Vorgeblättert

Leseprobe Uta Ruge: Bauern, Land, Teil 1

8. KAPITEL
HEUTE

Anna und ich singen ein Lied von 1783.
Schön und falsch ist das Bild vom Land.
Warum Wolfsexperten sich wundern.


ES IST FRÜH IM HERBST, das Vieh steht noch auf den Weiden – jedenfalls die wenigen Herden, die man draußen grasen lässt. Es gibt nicht mehr viele Landwirte, die noch Weidehaltung betreiben. Auch vom Zug aus sieht man nur selten größere Rinderherden. Meistens ist es Jungvieh, Milchkühe sind so gut wie nie mehr draußen. Die Herden sind zu groß geworden, als dass man sie täglich zweimal zum Melken in den Stall bringen könnte, und ihre Milchleistung ist mit Weidegras nicht mehr zu erreichen. Immer öfter sind dagegen kleine braune Rinder mit riesigen Hörnern und zotteligem langem Fell zu sehen, ein paar Exemplare des schottischen Hochlandrinds. Meist grasen sie in der Nähe von Dörfern und unter ein paar schütteren Obstbäumen. Sie werden von Hobbylandwirten gehalten, die gleichzeitig Ferienwohnungen vermieten und ihren städtischen Gästen, besonders deren Kindern, damit eine ländliche Attraktion bieten.

Mit meiner Schwägerin Anna fahre ich zum Erntedankgottesdienst in unsere alte Kirche. Es erstaunt mich, dass die Männer nicht mitgehen. »Nö«, sagt Hannes, der mit dieser Frage nicht gerechnet hat. »Wieso denn Erntedank?« Und setzt ein wenig verlegen hinzu: »Die Ernte ist ja noch gar nicht fertig, der Mais steht noch auf dem Halm.«

Es ist ein regnerisch-nebliger Tag. Wir nehmen den ›Kleiweg‹ mitten durch die tief liegenden Wiesen eines Marschstreifens*. Kiebitze fliegen auf. Es ist der Weg, den ich als Konfirmandin mit dem Fahrrad gefahren bin. Auch damals sammelten sich auf den Wiesen die Kiebitze.

Die ersten Siedler brauchten für den Gang zur Kirche anderthalb Stunden zu Fuß. Die Kirche ist reich mit Blumen und Früchten geschmückt, aber nicht voll besetzt. Unter den Anwesenden scheinen mir nur wenige Bauern zu sein.

Im Bläserchor neben dem Altar sitzt eine Frau, in der ich, von meiner Schwägerin aufmerksam gemacht, ein Mädchen erkenne, mit dem ich die ersten Jahre zur Dorfschule gegangen bin. Endlich kommt das Lied, auf das ich gewartet habe. »Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf.« Geschrieben hat das Gedicht 1783, im Jahr der Dorfgrün- dung, Matthias Claudius aus Altona, viele Jahre lang ein guter Freund von Johann Heinrich Voß.

»Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn.« Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als Kind über jedes Wort gestaunt habe. »Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein und wickelt seinen Segen gar zart und kunstvoll ein und bringt ihn dann behände in unser Feld und Brot: es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.«

In unserem Dorf herrschte keinesfalls eine Stimmung von Gläubigkeit oder auch nur Respekt gegenüber Kirche und Obrigkeit. Eher war das Gegenteil der Fall. Der Ton unter den Bauern war und ist nüchtern, lakonisch. Im Zweifelsfall ist eher ein plattdeutscher Witz fällig als ein Gebet.

Aber dass etwas, das ich so gut kannte und um das es hier im Dorf und auf den Feldern alltäglich ging, das Säen, Pflügen und Ernten, in eine ganz andere Sprache gefasst werden konnte, rührte mich damals schon – und tut es bis heute.

»Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her, der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer.« Und in der letzten Strophe haben sogar noch ein paar Kühe ihren Auftritt: »Er schenkt uns so viel Freude, er macht uns frisch und rot, er gibt den Kühen Weide und seinen Kindern Brot.«

Am nächsten Morgen gehe ich zu meinem Bruder in die Milchkammer. Waldemar ist mit dem Melken fertig und hat das Waschprogramm eingeschaltet. Er wartet, bis der Milchstrahl aus der Leitung von nachdrückendem Wasser abgelöst wird, um dann rechtzeitig den Schlauch aus dem Milchtank zu nehmen. Ich sehe mich um. An der Wand gegenüber hängt ein Kalender von der Landwirtschaftskammer. Waldemar zeigt auf das Bild und fragt mich, ob ich sehen könne, was daran falsch sei. Ich blicke lange darauf, aber eigentlich habe ich es schon im ersten Moment gesehen.

Alles ist daran falsch. Da steht nämlich ein großes friesisches Bauernhaus komplett mit Reetdach gegen den Horizont, darum herum sind friesische Milchkühe gruppiert. Es gibt keine Zäune und keine Maschinen und überhaupt gar nichts auf diesem Bild, das zu tun hat mit der Wirklichkeit dieses Hauses – gewiss der Feriensitz eines Managers und ganz bestimmt nicht das Zuhause dieser Hochleistungskühe.

»Photoshop«, sage ich zu meinem Bruder.
»Genau, und so was zaubert uns Milchbauern ausgerechnet unsere eigene Berufsorganisation vor.« Er schüttelt den Kopf. Dann nimmt er schnell den Milchschlauch aus der Tanköffnung.
»Alle wollen, dass es auf dem Land schön und friedlich ist«, sage ich etwas hilflos. »Wenigstens auf den Fotos.«
Wir gehen zum Frühstücken ins Haus. Hannes ist noch schnell zum Briefkasten geflitzt. Er kommt mit der Zeitung rein – und pfeffert sie mir unter die Nase.

»Wieder Wölfe«, sagt er und schlägt mit der Hand auf ein Foto. Es zeigt ein braun-weißes Rind, das im Gras liegt, den Kopf nach hinten gebogen, die Kehle blutig aufgebissen, die Schnauze halb abgerissen. Darunter steht: »Die Vermutung liegt nahe, dass dieses rund 220 Kilo schwere, im Juni vorigen Jahres geborene Rind Opfer von Wolfrissen wurde. Auf derselben Weide wie Mitte August wurde der Vorfall Sonntag Morgen entdeckt. Das Jungrind musste vom Tierarzt eingeschläfert werden.« Der Ort liegt etwa zehn Kilometer von hier entfernt. Ein kleines Foto auf derselben Seite zeigt Pfotenabdrücke im Sand, die von Wölfen stammen könnten, heißt es.

Erst jetzt höre ich, dass schon im Sommer beim selben Landwirt zwei Jungrinder von Wölfen getötet worden sind. Einer der ehrenamtlichen Wolfsexperten des Landes Niedersachsen hatte sich damals den Schaden angesehen, DNA-Spuren gesichert und dem Landwirt geraten, den vorhandenen Zaun »wolfssicher« zu machen, d. h. mit zusätzlichen Stromdrähten zu versehen. Das war für viel Geld geschehen, hatte aber die Wölfe nicht beeindruckt. Einen Antrag auf »Billigungsleistung«, also eine freiwillige – mit anderen Worten: nicht garantierte – Entschädigung durch das Land Niedersachsen, hatte die Familie noch nicht gestellt, hatte sich während der Ernte keine Zeit dafür genommen und wusste nicht, wie viel Geld ihnen für den ersten Schaden eventuell ausgezahlt würde. Ihr Hof ist einer der wenigen in dieser Gegend, die überhaupt noch Weidehaltung betreibt. Wenn auch der »wolfssichere Zaun« die Tiere nicht schützt oder die Familie ihn sich nicht auf allen Weiden leisten kann, wird das wohl auch bald aufhören.

