Vom Nachttisch geräumt

Wie bekommt man eine schöne Roman-Figur?

Von Arno Widmann
17.08.2017. Wie starb Roland Barthes? Und was hatte Roman Jacobson damit zu tun? Laurent Binets "Die siebte Sprachfunktion" gibt lächelnd Antworten.
Im Mai-Juni-Heft des Jahres veröffentlichte Sinn und Form einen zehn Seiten kurzen Dialog zum Thema: "Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?" Autor ist Friedrich Christian Delius, der sich von einer Studentin hartnäckig dazu befragen lässt, warum er keinen Merkel-Roman schreibt. Eine eher langweilige Lektüre, bis man auf den naheliegenden Gedanken kommt, dass Delius ja sowohl die Argumente der Studentin als auch seine eigenen formuliert. Dann hat man den Eindruck, dass F.C. Delius einen Merkel-Roman zu schreiben zwar heftigst begehrt, aber zu klug, zu vorsichtig, zu feige, zu einfallslos ist, um ihn anzugehen. Oder aber dieser fiktive Dialog ist der Befreiungsschlag und nächstes Jahr liegt er vor uns: Delius' Merkel-Roman. Ich bin der etwas trivialen Ansicht, dass es kein Thema gibt, das nicht für einen Roman taugt. Aber nicht jedes Thema taugt jedem Autor.

Der 1972 geborene Laurent Binet ist Lehrer. Nebenbei schreibt er umwerfende Romane. Für  "HHhH, Himmlers Hirn heißt Heydrich" erhielt er 2010 den Prix Goncourt du premier roman. Anfang 2017 erschien auf Deutsch: "Die siebte Sprachfunktion". Ein Krimi und eine Operette, eine Tragikomödie und wohl eines der virtuosesten Kunststücke der Literatur der letzten Jahre. 

Am 25. Februar 1980 wurde Roland Barthes von einem Kleintransporter angefahren. Er kam ins Krankenhaus und starb dort am 26. März. Das ist der Anfang einer Marx-Brother-Burleske, an der alle beteiligt sind, die in jenen Jahren in Frankreich, Italien oder den USA etwas zu sagen haben. Barthes wurde ermordet, nachdem er bei Mitterand gewesen war. Natürlich hat der ein paar fantastische Auftritte, wie auch Giscard d'Estaing. Natürlich sind das alles großartige Romanfiguren. Auch der seine Gattin mordende strenge Marxist Althusser ist eine, Michelangelo Antonioni, Umberto Eco, Michel Foucault, Jaques Lacan, Bernhard Henry Lévy und die Kristeva. Alle wirbeln sie durcheinander in Verschwörungen mit und ohne Geheimdienste. Natürlich sind wir beim Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna am 2. August 1980 dabei. Zusammen mit einem französischen Kommissar und einem Philosophiestudenten, den er angeheuert hat, um durchzusteigen in dem Milieu, das er begreifen muss, will er die Rätsel um Barthes Tod lösen können.

Es geht um die Strategie der Spannung, das Wechselspiel von Rechts-, Staats- und linkem Terrorismus und die Rolle, die Intellektuelle darin spielen, spielen wollen oder doch vorgeben darin zu spielen. Es geht auch immer wieder um Paarungen. Der bekannten Größen miteinander oder auch mit Unbekannten. Es ist, das begreift man sofort, ein souveränes Spiel. Die Wirklichkeit wird eingespannt für wilde Fantasien und dann wieder humpelt die Fantasie einer entfesselten Wirklichkeit hilflos hinterher. Der Leser aber weiß schon bald nicht mehr zwischen beiden zu unterscheiden. Das Leben ein Traum.

"Die siebte Sprachfunktion" heißt das Buch, weil es um die geht. Roman Jakobson hatte 1960 in einem berühmten Aufsatz von sechs Sprachfunktionen gesprochen. Roland Barthes soll, so die Konstruktion Binets, ein Manuskript dabei gehabt haben über eine siebte Sprachfunktion, die es dem, der sie beherrschte erlaubte, "jeden Beliebigen in jeder beliebigen Situation zu überzeugen." Diese siebte Sprachfunktion wäre eine größere Macht als alle Atombomben zusammen. Kein Wunder, dass auf der Suche nach dem Manuskript einer nach dem anderen ermordet wird.

Das Hauptvergnügen ist allerdings, dass der Autor, der uns das sagt, gleichzeitig - für die paar Stunden unserer Lektüre seines Buches - genau diese Macht ausübt. Wir erliegen seinen rhetorischen Künsten und glauben ihm alles. Allerdings, das ist eine wesentliche Einschränkung, wir glauben es auch nicht. Wir glauben es, solange wir es Roman nennen dürfen. So wie wir Wirklichkeit oder auch nur Tatsachenbericht dazu sagen müssten, hörten wir sofort auf, ihm zu glauben. Nun, so sicher ist es nicht. Wie unterscheiden wir Wirklichkeit und Roman? Wollen wir das überhaupt? Lieben wir es nicht vielmehr, wenn jemand unsere Wirklichkeit, die Statistik unserer Existenzen, in eine hinreißende Erzählung verwandelt? Laurent Binet weiß das alles sehr genau und so spielt er auch damit. Zum Beispiel an Stellen wie diesen: "Im Roman bisse sich jetzt Bayard auf die Lippen oder zuckte mit den Achseln." So steht es im Roman. Geradeso, als wolle der keiner sein, sondern gebe sich für die Wirklichkeit aus. Nein, das ist alles lächelnd gesagt, zublinzelnd wie über Tische hinweg. Der Gruß eines Lesers an einen anderen, der gerade das Buch eines Lesers liest. Und liebt. Mit jeder Seite mehr.

Laurent Binet, Die siebte Sprachfunktion, Rowohlt, Reinbek 2016, aus dem Französischen von Kristian Wachinger, 528 Seiten, 22,95 Euro