszeugnis erlangte. Esta konnte erst zwei Jahre später als er zur Schule gehen. Ihre Leben nahmen verschiedene Wege, was ihrer kindlichen Komplizenschaft keinen Abbruch tat. Sie unterbrach den Schulbesuch nach dem Abschlusszeugnis. Nachdem der Vater gestorben war, lastete die Frage der Herkunft schwer auf Jeannette und ihrer Tochter. "Es ist besser, wenn du mit deinem Kind in dein Heimatdorf zurückgehst", machte ihre Schwiegerfamilie Jeannette klar. "Wir wollen keine Geschichten." Salomon Mbondo Njee hätte vor seinem Tod seinen letzten Willen erklären müssen. Hätte er dem Familienrat in klaren Worten dargelegt, dass Mutter und Tochter wie seine anderen Erben zu behandeln seien, hätte dieser sich seiner Verantwortung stellen müssen. Doch Jeannettes Mann starb, ohne einen letzten Willen zu hinterlassen. Er konnte nicht ahnen, in welch schwieriger Lage er sie zurückließ. Vielleicht meinte er, dass er sein Teil getan habe, dass seine Großzügigkeit mit ihm sterben würde.
     Esta und ihre Mutter kehrten in Jeannettes Dorf zurück, ohne dass die beiden Familien miteinander gesprochen hätten, wie es eigentlich üblich war. Die posthume Verstoßung bedurfte keines Kommentars. Das väterliche Haus war seit damals von einem Onkel bewohnt. Die Familie wies ihnen ein Stück Land zu und half ihnen, darauf ein Haus zu bauen. Sie erhielten auch ein Feld zum Anbau von Nahrungsmitteln. Esta gefiel ihr neues Leben, das gleichzeitig mehr Arbeit und mehr Freiheit bedeutete. Sie fasste eine Zuneigung zur Heilerin des Dorfes, lernte alles darüber, wie Pflanzen zur Schmerzlinderung, bei der Niederkunft der Frauen und der Behandlung von Kindern eingesetzt werden. Sie begann wieder zu tanzen. Früh am Morgen, wenn die beiden in den Wald gingen auf die Suche nach Heilpflanzen, konnte man sie singen hören. Esta tanzte und wurde darin von der Frau bestärkt, die lachte und in die Hände klatschte. Jeannette hatte ihr Kind nie so fröhlich gesehen. Sie bewunderte ihr Mädchen, das, gewachsen wie eine Bohnenstange, offenbar nichts erschrecken konnte. Jeannette entfernte sich selten aus dem Dorf, da sie zu sehr fürchtete, hinter einer Wegbiegung Pierre Le Gall zu begegnen. Er würde sie wahrscheinlich nicht wiedererkennen, dachte sie, die flinke, zierliche Gestalt ihrer Jugend hatte einer knochigen, ausgedörrten Erscheinung Platz gemacht; der Körper einer Frau, die niemand begehrt oder berührt. Trotzdem war sie überzeugt, dass er, wenn sein Blick einmal auf sie fiele, durchaus das fragile Gleichgewicht zerstören konnte, das sie für ihre Tochter und sich mit so viel Mühe wiederhergestellt hatte. Die Reden der Alten über den Ko'ô begannen sie aufs Neue zu quälen. "Wie sie gegen sich selbst schützen?", grübelte sie, wenn sie wieder einmal eine schlaflose Nacht verbrachte.
     Schwester Marie-Bernard fand sich bei Esta ein, ohne dass jemand sie bemerkt hatte, die kleine Frau schien sich zu bewegen, ohne die Luft um sie herum zum Schwingen zu bringen, allein von der Kraft ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen getragen. Esta hatte sie einige Jahre zuvor angetroffen, wie sie vor ihrem Haus auf sie wartete. So hatten sie sich kennengelernt und Freundschaft geschlossen. "Sind Sie Esther Ngo Mbondo Njee, die Heilkundige?", hatte sie gefragt. Esta arbeitete ein paar Kilometer entfernt auf ihrem Feld, als ein Kind aus dem Dorf gekommen war und ihr ausrichtete, dass die weiße Schwester schon seit mehreren Stunden auf sie wartete. "Ach, soll sie sich ein bisschen gedulden", hatte Esta gedacht und behielt ihren Arbeitsrhythmus bei. "Wenn ich meinen Maniok nicht ausgrabe, wird sie mir wohl kaum zu essen geben, nicht wahr?" Sie hoffte ein wenig, dass die Frau des Wartens müde würde, das war nicht der Fall.