Waldemar, Hannes und Anna sind einigermaßen entsetzt. Ich auch. Man kann sich dem kaum entziehen, wenn man dem Geschehen so nahe ist. Und jeder von uns weiß, wie eine Herde auf Gefahrensituationen reagiert, nämlich verängstigt zitternd, panisch rennend, sich verletzend. Manche Jungtiere, die hochschwanger sind, verkalben womöglich, es gibt spontane Früh- und Totgeburten, die auch die Muttertiere schädigen. Einige Tage oder sogar Wochen lassen sich die Tiere nicht anfassen, nicht treiben oder führen. Währenddessen gibt es keine Chance, sie zu beruhigen oder medizinisch zu behandeln. Es bedeutet Aufregung und Mehrarbeit, ist aber kein bezifferbarer Schaden. Der Wolfsexperte, heißt es, ist einigermaßen betreten. Bisher waren nur Schafe und Schafsbauern von solchen Schäden betroffen. Aber dass diese großen Tiere von Wölfen angegriffen werden und das nur wenige Hundert Meter von bewohnten Häusern und Stallungen entfernt, hat ihn überrascht.

»Ja«, sagt mein Bruder, »solche Überraschungen werden wir jetzt wohl noch öfter erleben.«

Zurück in der Stadt, erzähle ich einigen Freunden von den Wölfen. Und ich stelle fest, dass der Wolf heutzutage einen deutlich besseren Ruf hat als die Bauern oder ihre Rinder. Mir bleibt buchstäblich die Sprache weg über das, was ich da zu hören bekomme, und über den Gefühlsaufwand, mit dem ein Freund nach dem anderen die Wiederkehr der Wölfe verteidigt. In meiner Verwirrung und in meinem Erstaunen fällt mir kein einziges Gegenargument ein.

Wie viele Angriffe auf Schafe und Rinder im Jahr es denn statistisch gesehen gebe?
Wie viele Rinder existierten und wie viele Wölfe?
Es würde doch gewiss eine Entschädigung gezahlt – was also sei das Problem?
Die Wölfe seien ja nicht künstlich angesiedelt worden, sie seien auf eigenen Pfoten wieder eingewandert. Darüber sollten wir uns freuen. Die Natur sei in den letzten hundert oder zweihundert Jahren derart ausgebeutet und niedergemacht worden, da wäre die Rückgabe von etwas Lebensraum an die paar Wölfe doch nur recht und billig.

Der Wolf, so heißt es, greife keine Menschen an, das Märchen vom bösen Wolf sei nur das, ein Märchen, das uns in den Köpfen herumspuke. Da tue Aufklärung not!

Ein anderer sagt, dass auch Hunde für soundso viele durchaus auch tödliche Übergriffe auf Vieh und Mensch pro Jahr verantwortlich seien. Das aber werde heruntergespielt. Als ich müde einwerfe, dass so ein Hund allerdings sofort eingeschläfert würde, zuckt er nur mit den Achseln.

Später frage ich eine Wolfsfreundin, ob sie denn damit rechne, je in ihrem Leben einen frei lebenden Wolf zu Gesicht zu bekom men. Aber nein, das werde sie wohl nicht. Denn Wölfe seien scheu, hätten Angst vor Menschen. Was also hat sie davon, dass es die Wölfe in freier Wildbahn gibt und nicht nur in Zoologischen Gärten oder Wolfsgehegen? Sie hebt ihre Schultern. Darum gehe es nicht. Es ginge um Artenvielfalt, Biodiversität, ob ich das nicht verstünde.

Ich finde den Wolf im Internet als Freund – Willkommen, Wolf! – und im »Sachsenspiegel«, einem Gesetzeswerk aus dem 13. Jahrhundert, als Feind, der die Nutztiere der Menschen angreift. Dort heißt es, dass der Hirte, der nicht alles Vieh, das ihm zum Hüten vom Dorf übergeben wurde, wieder zurückbringt, den Schaden bezahlen muss. »Was ihm aber der Wolf nimmt oder die Räuber, bleibt er ungefangen und hat er sie ›unbeschrien gelassen‹ durch Herbeirufung der Nachbarn, dass er Zeugen haben möge, muss er sie bezahlen.« Nach dem Dreißigjährigen Krieg verbreiteten sich die Wölfe in Deutschland vor allem in jenen Gebieten in Brandenburg, die von Krieg und Hunger entvölkert waren. Sie fraßen die Schlachtfelder vom Aas leer, erzählte man sich. Vermutlich kommt daher das Grauen – und der Satz: »Wenn der Mensch geht, kommt der Wolf.«

Der heute im Namen der Biodiversität europäisch geschützte Wolf wird, wie alle Wildtiere, einem Management von hoher Intensität unterworfen. Seine Verbreitung wird verfolgt, einzelne Exemplare sind mit Sendern ausgestattet, sie werden genetischer Kontrolle unterworfen, und die durch zunehmende Kreuzungen von Wolf und Hund entstehenden Hybriden werden herausgenommen, heißt es, also wohl eingeschläfert oder erschossen.

