Vom Nachttisch geräumt

Das Faultier ist der beharrlichste Leser

Von Arno Widmann
17.10.2016. Jack London schrieb nicht nur Abenteuerromane. Er hatte auch ein Gespür für die Schönheit des Gewöhnlichen, wie man in einem Band mit Fotografien und Reportagen Londons sehen kann.
Keine Ahnung, ob es bei den Lesern angesichts seines hundertsten Todestages eine Jack-London-Renaissance gibt. Bei den Verlagen gibt es sie ganz sicher. Bevor London seine Romane ab 1900 hatte veröffentlichen können, soll er um die einhundert Ablehnungen kassiert haben. Danach war er ein anhaltender Welterfolg. Im Kölner Verlag Anaconda erschien in diesem Jahr ein Sammelband "Die besten Geschichten" - vierzehn von Herbert Schnierle-Lutz übersetzte Nordlandgeschichten. Lutz-W.Wolff übersetzt seit 2013 jedes Jahr mindestens einen Roman von Jack London: bisher liegen bei dtv, wenn ich nichts übersehen habe, vor: "Wolfsblut", "Der Ruf der Wildnis", "König Alkohol", "Der Seewolf", "Der Lockruf des Goldes" und "Martin Eden". Bei Manesse ist gerade erschienen "Mord auf Bestellung", einer der ersten Agententhriller der Moderne. Im Leipziger Reprint Verlag kam schon vor drei Jahren heraus: "Menschen der Tiefe - Reportagen aus dem Londoner East End um 1900". Es ist der fotografische Reprint der Ausgabe, die 1928 im Berliner Universitas Verlag erschien. Das Vorwort beginnt mit dem Satz: "Die in diesem Buch niedergelegten Erfahrungen machte ich im Sommer 1902. Mit einem Gefühl, das am ehesten dem verglichen werden kann, welches einen Entdeckungsreisenden beseelt, stieg ich in die Unterwelt Londons hinab."


Jack London fotografiert in der San Francisco Bay 1906 das Gerippe der "Snark", mit der er ein Jahr später in den Südpazifik segelte. Foto: Jack London, Courtesy of Contrasto

Wir machen uns selten klar, dass wir vom Leben der Mehrheit keine Ahnung haben. Selbst da, wo wir ein Teil von ihr sind, müssen wir recherchieren. Die wahren Entdeckungen machen wir ganz in der Nähe. Reinhold Messner, der nun wirklich an die Grenzen der Welt gegangen ist, meint, er habe bei seinen Unternehmungen vor allem seine eigenen Grenzen erkannt. Der Büromensch, der zwischen acht und neun zur Abeit fährt, wird seine Straße nachts um drei als eine Unbekannte entdecken. Vorausgesetzt, er nimmt sich die Zeit, Augen, Ohren und Nase offen zu halten. Wer sich die kleine Mühe machte, auch nur vier Mal im Jahr - einmal in jeder Jahreszeit - zu protokollieren, was er um eins, sieben, dreizehn, zwanzig Uhr vor seiner Haustür sieht, der wüsste mehr über die Welt und über sich, als aus allen Büchern, die er vom Nachttisch räumt. Das ist der Traum eines Menschen, der viel zu undiszipliniert ist, um so etwas jemals zu schaffen. Er bewundert Künstler, Wissenschaftler, Sportler, Reporter, alle die, die die Kraft zur Konzentration haben, die hartnäckig an einer Sache dran bleiben. Wer sie dann auch noch so darstellen kann, dass der Zuschauer sich mitgenommen fühlt, der ist der Held dieses sich mit dem Traum begnügenden Menschen. Das Faultier ist der beharrlichste Leser.

Jack London sei ein Jugendschriftsteller, heißt es. Einer also, der denen die Augen für die Welt öffnet, die sich noch ins Leben hineinträumen statt zu leben. Vielleicht aber ist er gerade dabei, ein Autor zu werden für die, die dem Leben hinterherträumen, für die Alten also. Vielleicht aber ist das eine ganz dumme Unterscheidung. Vielleicht ist Jack London, wie alle Literatur, wie alle Kunst und Wissenschaft, wie alles, das uns begeistert, etwas für Menschen, die an Alternativen interessiert sind, für Menschen also, die sich nicht einsperren lassen wollen, in das Leben, das sie leben, für Menschen also, die Appetit haben, Lust auf Anderes, Neues, Unbekanntes und vielleicht auch ein wenig Furcht davor. Darum lesen sie, statt sich selbst in Bewegung zu setzen. Aber auch dieses "statt" kann Unsinn sein. Es gibt Menschen, die machen beides, und sie schreiben auch noch darüber. Jack London war so einer.