     "Wer will etwas von ihr?", fragte Esta zurück und mühte sich ab, den schweren, bis an den Rand mit den kostbaren Wurzeln gefüllten Korb abzusetzen, den sie auf dem Kopf trug. Die Schwester antwortete nicht, streckte aber spontan die Hände aus und trug die gewichtige Last auf einer Seite mit. Zu zweit stellten sie sie auf den Küchenboden. Esta holte dann eine Schale mit Wasser und setzte sich hin, um ihren Maniok zu waschen und zu schälen. Die Schwester nahm neben ihr Platz und half ihr wie selbstverständlich bei der Arbeit. Esta stellte keine Fragen. Jede Frau aus dem Dorf wäre ihr in der gleichen Situation ebenso zur Hand gegangen. Sie machte sich keine Gedanken über die Beweggründe der Weißen. Esta wusste natürlich, wer sie war, alle Weißen, die in der Umgebung ansässig waren oder sich auch nur auf der Durchreise befanden, waren der Dorfbevölkerung bekannt. Diese Weiße kümmerte sich um die Krankenstation der katholischen Gemeinde von Eseka. Sie war liebenswürdig, einsatzbereit und kompetent, ohne zu anhänglich zu sein. Sie hatte gelernt, Bassa zu sprechen, und verlangte von denen, die sich an sie wandten, nicht, dass man sie auf Französisch anredete, worauf die anderen Weißen größten Wert legten. Dafür wurde sie von der Dorfbevölkerung geschätzt.
     "Ich arbeite auf der Krankenstation der Mission. Meine Kranken erzählen mir oft von Ihnen. Ich habe Kinder gesehen, die Sie von einem chronischen Schnupfen geheilt haben oder einer Kinderkrankheit, ich habe Frauen gesehen, denen Sie bei der Entbindung geholfen haben, ohne Riss, ohne Verletzungen, ich habe bemerkt, dass die Anzahl der Brüche zurückgegangen ist … Kurz, ich hatte Gelegenheit, Ihre Arbeit zu beurteilen, ich wollte Sie beglückwünschen und Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn wir nun zusammenarbeiten, wenn wir unsere Kenntnisse vereinen würden, anstatt jede für sich tätig zu sein, dann, denke ich, würden wir die besten Resultate erzielen. Möchten Sie zu uns kommen und uns in der Krankenstation unterstützen?"
     Esta hörte sich diese ohne Atempause vorgetragene Ansprache an und lächelte.
     "Sie haben Gelegenheit gehabt, meine Arbeit zu beurteilen ", war ihre Antwort, "umso besser für Sie, aber ich, ich konnte Ihre bisher nicht beurteilen. Wer also sind Sie?"
     Sie sah der Weißen, die sofort errötete, in die hellblauen Augen. Aha, sagte sich Schwester Marie-Bernard, das ist also Esther Ngo Mbondo Njee, Esther, Tochter des Löwen, übersetzte sie sich. Heilerin, große Priesterin des Ko'ô. Die Frauen sprachen von ihr mit Hochachtung und Zurückhaltung, die Männer mit einem Funkeln im Blick, die Kinder vergötterten sie, alle, bis auf ihre Tochter Likak. Es war sicher nicht leicht für ein Mädchen, neben einer so charismatischen Frau aufzuwachsen. Ihre geflochtenen Haare waren in einen Foulard gehüllt. Volle, leicht rosafarbene Lippen, die großen Augen etwas auseinanderstehend, üppige Formen … Sie strahlte eine rohe Sinnlichkeit aus, fast verstörend, dachte die Schwester. Löwin ganz bestimmt und Métisse ja … auch.
