Vorgeblättert

Claus Christian Malzahn: Deutschland, Deutschland. Teil 1

01.09.2005.
Kapitel 4

In einem anderen Land - Wandel durch Annäherung: Willy schließt den Osten auf - Die Jugend der Welt in Ost-Berlin - Deutsch-deutsche Weltfestspiele in einem Dorf bei Leipzig - Verrat in Bonn - Depression im Hobbykeller - Ein Konzert in Köln - Ausbürgerung und Exodus - Jahn in Jena

Seit meiner Kindheit reiste ich regelmäßig in dieses Land, in dem die Menschen meine Sprache sprachen und mit mir verwandt waren - das aber trotzdem oft anders aussah als jenes Deutschland, in das ich am 11. August 1963 in Göttingen nahe der Zonengrenze hineingeboren worden war. Die Bäckerbrötchen waren kleiner als bei mir zu Hause, die Straßen waren holpriger, und die Onkel und Tanten, die ich mit meinen Eltern besuchte, lebten in Häusern, deren Wände seit längerem nicht gestrichen waren. In den Einkaufsmärkten gab es ganz andere Sachen als bei mir zu Hause, die Cola schmeckte scheußlich, aber ich fand die DDR ganz okay, vor allem die Spielzeugindianer waren viel besser, weil sie größer, bunter und in verwegeneren Posen daherkamen als ihre westlichen Blutsbrüder und man mehr von ihnen bekam für sein schmales Taschengeld. In die DDR fuhren wir zu Ulbrichts Zeiten noch mit der Bahn. Als Willy Brandt Kanzler wurde, reisten wir in einem VW-Käfer, und als Helmut Schmidt dann das Steuer übernahm, in einem Opel-Rekord. Meine erste Reise in die DDR aber machte ich mit meinem Vater in einem dieser kantigen Abteilwagen der Deutschen Reichsbahn, die heute noch in Rumänien und Bulgarien im Einsatz sind. Ich saß stumm hinter der Glasscheibe und starrte hinaus. Draußen war es dunkel. Im Fenster spiegelten sich die anderen Reisenden. Wenn ich mein Gesicht ganz fest an das Glas drückte, sah ich die Welt dahinter. Sie bestand aus Nachtschatten, fliegenden Böschungen, schwarzen Bäumen, knatternden Brücken und einem weiten, mondhellen Himmel mit rasenden, graublauen Wolken.
     Die DDR war eine hinter dem Spiegel verborgene Welt. Meine Eltern, Jahrgang 1938, stammten aus Mecklenburg und Sachsen, sie waren in der DDR zur Schule gegangen. Doch wir im Westen nachgeborene Kinder wussten nicht viel über dieses staatssozialistische Konglomerat, außer, dass der Anführer Erich Honecker hieß und die Erwachsenen viele Witze über ihn machten, die man als Kind aber nicht immer verstand. Meine Cousins und Cousinen und deren Eltern aber schienen den Westen zu kennen, obwohl sie uns noch nie besucht hatten. Sie wussten, wie Willy Brandt geschrieben wird, und dass er aus Lübeck kam, sie verfolgten jede Rede von Franz Josef Strauß und machten Witze über die Prinz-Heinrich-Mütze von Helmut Schmidt. Sie betonten stolz, dass der westdeutsche Innenminister Hans-Dietrich Genscher aus Halle stammte, sie kannten bis auf die PS-Zahl und den Hubraum genau den Unterschied zwischen einem Opel-Karavan, einem Opel-Kapitän und einem Opel-Rekord. Sie verstanden nicht, warum die CDU/CSU ständig auf Willy Brandt und dessen sozialliberaler Koalition rumhackte und die Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung kritisierte. Denn je länger Brandt regierte, desto öfter fuhren wir zu unseren Verwandten in den Osten.
