Vorgeblättert

Claus Christian Malzahn: Deutschland, Deutschland. Teil 2

01.09.2005.
Auch in meiner Familie fanden Festspiele statt, und zwar alljährlich im Juli. Der Grund für die regelmäßigen Fahrten in ein kleines Dorf bei Leipzig war der Geburtstag meiner Großmutter. Sie war zur Kaiserzeit in Berlin geboren worden, hatte die Weimarer Zeit und die Zeit des Nationalsozialismus dann in der sächsischen Provinz verbracht. In ihrem Heimatstädtchen Gröben im südlichen Sachsen-Anhalt, einem Ort, der wegen seiner brauchbaren Dorfbühne im Gasthaus immerhin dem DDR-Schriftsteller Heiner Müller aufgefallen war, trug meine Oma auch zu DDR-Zeiten, bis kurz vor ihrem Tod, die Protestantenzeitung 'Frohe Botschaft' aus und sammelte die Kirchensteuer ein. Wenn sie uns im Westen besuchte, brachte sie nur Kochbücher, Bibeln und Christstollen mit, weil solche Präsente "nicht politisch" waren. Sie hatte sechs Kinder. Nur zwei, die älteste und die jüngste Tochter, waren ihr im Osten geblieben. Martha, die Älteste, hatte vergeblich auf die Rückkehr ihres Verlobten aus dem Krieg gewartet, und als sie erfahren hatte, dass er gefallen war, einen Bauern aus der Gegend geehelicht. Auf dem großen Bauernhof feierten wir unsere deutsch-deutschen Familienfeste.
     Die Verwandtschaft West (einige Onkel nebst angeheirateten Tanten, Cousins und Cousinen und meiner fünfköpfigen Familie) reiste in Fords, Opels und Volkswagen an, die Verwandtschaft Ost (zwei Tanten nebst angeheirateten Onkels plus schon kurz nach dem Abitur vermählte Kinder) in Trabants und Wartburgs. Autorennen auf dem Weg zur Kirche waren sonntagmorgens unvermeidlich. Die West-Fahrer lachten meist darüber, wenn ein Trabant links an ihnen vorbeizog. Das westdeutsche Siegergrinsen wich spätestens, wenn es auf den Schlaglochstraßen in die Kurve ging: Die Ostler kannten die Tücken der Strecke viel besser und entschieden die Rennen meist für sich. Ich wechselte vor dem Kirchgang deshalb gern in die aus volkseigenen Betrieben stammenden Fahrzeuge, mit den West-Verlierern wollte ich nichts zu tun haben.
     Mittags wurde dann aufgetischt. Was meine Tanten servierten, stand in augenfälligem Gegensatz zu ihren in Briefen und telegrafisch abgegebenen Erklärungen, es gebe nichts zu kaufen in der DDR, "nüschte", weswegen meine Eltern dann umso mehr Westwaren im Kofferraum verstauten. Doch der mehrere Meter lange Tisch in der Bauernstube brach fast zusammen: Berge von Wurst, Fleisch, Geflügel, Salate, Torten jeder Art. Ich durfte Brause trinken, bis ich Bauchweh hatte.
     Die Gespräche bei Tisch drehten sich erstens um Freunde und Verwandte: Wer ist krank, wer hat geheiratet, wer ein neues Auto. Dann redeten die Erwachsenen über Politik. Zunächst klagte der Wortführer Ost, mein angeheirateter Onkel aus Keutschen, über Materialmangel, die restriktive Reisepolitik der Regierung, den Russenmurks im technischen Gerät. Dann antwortete der Wortführer West, ein im Osten geborener Onkel und inzwischen in Schleswig-Holstein lebend, dass ja doch alles nicht so schlimm sein könne. Schließlich gebe es doch auch vieles umsonst, zum Beispiel Krippenplätze, manches sei sehr billig, zum Beispiel Brot. Auch im Westen funktioniere nicht alles, die Arbeitslosigkeit, vor allem bei der Jugend, sei geradezu eine Geißel, etc. pp. Das Ende vom Lied war, dass man es letztlich in beiden Ländern gleich schwierig fand und jeder sein Päckchen zu tragen hatte. Das hatte nichts mit Verharmlosen zu tun. Es war eher die Grundlage für familiären Burgfrieden - und auch eine Frage der Höflichkeit.
