Vorgeblättert

Charles Simmons: Belles Lettres, Teil 1

III
Keine Sau kennt Harold Brodkey


Mr. Margin rief mich in sein Büro und forderte mich auf, Platz zu nehmen. Er zitierte Redaktionsmitglieder in sein Büro, wenn das Gespräch unter vier Augen stattfinden sollte. Wenn er einen allerdings bat, Platz zu nehmen, hatte jemand ein echtes Problem. Diesmal hatte Mr. Margin selbst eins.
      "Ich weiß nicht, Frank, ob Sie es wissen, aber Tool kann mich nicht leiden."
      "Nein, wußte ich nicht", sagte ich, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Mir war zu Ohren gekommen, daß Mr. Margin vor dem Rauswurf stand, zumindest aber auf eine untergeordnete Position bei Mer et Terre, dem Reisemagazin von Protean, degradiert werden sollte.
      "Ja, sie kann mich überhaupt nicht leiden."
Tool war Mary Tooling, die Frau von Cyrus Tooling Jr., des gegenwärtigen Verlegers der Protean-Gruppe, eines Sohns des Unternehmensgründers. Mrs. Tooling brachte den kulturellen Zeitschriften des Unternehmens besonderes Interesse entgegen. Ich beobachtete sie amüsiert, wenn sie ihre monatlichen Konferenzen mit der Belles Lettres Redaktion abhielt. Sie war eine dominante Frau, etwa fünfundvierzig Jahre alt, mißtrauisch, elegant gekleidet, schwarze Augen, mit denen sie uns abschätzig musterte. Sie führte das große Wort. Gelegentlich stellte sie auch eine Frage, wartete die Antwort aber erst gar nicht ab. Oder sie hörte sich die Antwort an und nickte, wenn sie sich bestätigt fühlte. Oder sie hörte nicht auf das, was wir sagten, sondern verstand nur das, was sie hören wollte. Als sich zum Beispiel einer von uns beklagte, daß er ein größeres Büro brauchte, sagte sie schließlich: "Also gut, dann kriegen Sie eben eine Gehaltserhöhung."
     "Ich weiß nicht, warum sie mich nicht leiden kann", sagte Mr. Margin. "Ich befolge ihre Anweisungen so penibel, daß sogar sie mir erklären kann, was sie von mir wollte. Ich streite mich nie mit ihr. Ich rede nicht schlecht über sie. Es stimmt schon, daß wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Aber wir sind hier immerhin bei Protean Publications, wo die verschiedensten Strömungen des amerikanischen Journalismus zusammenlaufen, und zwar harmonisch und profitabel." Das letzte Wort klang irgendwie falsch, und Mr. Margin machte eine Pause, um es in seiner Rede sacken zu lassen. "Frank, während der kurzen Zeit, die Sie bei Belles Lettres sind, haben Sie sich als scharfer Beobachter erwiesen. Wissen Sie irgend etwas, das vielleicht ... die Situation entschärfen könnte?"
Er wollte Klatsch hören. "Was halten Sie eigentlich von Mrs. Tooling?" fragte ich.
Er straffte sich. "Was ich von Mrs. Tooling halte? Ich finde, sie ist ein ..." Nun folgte eine entsetzlich lange Suche nach dem treffenden Wort, das sich dann als "Drahtbesen" entpuppte.
     "Könnte es sein, daß Mrs. Tooling Sie nicht leiden kann, weil Sie sie nicht leiden können?"
Auf die Idee war Mr. Margin noch gar nicht gekommen und wirkte verblüfft, als er darüber nachdachte. Als er wieder zu sich kam, sagte er: "Glauben Sie, daß sich etwas ... an der Situation ändern ließe?"
"Wenn Sie ihr gegenüber plötzlich freundlich auftreten, weiß sie natürlich, daß Sie schwindeln. Da gäben Sie sich eine Blöße. Ich würde zu Flüsterpropaganda raten, Mr. Margin."
"Flüsterpropaganda", sagte er. "Jawohl, und bei der heutigen Konferenz halten wir außerdem die Augen offen und richten unsere Antennen aus, nicht wahr? Es versteht sich wohl von selbst, Frank, daß diese Sache unbedingt unter uns bleiben ..."
"Selbstverständlich", sagte ich.
Was für eine beschissene Situation, dachte ich, und das in Mr. Margins Alter. Er ist ein hoch angesehener Redakteur. Er ist seit zehn Jahren Mitglied der Grolier-Gesellschaft und inzwischen in der Zulassungskommission. Er steckt die Prügel weg, die er von Verlegern wie Lyle Stuart bekommt, weil Belles Lettres dessen Bücher nicht rezensiert, und er hört solchen Leuten wie Don Fine freundlich zu ("Jonathan, Sie wissen, daß ich mich nie beklage, aber ..."). Er schafft es auch, daß nur die besten Autoren für ihn schreiben, und zwar für Honorare, die deutlich niedriger als bei anderen Zeitschriften sind. Dennoch wäre niemand scharf darauf, einem annähernd qualifizierten, neunundvierzigjährigen Redakteur einen Job für das Gehalt anzubieten, auf das sich Mr. Margin hochgearbeitet hat. Ich hatte den Eindruck, daß eine akademische Karriere für ihn besser gewesen wäre. Dann wäre er inzwischen Fachbereichsdirektor an einem guten oder Präsident an einem mittelmäßigen College gewesen. In beiden Fällen hätte er es dann mit Leuten zu tun gehabt, mit denen er sich besser verstünde als mit Mary Tooling.