     In Bonn war die Politik, die dazu führte, dass unsere deutsch-deutschen Familientreffen häufiger und komplikationsloser ablaufen konnten, stark umstritten. Ein Lagerkrieg beherrschte die Republik wie zuletzt bei der Debatte um die Wiederbewaffnung. Willy Brandt hatte bereits in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 von der Existenz zweier Staaten in Deutschland gesprochen. Das war eine Sensation. Die Bundesregierung machte deutlich, dass sie bereit war, nach der Phase der Adenauer?schen Ignoranz und dem Stillstand in der großen Koalition unter Kiesinger neue Wege in der Deutschlandpolitik zu gehen. Die CDU/CSU, die fest mit einer Fortsetzung der großen Koalition gerechnet hatte und wütend war über das Zusammengehen von Sozialdemokraten und Liberalen, witterte hier den "Ausverkauf deutscher Außenpolitik".
     Brandts Architekt der neuen Ostpolitik war Egon Bahr, ein ehemaliger RIAS-Journalist und damals ein "kalter Krieger", den Brandt aus seiner Zeit in Berlin kannte. Bahr, nun Staatssekretär im Kanzleramt, interpretierte die Wiedervereinigung als "außenpolitisches Problem". Später erklärte er einmal: "Der Weg nach Ost-Berlin führte über Moskau." Bahr formulierte das Konzept vom "Wandel durch Annäherung". Zunächst verhandelte die neue Regierung mit den Sowjets über einen Gewaltverzicht - und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Moskau signalisierte Gesprächsbereitschaft. Im Dezember 1970 unterzeichnete Brandt dann in der polnischen Hauptstadt den "Warschauer Vertrag" - und bestätigte die "Unverletzlichkeit" der Staatsgrenze Polens. Die Konservativen in Deutschland sahen vor allem, dass Brandt damit auf ein Drittel des ehemaligen Gebiets des Deutschen Reiches verzichtete. Eine beispiellose Kampagne, gegen Brandt, Bahr und Außenminister Scheel setzte ein, an der auch viele konservative Zeitungen teilhatten. Der Warschauer Vertrag sorgte aber nicht nur in der Anhängerschaft der CDU für Unruhe. Auch Walter Ulbricht und die SED-Spitze betrachteten die Annäherung Brandts an Moskau und die Vertragsstaaten des Warschauer Pakts mit Sorge. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Brandt glich aus Sicht Ulbrichts einer Frechheit. Denn die Oder-Neiße-Grenze verlief ja zwischen Polen und der DDR - nicht zwischen Polen und der Bundesrepublik. Ulbricht widersetzte sich der von Moskau erwiderten Entspannungspolitik - und bezahlte dafür mit dem Ende seiner Karriere. Am 3. Mai 1971 trat er "aus gesundheitlichen Gründen freiwillig" zurück und wurde von Erich Honecker abgelöst. Nun war der Weg frei. Egon Bahr fasste die neue Bonner Strategie zusammen: "Früher hatten wir gar keine Beziehungen zur DDR, jetzt haben wir wenigstens schlechte."
     Die Bundesregierung gab die Hallstein-Doktrin und damit den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland auf - und setzte auf die Politik der "kleinen Schritte". Immer mehr Grenzübergänge von Deutschland nach Deutschland wurden geöffnet, Transitabkommen sicherten den zivilen Zugang nach West-Berlin, Reiseabkommen garantierten großzügigere Besuchsregelungen. "Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein", erklärte Brandt. Die sozialliberale Regierung erkannte die DDR also faktisch an. Völkerrechtlich aber blieb die DDR ein Teil Deutschlands. Mit diesem politischen Kunstgriff vollbrachten Brandt, Bahr und Scheel ihr politisches und diplomatisches Meisterstück, das nach zwei Jahrzehnten der Stagnation neue Perspektiven im deutsch-deutschen Schachspiel eröffnete. Vielleicht, sagten meine Onkel und Tanten, schafft der Brandt es ja, dass wir eines Tages auch mal in den Westen reisen dürfen? Seine Verehrung in der DDR kannte kaum Grenzen. Als Brandt sich im März 1970 zum ersten Mal mit dem DDR-Staatspräsidenten Willi Stoph in Erfurt traf, versammelten sich Tausende Menschen vor dem Tagungshotel am Bahnhof. "Willy Brandt!", riefen sie, "Willy Brandt ans Fenster!" Daraufhin schob er die Gardinen beiseite und öffnete es. Die Leute jubelten, und auch wer die bewegende Szene heute betrachtet und zuhört, der wird nicht übersehen und überhören, dass in diesem Jubel vor allem verzweifelte Hoffnung auf bessere Zeiten steckte.
