Vorgeblättert

Antisemitismus von links, Teil 3

Dieser Mangel schlägt sich besonders folgenschwer bei den Erklärungsansätzen zur Genese des antisemitischen Antizionismus von links nieder: Edmund Silberner, Autor zweier Standardwerke zum Verhältnis der Sozialisten und Kommunisten zur »Judenfrage«, stellt die These auf, der Antizionismus stehe im modernen Sozialismus in einer »langanhaltenden antisemitischen Tradition«, die bereits bei den französischen Frühsozialisten und bei Karl Marx in seiner Jugendschrift »Zur Judenfrage« beginne. (11) Weitere Autoren erklären Marx gar zum ideologischen Stammvater des Stalinschen Antisemitismus. (12) Diese Behauptung widerspricht nicht nur allen rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen, sondern vernachlässigt vor allem völlig die historisch unterschiedlichen machtpolitischen und ideologischen Konstellationen, in denen verschiedene Akteure jeweils spezifische Positionen zu Juden, Antisemitismus und Zionismus artikulierten.

Die meisten Autoren sehen den bestimmenden Einfluß der Sowjetunion als Hauptursache der antizionistischen Ausrichtung der Säuberungen in der DDR an. Der sowjetische Antizionismus (13) wird zumeist zurückgeführt auf die Person Stalins (14) beziehungsweise auf die gezielte Instrumentalisierung des Antisemitismus zur Herrschaftssicherung: Der sowjetischen Bevölkerung, in der der Antisemitismus traditionell weit verbreitet war, seien die Juden, nunmehr »Zionisten« genannt, gezielt als Sündenböcke für alle möglichen Mißstände präsentiert worden, um den sich gegen die Partei regenden Unmut abzulenken. Darüber hinaus sei der Antisemitismus eingebettet in die in den dreißiger Jahren begonnene und ab 1941 offensiv propagandistisch betriebene russisch-nationale Legitimation des Stalinschen Systems; gleichzeitig habe er als taktisches Instrument bei der Austragung innerparteilicher Kämpfe gedient. Weiterhin sollten das Judentum als Religion unterdrückt und jegliche »nationalen« Bestrebungen der sowjetischen Juden eliminiert werden; (15) auch die ab Anfang der fünfziger Jahre zunehmend kritische Haltung der sowjetischen Außenpolitik gegenüber dem neugegründeten Staat Israel habe eine Rolle gespielt.

Gezwungen, die antizionistische Wendung der Sowjetunion mitzuvollziehen, habe die aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte SED-Führung den Antizionismus gezielt als Mittel zur Entmachtung oder mindestens Einschüchterung aller realen und potentiellen parteiinternen Kritiker des stalinistischen Kurses eingesetzt. Auch die Funktion der »zionistischen Agenten« als Sündenböcke für die Fehler der Partei und das Interesse an einer Disziplinierung der parteifernen jüdischen Gemeinden werden zur Erklärung angeführt. Hinzu kommen die antisemitische Einstellung einzelner SED-Genossen, von Mitarbeitern der Sicherheitsorgane sowie der ostdeutschen Bevölkerung. (16)

All diese Erklärungsansätze lassen sich in zwei Grundlinien zusammenfassen: Der Antizionismus wird zum einen aus individual- und sozialpsychologischen Ursachen erklärt: dem unbewußten, persönlichen Antisemitismus Stalins, einzelner Parteimitglieder oder der Bevölkerung. Zum anderen wird die bewußte Instrumentalisierung des Antisemitismus für verschiedenste Zwecke angeführt. (17) In bezug auf die DDR wird zusätzlich auf die Hörigkeit der SED-Führung gegenüber Moskauer Anweisungen verwiesen. Zwar können und sollen diese Argumente nicht in Zweifel gezogen werden, doch eine sich allein auf sie stützende Erklärung des Antizionismus bleibt deutlich defizitär, weil damit wichtige kritische Perspektiven ausgeblendet werden:

1. Wird der Antizionismus in Ostdeutschland allein als ein »von außen übergestülptes und von der SED-Spitze angenommenes stalinistisches Feindbild« (18) betrachtet, so wird die SED vom Ruch des Antisemitismus freigesprochen. Die Frage nach eventuellen eigenen Antrieben der deutschen Kommunisten, sich an der antizionistischen Kampagne zu beteiligen, wird von vornherein ignoriert und damit implizit verneint. Angesichts der Bedenkenlosigkeit, mit der die SED-Spitze die antizionistische Wendung nicht nur akzeptierte, sondern aktiv in Kampagnen, Säuberungen und Anklagen umsetzte, (19) sind jedoch Zweifel an der Hinlänglichkeit der Moskauhörigkeit der Parteiführung als Erklärung angebracht.