Wild sind die wilden Tiere nur so weit der Mensch es erlaubt. Kurz vor Weihnachten ruft mein Neffe Hannes an und erzählt, dass jetzt erst, kurz vor Jahresende, endlich eine Verordnung im Amtsblatt veröffentlicht wurde, die in einer Übergangsregelung den Umbruch von Grünland noch bis zum 31. 12. erlaubt. Anders gesagt, ab dem 1. 1. (2016) wird es verboten sein. Warum? Weil das Ackern – also Pflügen – die Bodenerosion fördert. Weil Grünland der Biodiversität, den Beikräutern, Insekten und Vögeln mehr Raum gibt als Mais.

Aber es ist der Mais, den die Biogasanlagen zur Stromproduktion brauchen und der den Milchfluss der Kühe steigert und so das Einkommen der Milchbauern sichert, obwohl von ›Sicherung‹ bei extrem niedrigen Milchpreisen nicht die Rede sein kann. Deshalb fahren im Moment überall in den Dörfern schwere Traktoren auf die eigentlich viel zu feuchten Flächen und fräsen oder pflügen, weil Bauern versuchen, auf ihren Grünflächen einen Status zu verankern, der es ihnen erlaubt, diese Flächen später zu beackern.

Sie nennen es ›schwarz machen‹, also unter Umständen, falls es ihr Betrieb erfordert, dort Ackerfrüchte anzubauen. Dieses Recht hätten sie jedoch nicht mehr, wenn das Grünland am 1. Januar noch Grünland wäre. Dann dürften sie dort weder Mais anbauen noch überhaupt eine Grasneuansaat machen. Durch die Verzögerung der Veröffentlichung im Amtsblatt hat das Ministerium dafür gesorgt, dass von den regendurchtränkten Flächen in den sieben verbleibenden Kalendertagen bis Neujahr nur noch sehr wenige umgepflügt werden können. Hannes erzählt, dass in den Dörfern rundum die Traktoren unterwegs sind.

»Das ist Wahnsinn«, sagt er, »und fachlich überhaupt nicht zu rechtfertigen.« Aber in einer Woche schon wären ihnen die Hände gebunden. Deshalb müssen sie handeln, wo sie es noch können, sagt er. Sie wollen auch in Zukunft noch ackerfähige Böden haben und selbst entscheiden können, welche Frucht sie dort anbauen wollen – oder es als Grasland nutzen. Es geht um Tausende von Euro, die man sonst zahlen müsste, um die Ackerungsrechte zurückzuerwerben.

»Die vier Hektar* hinter dem Kanal sind unbefahrbar, da kommt man nicht rauf und nicht runter. Selbst die Pumpen unserer Schöpfwerke schaffen es nicht mehr. Sie können eine Überschwemmung verhindern, aber die Böden sind vollgesogen wie Schwämme. Man kann nur hoffen, dass der Regen wenigstens jetzt aufhört und dass über Weihnachten windige Tage kommen. Da könnte man es dann am 31. 12. vielleicht noch einmal versuchen.«

Aber Wind ohne Regen? Im Dezember im Sietland? Da muss man schon fast an Wunder glauben. Ich frage, ob das Ministerium das denn so genau prüfen könne.
»Schon mal von Google Earth gehört?«
Zum Schluss frage ich noch nach den Wölfen.
»Im Moment ist Ruhe. Das Vieh ist ja in den Ställen. Und da draußen sind wohl noch Rehe genug.«

Leseprobe Teil 2: Familie Lafrenz im Kirchenbuch. Johann Heinrich Voß drängt auf die erste Pockenimpfung im Hadelner Land