Vom Nachttisch geräumt

Schwieriges Glück

Von Arno Widmann
23.10.2017. Kann ein Oxymoron die Welt retten? Der polnische Dichter Adam Zagajewski über Rachmaninow, Martha Argerich und Bert Brecht.
Ich blättere in dem Gedichtband "Asymmetrie" von Adam Zagajewski. Wieder mal auf der Suche nach einem anderen Polen. Natürlich ist es peinlich, einen Autor auf seine Nationalität zu reduzieren und dann auch noch Ausschau zu halten, was er in seinen Gedichten zur Lage seines Landes sagt, das in den allermeisten Fällen ja sein Land gerade nicht ist. Ich stoße auf das Gedicht "Rachmaninow", lese, lege es aus der Hand, gehe an den Computer und höre mir Martha Argerich an, wie sie 1982 zusammen mit Ricardo Chailly und dem Berliner Rundfunkorchester Rachmaninows 3. Klavierkonzert spielt. Nur weil ich bei Zagajewski lese:

Rachmaninow

Wenn ich früher das dritte Konzert hörte,
war mir noch nicht klar, dass für Kenner
diese Musik zu konservativ ist (ich wusste damals nicht,
dass es in der Kunst außer Kunst auch Hass, fanatischen
Streit gibt, Verurteilungen wie in der Zeit der Religionskriege),

Ich hörte in ihm ein Versprechen der Dinge, die kommen würden,
die Ankündigung eines schwierigen Glücks, der Liebe, eine Skizze
der Landschaften, die ich noch kennenlernen sollte,
eine Ahnung von Fegefeuer und Paradies, von Wanderung,
und schließlich vielleicht auch von etwas wie Verzeihung.

Wenn ich jetzt höre, wie Martha Argerich das Konzert d-Moll
interpretiert, bewundere ich ihr meisterhaftes Spiel,
ihre Leidenschaft, Inspiration, und zugleich versucht der Junge,
der ich einmal war, zu verstehen, nicht ohne Mühe,
was sich erfüllt hat und was erloschen ist. Was lebt.



Das führt mich weit weg von Polen. Youtube treibt mich von dieser Aufnahme zu einer, bei der Rachmaninow selbst am Klavier sitzt und das ganze Konzert in elf Minuten weniger spielt. Was ist richtig? Es gibt kein richtig?



Ich mag die Argerich-Einspielung sehr und es fällt mir schwer, mich danach auf Rachmaninow, der alles viel weniger wichtig nimmt, einzustellen. Es kommt mir vor, als würde er, wie manche Autoren, bei ihren Lesungen, die schönen Stellen überspielen, weil es ihm peinlich wäre, bei der eigenen Emphase erwischt zu werden. Aber so redet ein Ahnungsloser, der erst jetzt im hohen Alter sich wieder die Zeit nimmt fürs vergleichende Hören. Es wird ihm leicht gemacht: Das Internet stellt die unterschiedlichsten Aufnahmen zur Verfügung.

Und so dauert es eine Weile, bis ich weiter lese in Zagajewskis "Asymmetrie". Zitiert seien noch ein paar Zeilen aus Zagajewskis Gedicht zu seinem Besuch an Brechts Grab auf dem Friedhof an der Chausseestraße, "Bertolt Brecht in der Ewigkeit":

Du hast Ostdeutschland gewählt, doch für alle Fälle
Hast du den österreichischen Pass behalten.

Du warst ein vorsichtiger Revolutionär - doch kann ein Oxymoron die Welt retten?

Du schriebst das Gedicht An die Nachgeborenen - auch die Zukunft
Wolltest du überreden. Aber die Zukunft ist vorbei.

Die Nachgeborenen kreisen gleichgültig zwischen Gräbern - wie Touristen
Im Museum, die hauptsächlich auf die Bildunterschriften schauen.

Es ist April, ein sonniger, kühler Tag, schwarze Schatten kleben
An den Grabsteinen, als wären die Spitzel unsterblich.


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Adam Zagajewski: Asymmetrie, Gedichte, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Carl Hanser Verlag, München, 2017, 71 Seiten, 16 Euro