     Stoph war über diese offensichtliche Brüskierung seiner Person und den ganzen Staatsquark, der an ihr hing, nicht amüsiert. Brandt, ganz Realpolitiker, machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste, als wolle er sagen: "Lasst mal gut sein, wir verhandeln hier gerade, ärgert den Stoph nicht, gebt mir ein bisschen Zeit." Die Leute verstanden und gehorchten dem westdeutschen Kanzler aufs Wort. Wenn meine Eltern mit ihren Verwandten in Ostdeutschland über diese Szene sprachen, wurde es still, manchmal rollten Tränen. Etwas mehr als 19 Jahre später sollte sich diese Geschichte unter anderen Vorzeichen mit anderen Beteiligten ganz ähnlich in Prag wiederholen. Im März 1970 vor dem Erfurter Hof aber wurde jedenfalls für alle sichtbar, dass Stoph nichts weiter als ein Präsidentendarsteller war, der von Moskaus Gnaden regierte und bei echten Wahlen nicht einmal einen Blumentopf mit roten Nelken gewonnen hätte. Ohne dies im Detail zu planen, hatte Brandt in Erfurt die ersten Brocken aus der Berliner Mauer gehauen. Mit ihm an der Spitze hätte eine SPD damals in der DDR aber vermutlich jene 99,7 Prozent-Ergebnisse eingefahren, die der Nationale Block unter Führung der SED immer für sich in Anspruch nahm. Brandt wollte Erleichterungen für die kleinen Leute - und war bereit, viel dafür zu opfern. Begeistert war niemand darüber, dass Pommern, Schlesien und Ostpreußen nun für Deutschland für immer verloren sein sollten. Selbst Sympathisanten der neuen Regierung, wie die 'Zeit'-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, die in ihrer Zeitung in langen Essays vehement für die neue Ostpolitik warb, fiel die Aufgabe der alten Heimat sehr schwer. Willy Brandts Einladung, der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages in Warschau beizuwohnen, lehnte sie ab - diesem Trennungsschmerz wollte sich die in Ostpreußen geborene Journalistin nicht aussetzen. Willy Brandt hat das respektiert und schrieb auf ihre Absage ein paar freundliche Zeilen zurück.
     Die Zahl der Besuche von West nach Ost stieg nun rasant. Gleichzeitig stieg auch der Warenaustausch - oft im privaten. Wir brachten zum Beispiel Kaffee, Schallplatten und (heimlich) Bücher mit. Auf der Rückfahrt lagen Christstollen, Modelleisenbahnen oder Holzfiguren aus dem Erzgebirge im Kofferraum. Einen der glücklichsten Tage seines Lebens erlebte mein um einige Jahre älterer Cousin, als ihm mein Vater aus Westdeutschland die neue Rolling-Stones-Platte in dieses kleine Dorf zwischen Weißenfels und Leipzig mitbrachte. Es war wohl 'Exile on main street', ganz sicher bin ich mir aber nicht. Jedenfalls verschwand er für den Rest unseres Besuchs in seinem Zimmer, dessen Wände mit westlichen Einkaufstüten aus Plastik und einigen Bravo-Postern tapeziert waren. Wir zählten das Jahr 1972, und die DDR war auf ihrem Höhepunkt.
     Ulbricht war von Honecker und Breschnew aufs Altenteil verbannt worden, nach und nach wurde sein Name aus den offiziellen Schriften getilgt. In einer 1976 erstmals verlegten offiziellen Broschüre über die Gründung der DDR taucht die zentrale Figur der DDR-Gründung nur noch ganz am Rande auf. Kein einziges Foto von Walter Ulbricht wurde gedruckt. Stattdessen steht Wilhelm Pieck im Vordergrund. Die DDR versuchte, sich einen sanften Anstrich zu geben. Denn die Aufkündigung der Hallstein-Doktrin durch die Regierung Brandt hatte auch zur Folge, dass immer mehr Staaten die DDR anerkannten. Bundesrepublik und DDR wurden in die UNO aufgenommen. Die SED legte gesteigerten Wert auf internationale Akzeptanz: Im Sommer 1973 veranstaltete die FDJ die "X.Weltfestspiele der Jugend und Studenten", eine internationale Party und Propagandashow, an der in Berlin immerhin acht Millionen Menschen teilnahmen, darunter 25.000 Gäste aus dem westlichen Ausland.