     Esta betrachtete sie mit der gleichen Neugier. Sie hatte noch nie Weiße berührt, war noch nie einem so nahe gekommen. Die Hände der Schwester waren zierlich und weiß wie Kreide, dachte sie. Dann korrigierte sie sich selbst, eher wie Maissuppe, von kleinen blauen Adern durchzogen. War das ihr Blut, das sie zirkulieren sah? Die Haut in ihrem Gesicht schien von der Sonne gebräunt, mit Ausnahme der vom Nonnenschleier bedeckten Partie. Sie atmete einen leichten Schweißgeruch ein, darunter mischte sich ein Anflug schwach süßlichen Dufts, zu dem sich eine weniger natürliche Note gesellte, Blumen? Nahm sie Parfüm? Für wen betupft sich eine Frau, die Keuschheit gelobt hat, mit Parfüm?, dachte Esta amüsiert. Die ganze Erscheinung war nicht unangenehm, fand sie, nur verwunderlich.
     "Fangen wir von vorn an", sagte die Schwester, indem sie vom Französischen ins Bassa wechselte. Sie wischte ihre nasse Hand unbefangen an ihrem Gewand ab und reichte sie Esta. "Ich bin Schwester Marie-Bernard, ich gehöre zum Orden Unserer Lieben Frau vom Heiligen Herzen."
     Esta nahm die kalte Hand in die ihre und lächelte, ihr bereitete der Übergang zur Sprache der Bassa große Freude. Und die Tat und die Absicht.
     "Esta Ngo Mbondo Njee." Priesterin des Ko'ô, hätte sie hinzufügen können, um gleichzuziehen, aber sie änderte ihre Meinung. "Vergiss Esther, sag Esta zu mir wie alle anderen. Was mich angeht, werde ich nicht 'Schwester' zu dir sagen, also sag mir, wie ich dich nennen soll."
     "Schwester Marie-Bernard", antwortete die andere überrascht.
     "Nicht diesen Namen. Welchen Namen haben dir deine Eltern gegeben, bevor dein Gott dich umbenannt hat, um sich mit dir zu vermählen? Wie ist dein Vorname, den du als Mädchen erhalten hast? Ich möchte auch deinen Familiennamen wissen, der dich mit deinen Vorfahren verbindet."
     Esta hielt immer noch ihre Hand in der ihren. Die Weiße errötete und zögerte mit der Antwort. Esta fügte hinzu: "Ich kann nicht mit einer Person zusammenarbeiten, von der ich weder Namen noch Geschichte kenne, tut mir leid."
     Sie ließ ihre Hand los und beschäftigte sich wieder mit dem Maniok, als wäre die Sache abgeschlossen.
     "Monique", sagte die Schwester schließlich. "Monique Dujeux."
     "Danke, Monnka", antwortete ihr Esta mit strahlendem Lächeln. Sie sprach Monique auf Bassa aus.
     Schwester Marie-Bernard begriff, was für eine verführerische Macht, was für eine Kraft von dieser Frau ausging. Mit ein paar Worten hatte sie gerade eben ihre Achtung erworben und ihre Freundschaft gewonnen.
     "Willst du mit uns zusammenarbeiten?", fragte sie, um auf den Anlass ihres Besuchs zurückzukommen.
     "Aber wir arbeiten schon seit langer Zeit zusammen, hast du es nicht bemerkt? Ich habe vorhin gelogen, ich kenne deine Arbeit. Ich schicke dir seit Langem die Kranken, wenn ich denke, dass deine Medizin eher wirkt als meine. Wir sind Dienerinnen derselben Gottheit, wir lindern die Krankheiten unserer Mitmenschen, jede mit dem ihr eigenen Wissen und den ihr eigenen Kenntnissen. Ich werde nicht zur Mission kommen, wenn es das ist, was du wissen willst. Ich habe nichts übrig für Gebete auf Knien und für die Jungfrauen, die unter allen gebenedeit sind. Ich denke vielmehr, dass die Frauen nicht geboren werden, um als Jungfrauen zu enden. Lassen wir diesen Gesichtspunkt fallen, einverstanden? Setzen wir unsere Arbeit fort, jede auf ihrer Seite. So kommen wir unseren Zielen am nächsten."

Leseprobe Teil 3