Mrs. Tooling erwartete uns im großen Konferenzsaal von Protean. Sie präsidierte am Kopf des langen Tisches, und Mr. Margin nahm seinen Platz am anderen Ende ein. Sie sahen aus wie Mann und Frau, und wir anderen waren wie die Kinder, die an den Seiten des Tisches saßen.
"Marge", begann Mrs. Tooling, "ich habe gestern mit Dick Snyder zu Mittag gegessen. Dick Snyder", erklärte sie uns Ahnungslosen, "ist der Chef von Simon and Schuster. Dick findet, daß Belles Lettres stinkt. Ich sagte, ‚Dick, wie meinen Sie das?‘. ‚Stinkt‘, sagte er. ‚S-t-i-n-k-t.‘ So redet der Chef von Simon and Schuster, Marge." Mrs. Tooling lehnte sich in Erwartung von Mr. Margins Antwort über den Tisch, und die Redaktionsmitglieder drehten die Köpfe hin und her, als verfolgten sie ein Tennisspiel.
"Das verstehen Sie nicht richtig, Tool", sagte Mr. Margin. "Wenn uns ein Verleger auf diese Weise kritisiert, dann will er uns damit weichkochen, damit wir ihm bei nächster Gelegenheit etwas schuldig sind. Das ist alles."
Wir wandten uns wieder Mrs. Tooling zu. Mr. Margins erste Worte - das verstehen Sie nicht richtig - waren unglücklich gewählt. Mrs. Tooling sagte: "Ich will Ihnen mal was sagen, Marge. Wenn Kongreßabgeordnete, Senatoren, Verfassungsrichter oder der Präsident der Vereinigten Staaten bestimmte Dinge wissen wollen, dann rufen sie mich oder meinen Mann an. Ich verstehe sehr wohl."
"Ich verstehe auch", sagte Mr. Margin nach einer Pause.
Mrs. Tooling fuhr fort: "Dick Snyder, Chef von Simon and Schuster, behauptet also, Belles Lettres stinkt. Was sollte ich dazu sagen? Daß es nicht stinkt? Hätte ich Dick Snyder treuherzig in die Augen blicken und ihm in aller Unschuld sagen sollen: ‚Dick, Belles Lettres stinkt nicht‘?"
Sie meinte die Frage tatsächlich ernst und zeigte auf mich.
"Na klar", sagte ich.
"Oh ja, ich hätte es sagen können. Wegen Meineid würde mich deshalb niemand in den Knast bringen. Aber ich frage Sie jetzt mal ganz direkt: Stinkt Belles Lettres oder stinkt es nicht?" Sie zeigte auf Barry Vellum.
"Als stinken würde ich das nicht bezeichnen, Tool", sagte Barry.