Die Kearnel Street in San Francisco nach dem Erdbeben 1906. Foto: Jack London

Ich bin wieder mal abgeschweift. Ich hatte diese Notiz zu Jack London begonnen, weil ich auf das Buch "The Paths Men Take" hinweisen wollte. Der Untertitel lautet: "Photographs, journals and reportages". Es ist gerade auf Englisch in einem kleinen italienischen Verlag erschienen. Ich habe darin den Fotografen Jack London entdeckt. Der erste Satz des Vorwortes zu diesem Buch lautet: "In den Jahren zwischen 1900 und 1916 machte Jack London mehr als 12 000 Fotos". Das schafft die Kamera eines Modefotografen heute spielend in einer Woche. Aber damals! "The Paths Men Take" zeigt knapp siebzig davon. Es beginnt mit den Fotos, die er bei seinen Fahrten ins Londoner East End machte und endet mit denen von den Salomon-Inseln, die er bei seiner Weltumsegelung mit der "Snark" machte. Dazwischen Aufnahmen von dem vom Erdbeben 1905 zerstörten San Francisco, vom Russisch-Japanischen Krieg 1904. Dazu jeweils einige der entsprechenden Reportagen und Notizen Jack Londons. Sehr lesenswert ist auch die Einleitung von Davide Sapienza, der die Rolle der Einbildungskraft beim großen Realisten Jack London herausarbeitet. Ihr folgte er von Anfang an, nicht erst beim Schreiben. Es ist eine Einbildungskraft, die besessen ist von einem unbändigen Realitätshunger. Man wird nicht müde, auf die Diskrepanzen von Fantasie und Wirklichkeit hinzuweisen. Viel interessanter sind die Fälle, bei denen sie auf einander angewiesen sind. Jack London ist so ein Fall. Daher auch seine Liebe zur Fotografie. Er habe nichts verschönt, schreibt Sapienza über den Fotografen.

Das ist ganz richtig. Er brauchte das nicht, weil er die Schönheit des Gewöhnlichen sah. Man muss nur den kleinen Londoner Jungen betrachten, der neben einem Mülleimer auf der Türschwelle sitzt und es fällt einem sofort Murillo mit ganz ähnlichen Motiven ein, und schon fällt einem auf, dass London zwar die Perspektive des andalusischen Barockmalers aufgreift, dass ihm aber nichts ferner liegt als eine Aufhübschung der Szene. Technische Probleme spielen dabei auch eine Rolle. Der Junge blickt zwar in die Kamera, aber mit gesenktem Kopf. Das ist rührend, aber da das Gesicht gewissermaßen in seinem eigenen Schatten liegt, wird dieser Effekt gerade nicht ausgespielt, sondern kommt erst bei näherer Betrachtung der Aufnahme zur Geltung. Allein auf seiner Bootsreise mit der "Snark" machte Jack London um die 4000 Aufnahmen. Vor allem von den Menschen. Er zeigt sie in Gruppen, und er macht Porträts. Man sieht sie zusammen mit seinem Grammophon oder beim Betrachten einer seiner Kameras. Jack London hatte mehrere davon an Bord und zu dem Grammophon gehörten an die 500 Schallplatten, natürlich war auch eine Schreibmaschine mit von der Partie und 400 Bücher. Jack London war ganz wie seine Romanfigur ein gebildeter Seewolf. Todkrank allerdings auch: alkohol- und morphinsüchtig dazu. Am 22. November 1916 starb er auf seiner Ranch im kalifornischen Glen Ellen.

Jack London: The Paths Men Take - Photographs, journals and reportages, edited by Alessia Tagliaventi, Introduction by Davide Sapienza, contrasto, Roma 2016, 195 Seiten, 70 s/w Fotografien, 19,95 Euro.

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