     Denn unter Brüdern sollte es erstens keinem viel besser gehen als dem anderen, und wenn es doch so war, durfte man es um der lieben Ruhe willen nicht zugeben. Sollte man den Verwandten, die in "Dem Doofen Rest" leben mussten, das pralle Westleben nun auch noch in allen Farben ausmalen? Sollte man auch noch betonen, dass man selbst als Arbeitsloser in Bremen im Westen besser leben konnte als ein Facharbeiter in Bitterfeld? Das ahnten unsere Verwandten doch. Also ließ man es nach einer Stunde Politikpalaver gut sein, trank noch ein Bier - und erzählte Witze bis zum Morgengrauen. Als Kind fiel mir auf: Es wird viel gelacht in meiner BRDDR-Familie.
     Geweint wurde aber auch, zum Beispiel am 6. Mai 1974. An diesem Tag trat Willy Brandt zurück, dieser Bundeskanzler, von dem ich wusste, dass er dafür gesorgt hatte, dass ich öfter meine Cousins besuchen durfte. Ich war im Schwimmbad, als mir ein Klassenkamerad erklärte, der "doofe Brandt" sei jetzt "weg". Ich wusste, dass der Vater des Jungen CDU wählte und schrie ihn an, er sei ein Lügner. Dann prügelten wir uns, bis der Bademeister kam und uns erst an den Ohren zog und schließlich aus dem Hallenbad warf. Mein Fausteinsatz aber hatte Brandt nicht retten können. Ein Langzeitagent der Staatssicherheit hatte ihn zu Fall gebracht. Mein Vater erklärte mir knapp Elfjährigem anschließend zu Hause im Hobbykeller den deutsch-deutschen Verratsfall mit trauriger Stimme. Ich habe ihn nie wieder so niedergeschlagen gesehen. An der Tür hing ein Wahlplakat mit dem Antlitz des ersten bundesrepublikanischen SPD-Kanzlers. In großen Lettern stand wie zum Trotz auf dem Poster: "Willy Brandt muss Kanzler bleiben!"
     Die Affäre Günter Guillaume war einer der größten Spionageskandale der Nachkriegsgeschichte. Guillaume war neben Rainer Rupp alias "Topas", der in Brüssel die Nato auskundschaftete, der wichtigste Agent von Markus Wolf, dem Chef der Hauptabteilung Aufklärung der Stasi. In der HVA arbeiteten insgesamt 3800 Mitarbeiter. In der Bundesrepublik versorgten zum Zeitpunkt des Mauerfalls noch 100 Agenten und Informanten Ost-Berlin mit mehr oder weniger wichtigen Informationen. Der ehemalige Berliner Flakhelfer Guillaume war Anfang der 50er Jahre vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben und ausgebildet worden. In dieser Zeit lernte er übrigens Tino Schwierzina kennen, der als erster frei gewählter Ost-Berliner Bürgermeister 1990 als Pendant zum Westberliner Regierenden Bürgermeister für ein paar Monate Weltruhm genoss. Schwierzina war 1951 Guillaumes Trauzeuge - ob die beiden mehr verband, als bloße Freundschaft, darüber wird noch immer spekuliert.