"Ich auch nicht", sagte Mrs. Tooling. "Ich würde sagen, daß es überhaupt keinen Geruch hat. Wenn ein Kritiker von Theâtre sich ein Stück ansieht und sich amüsiert, dann sagt er: ‚Ich habe mir das Stück angesehen, und ich habe mich dabei amüsiert. Wenn ihr euch das Stück anseht, werdet ihr euch auch amüsieren.‘ Aber was macht die Literaturkritik? Sie macht nur Andeutungen. Wenn ein Buch gut ist, will ich das deutlich hören." Mrs. Tooling hob die Stimme. "Schreien Sie es heraus: ‚Ich liebe dies Buch. Es ist ein tolles Buch.‘"
"Begeisterung ist billig", sagte Mr. Margin, "und nicht immer überzeugend."
"Wer redet denn von Begeisterung?" sagte Mrs. Tooling. "Ich rede von Verständlichkeit."
Armer Mr. Margin! Er dachte, längst unter sein Niveau gegangen zu sein, aber Mrs. Tooling sagte ihm, daß es immer noch niedriger ging.
Sie redete weiter: "Belles Lettres ist die mächtigste Literaturzeitschrift der Welt, aber Sie nutzen diese Macht nicht. Ich wünsche nicht, daß Sie Geschmack aufbringen, Geschmack bedienen, Geschmack verfeinern. Ich wünsche, daß Sie Geschmack produzieren! Ich will nicht, daß Belles Lettres darüber spekuliert, wer den Nobelpreis bekommt, ich will, daß Belles Lettres über den Nobelpreis entscheidet."
"Auf den Pulitzer-Preis haben wir einen gewissen Einfluß", sagte Mr. Margin. "In diesem Jahr gehöre ich der Jury an ..."
"Ich rede nicht von Gemauschel hinter den Kulissen. Ich will, daß derlei auf den Tisch kommt. Ich will, daß Belles Lettres entscheidet, wer leben darf und wer sterben muß. Und keine Kompromisse."
Ich fand, daß das zu weit ging, und sagte deshalb: "Mrs. Tooling, ich habe eine Idee."
"Sie können mich Tool nennen! Schießen Sie los!" Sie war jetzt richtig in Fahrt.
"Warum legt Belles Lettres nicht einfach fest, wer die fünfundzwanzig besten amerikanischen Schriftsteller sind? Eins, zwei, drei, vier ..."
Mrs. Tooling starrte mich an und sagte: "Die fünfundzwanzig besten amerikanischen Schriftsteller. Eins, zwei, drei, vier."
     "Und keine Unentschieden", sagte ich.
"Und keine Unentschieden", sagte sie. "Wie heißen Sie?"
"Frank Page, Ma’am, aber das sollte eigentlich nur ein Witz sein."
Das überhörte sie. "Marge, das ist genau das, was wir brauchen. Damit kommen wir auf die Titelseite der Times. Es wird Kommentare und Gegenlisten hageln. Wie war doch noch mal gleich Ihr Name?"
"Frank Page."
"Margin!" brüllte Mrs. Tooling.
"Jawohl?"
"Auf geht’s!"
Mr. Margin nickte.
Mrs. Tooling stand auf. "Jetzt stimmt die Richtung. Eins, zwei, drei, vier ..."
"Und keine Unentschieden", sagte ich.
"Und keine Unentschieden!" sagte sie.

Teil 2