     Die DDR-Funktionäre gingen nicht mit beschwingter Stimmung in diese Mammut-Veranstaltung, auf der gefeiert, diskutiert und vor allem der Sozialismus gerühmt werden sollte. Denn die neunten Weltjugendfestspiele in Sofia waren den kommunistischen Organisatoren im Rebellionsjahr 1968 völlig aus dem Ruder gelaufen. Kritische Sozialisten des westdeutschen SDS hatten dort das orthodoxe Programm im Verein mit Genossen aus der ˇCSSR und Jugoslawien gehörig durcheinander gewirbelt. Die akribische Planung der Veranstalter war nichts mehr wert. Da tauchten Mao-Plakate und Trotzki-Poster auf, es kam zu spontanen Demonstrationen und unbequemen Debatten, etwa über den Prager Frühling. Die Teilnehmer aus der reformwilligen Tschechoslowakei wurden schikaniert, man verweigerte ihnen die Einreise. Zwei Wochen später rollten die sowjetischen Panzer durch Prag. Das Virus der Rebellion wollte sich die staatstragende FDJ in Ost-Berlin nicht noch einmal einfangen. Das Festival wurde akribisch geplant, natürlich im Schulterschluss mit dem immer mächtiger werdenden Ministerium für Staatssicherheit. Das MfS verhinderte bis zum 28. Juni 1973 die Reise von 2720 so genannten "negativen Personen" nach Ost-Berlin. Gegen 2073 Personen wurde Haftbefehl erlassen, insgesamt 800 Menschen mussten die "Hauptstadt der DDR" verlassen oder hatten eine Aufenthaltsbeschränkung erhalten.
     Die Aktionen der Stasi liefen unter dem Tarntitel "Banner". Sorgfältig waren schon im Vorhinein jene Kandidaten ausgewählt worden, die nach Ansicht von Mielkes Offizieren garantierten, die Republik "würdig" zu vertreten. Unsichere Kantonisten wurden abgelehnt. Zu den Gründen für eine Absage zählten kriminelle Delikte, "mangelnde politische Zuverlässigkeit", "dekadentes Auftreten" und "unmoralisches oder rowdyhaftes Verhalten". Damit in Ost-Berlin nicht wieder so spontane Debatten geführt wurden wie in Sofia, wurden zur "Sicherstellung" der Überlegenheit der ostdeutschen Jugendlichen bei kontroversen Diskussionen als FDJler verkleidete Mitarbeiter des MfS eingeschleust. In "kritischen" Situationen sollten sie "konsequent" die Politik der SED und der Regierung der DDR vertreten. Nicht genehmigte Flugblätter sollten von ihnen eingesammelt, dokumentiert und es sollte darüber beim MfS Bericht erstattet werden.
     Falls doch etwas schief ging, hatte man noch eine stille Reserve parat. Um vor allem den sozialdemokratischen Gästen aus Westdeutschland - sie hielt das MfS für extrem gefährlich - Paroli bieten zu können, waren auch etwa 400 erfahrene Kader der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, des MSB Spartakus und der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nach Ost-Berlin gereist. Sie waren aber, anders als die SPD-Funktionäre und die übrigen westdeutschen Gäste, als "Touristendelegation" in die DDR gekommen. Die westdeutschen DDR-Fans sollten als "politische Reserve" in "notwendigen Situationen", als "natürliches Gegengewicht" zu Jugendgruppen aus West-Berlin und der Bundesrepublik in Diskussionen eingreifen und somit den realen Sozialismus rhetorisch zum Sieg führen.

Teil 2