     Guillaume geht mit seiner Frau Christel - ebenfalls eine Stasi-Agentin - 1956 im Auftrag des MfS in den Westen. Er tritt in die SPD ein und macht eine steile Karriere, denn er ist fleißig und charmant. Nach Zwischenstationen in Frankfurt landet er schließlich in Bonn und steigt 1972 zum persönlichen Referenten Willy Brandts im Kanzleramt auf. Politisch gilt er als Jusofresser - eine perfekte Tarnung. Dennoch schöpft der Bundesnachrichtendienst Verdacht. Doch die Behörde vertändelt den Vorgang. Trotz erheblicher Hinweise auf eine Agententätigkeit Guillaumes wird der MfS-Mann nicht daran gehindert, Brandt im Urlaub zu begleiten. Guillaume weicht kaum von der Seite des Kanzlers. Am frühen Morgen des 24. April 1974 klingelt es aber dann an Guillaumes Haustür in Bad Godesberg. Der Agent öffnet im Bademantel. "Sind Sie Herr Günter Guillaume?", wird er von den westdeutschen Beamten gefragt. "Wir haben einen Haftbefehl gegen Sie." Dann begeht Guillaume einen schweren Fehler. Anstatt zu schweigen, belastet er sich selbst: "Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier - respektieren Sie das!", ruft er. Was Guillaume nicht wusste: Außer Verdachtsmomenten lag nichts Handfestes gegen ihn vor. Nun ist er dran. Das Oberlandesgericht in Düsseldorf verurteilt Guillaume wegen schweren Landesverrats zu dreizehn Jahren Gefängnis, seine Frau bekommt acht Jahre Haft. 1981 wird er gegen West-Agenten ausgetauscht und in der DDR als "Kundschafter des Friedens" gefeiert. Fortan bildet er MfS-Agenten aus. Guillaume stirbt 1995 im wiedervereinigten Berlin. Seine Beerdigung wird von ehemaligen Stasi-Offizieren organisiert, die nach der Wende ein Bestattungsunternehmen gegründet haben.
     Brandts Nachfolger war ein Hamburger mit Prinz-Heinrich-Mütze. Der Wind wehte nach der desillusionierenden Guillaume-Erfahrung nun etwas steifer durch das geteilte Deutschland. Helmut Schmidt wurde respektiert, war aber nie so beliebt wie sein Vorgänger - damit widerfuhr ihm Unrecht. Denn auch ohne die Agentenaffäre wäre Brandt, der nach den grundsätzlichen Weichenstellungen zur Ostpolitik politisch eher vor sich hin wurschtelte als klare Ziele vorgab, irgendwann ins Trudeln gekommen. Manchmal verschwand er einfach und versank mehrere Tage in Depressionen. Horst Ehmke, Chef des Kanzleramts, holte Brandt dann aus seiner nordischen Schwermut wieder zurück in den Politalltag. "Komm, Willy, wir müssen regieren!", rief Ehmke einmal seinem Chef zu.
     Am Kurs der kleinen Schritte und der Entspannung hielt Helmut Schmidt, im Gegensatz zum Intellektuellen Brandt eher ein Macher-Typ, aber fest. In der DDR und der Bundesrepublik wuchs nun die Generation der Baby-Boomer heran, die - wie ich auch - an ein geeintes Deutschland keine persönliche Erinnerung mehr hatte. Das westliche Fernsehen und der Hörfunk hielten Deutschland aber noch zusammen - und zwar nicht nur im Wetterbericht, wo die Landkarte noch von Düsseldorf bis Dresden reichte, sondern vor allem in vielen Sendungen und Berichten. Der Empfang westlicher Hörfunk- und Fernsehprogramme war Privatpersonen in der DDR zwar nie ausdrücklich verboten, doch wer sich in den 50er, 60er und auch noch in den 70er Jahren dazu bekannte, gerade die ›Tagesschau‹ oder den ›Internationalen Frühschoppen‹ gesehen zu haben, konnte sich eine Menge Ärger einhandeln. In diesem Jahrzehnt hat die DDR viel Geld für Störsender ausgegeben. In Strafprozessen wurde es manchem Angeklagten zu seinen Ungunsten ausgelegt, wenn er sich dazu bekannt hatte, Westsender zu hören. Polizisten und Soldaten durften von Dienst wegen gar kein Westfernsehen gucken oder Westsender wie den RIAS hören. Auch noch in den 80er Jahren, als es in der DDR bereits ganz offiziell Gemeinschaftsantennen mit ARD/ZDF-Empfang gab, wurde bei der Volksarmee penibel darauf geachtet, dass nur der DDR-Rundfunk gehört wurde. Der politisch korrekte Äther war mit einem Klebeband markiert, Offiziere kontrollierten regelmäßig nach. Rekruten, die heimlich RIAS hörten und dabei erwischt wurden, mussten das Radio abgeben - es wurde eingezogen.