2. Wird der Antizionismus auf weiter nicht hinterfragte, als vorhanden vorausgesetzte antisemitische Einstellungen oder auf die bewußte propagandistische Nutzung derselben zurückgeführt, so wird er zu einem aus der Bevölkerung oder allein von Stalin kommenden Phänomen erklärt, das in beiden Fällen mit dem kommunistischen System direkt nichts zu tun habe. Dem widerspricht jedoch, daß die sich als antifaschistisch definierende und legitimierende SED-Führung den Antizionismus bruchlos übernahm. Außerdem sollte insbesondere Goldenbogens erstaunliche Beobachtung zu denken geben, daß Zeitzeugen die antizionistische Kampagne »gar nicht als eine antisemitische Stoßrichtung empfunden und begriffen haben«. (20)
Dies alles nötigt zu der Frage, ob und inwiefern der antisemitische Antizionismus auch ein genuines Produkt des kommunistischen Systems und Denkens selbst ist.

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(11) Silberner 1962, S. 290; vgl. ders. 1983.
(12) Vgl. Schenck 1963, S. 171; Carlebach 1978, S. 354; Brod 1980, S. 19 ff.; Kloke 1990, S. 14 ff.; Glasner 1991, S. 250 f.; Burgauer 1993, S. 167; Barkai 1996/97, S. 267.
(13) Als Beispiele hierzu vgl. Fejtö 1967, S. 37 f., 61; Abosch 1972, S. 61, 66 ff.; Silberner 1983, S. 126 ff.; 210; Wistrich 1987, S. 348 ff.; Hodos 1988, S. 126 f.; Koenen 1991, S. 172 f., Deutscher 1992, S. 758 ff.; Keßler 1993c, S. 49 ff.; Luks 1997, S. 10 ff., 25 f., 31 f.; Bartosek 1998, S. 474 ff.; Lustiger 1998, S. 123 ff., 179 f., 191 f.
(14) Der im Laufe seiner letzten Lebensjahre zunehmende Antisemitismus Stalins ist vielfach belegt (vgl. Luks 1997, S. 41 f.; Rapoport 1992, S. 75 f., 96, 113, 123, 158 ff.).
(15) Dies zeigt ausführlich Lustiger 1998, S. 166, 187 ff., 213 ff., 231 ff.
(16) Als Beispiele hierzu vgl. Deutschkron 1970, S. 222; Thompson 1978, S. 101 ff.; Silberner 1983, S. 294; Weber 1991, S. 118, 124 ff.; ders. 1993, S. 437 ff.; Otto 1993, S. 96, 114 ff., 130; Burgauer 1993, S. 168 ff.; Keßler 1993e, S. 154 ff.; ders. 1995, S. 105; Herf 1994b, S. 16; Timm 1997, S. 55 f., 64, 98, 125. Zum direkten Einfluß der Besatzungsmacht vgl. Hodos 1988; Herrnstadt 1990, S. 273; Kießling 1991, S. 83; ders. 1993a, S. 94; Foitzig 1993, S. 413. Zu antisemitischen Einstellungen von Mitarbeitern des MfS und lokaler Parteieinheiten vgl. Eschwege 1988, S. 75; ders. 1991, S. 154; ders. 1993, S. 508, 514; Kießlig 1990, S. 132; ders. 1991, S. 168, 176 ff., 221; ders. 1994, S. 323 f.; ders. 1997b, 12.12.; Groehler 1993a, S. 117; Kessler/Peter 1995, S. 624.
(17) So auch explizit Mählert (1998, S. 433). Immer wieder wird versucht, diese beiden unterschiedlichen Erklärungsstränge zu kombinieren. Da Silberner (1983, S. 126) bei Stalin keinen Rassenantisemitismus finden kann, der sich gegen ausnahmslos alle Juden richtete, stuft er ihn als »pragmatischen Antisemiten (ebenda, S. 132) ein; ebenso spricht Keßler (1995, S. 86) von einem »selektiven Zweckantisemitismus Stalins«. Analog dazu sieht Timm (1997, S. 124) einen »taktisch-politischen Antisemitismus« der SED-Führungsspitze.
(18) Otto 1993, S. 96.
(19) Vgl. Weber 1993, S. 436 f.; ders. 1998; Keßler 1995, S. 105; Herf 1998, S. 137.

Mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Edition

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