     Westliche Zeitungen waren in der DDR nur heimlich zu bekommen. Außer der kommunistischen 'Unsere Zeit' (ZU) und der Westberliner SEW-Zeitung 'Die Wahrheit' gab es offiziell nichts im Zeitschriftenhandel. Aber selbst die Blätter der westdeutschen Genossen erfreuten sich im Staatsvolk gewisser Beliebtheit: Sie druckten nämlich das Programm der Westfernsehsender ab. Die deutsch-deutschen Auseinandersetzungen spielten sich nach dem Mauerbau zunehmend über die Medien ab. An der Rundfunk- und Fernsehfront, glauben manche, habe die SED den Kalten Krieg letztlich verloren. Im Juli 1966 musste der Sektor Rundfunk/Fernsehen der Zentralkomiteeabteilung "Agitation" in einem internen Bericht einräumen, dass sich bereits damals 90 Prozent der Bevölkerung, darunter auch viele SED-Genossen, vor allem aus den Westmedien informierten. In der streng geheimen Untersuchung wurden peinliche Tatsachen zutage gefördert: Da wurden im realen Sozialismus schon mal ganz real Gemeinderatssitzungen verlegt, wenn interessante West-Sendungen im Fernsehen liefen. Karl Eduard von Schnitzlers 'Schwarzer Kanal' wurde vor allem von jungen Leuten und Studenten boykottiert. Die hörten lieber Radio Luxemburg, Deutschlandfunk oder den Sender Freies Berlin.
     ARD und ZDF waren fast überall in der DDR terrestrisch zu empfangen. Nur im Elbtal und in Dresden war das technisch unmöglich. Deswegen wurde die ARD/ZDF-freie Zone gern "Tal der Ahnungslosen" genannt. Westliche Radiosender waren dort freilich auch über Mittel- und Kurzwelle zu hören. Gerade für Oppositionelle hatten diese Westmedien eine große Bedeutung. Von Aleksander Solschenizyns ›Archipel Gulag‹ - einer wichtigen Abrechnung mit dem unbarmherzigen Strafsystem der Sowjetdiktatur - hörten viele ostdeutsche Intellektuelle zum ersten Mal im Radio. Manche Sendungen veröffentlichten Texte verbotener DDR-Schriftsteller und hatten im Osten vermutlich oft mehr Hörer als im Westen. Das Virus der Demokratie fand seinen Weg in die DDR vor allem über den Äther: "Wir waren per Fernsehen Zaungäste der Bundesrepublik", sagte der ostdeutsche SPD-Politiker Richard Schröder in seiner Rede zum Tag der Einheit am 3. Oktober 1993. "In Ost-Berlin konnte man erleben, daß aus dem Führerhaus des Milchautos die Bundestagsdebatte tönte. Wir haben schon ein bisschen am politischen Leben der zweiten Republik auf deutschem Boden teilgenommen. Und manche von uns haben es bewundert, wie das möglich ist: die harte Auseinandersetzung in der Sache, das Aufeinandertreffen entgegengesetzter Beurteilungen und dennoch ein stabiler Staat. Gegner bleiben, ohne Feind zu werden."

Teil 3