Vom Nachttisch geräumt
Eine generelle revolutionäre Neigung
Von Arno Widmann
20.11.2018. Erkennt schon im Kolonialismus die postkoloniale Situation: Alexander von Humboldt in seinen amerikanischen Reisetagebüchern.Die amerikanischen Reisetagebücher (1799 - 1804) Alexander von Humboldts füllen - einige Aufzeichnungen sind verschwunden - mehr als 4500 Seiten. Derzeit wird ihre Edition vorbereitet. Ottmar Ette, geboren 1956, Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, ist Leiter des BMBF-Forschungsprojektes zu "Alexander von Humboldt Amerikanische Reisetagebücher: Genealogie, Chronologie und Epistemologie (2014-2017)" sowie seit 2015 Leiter des Langzeitprojekts "Alexander von Humboldt auf Reisen - Wissenschaft aus der Bewegung" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dessen geplante Laufzeit 18 Jahre beträgt. Er hat jetzt eine Anthologie aus den 4500 Seiten vorgelegt. Ein schöner Manesse-Band. Humboldt beobachtet Klima, Wetter, Geologie, Pflanzen, Tiere und Menschen mit gleicher Aufmerksamkeit. So viel wie er hat kaum jemand jemals gesehen.
Man kann diese Aufzeichnungen nicht lesen wie einen Roman. Man muss sie langsam Stück für Stück lesen und man muss zurück- und vorblättern. Ette bietet seinen Lesern nach einem kurzen Vorwort einen "Leseparcours" an, in dem er uns erklärt, wir täten gut daran, uns einen eigenen Weg durch diesen kleinen Ausschnitt des Gesamtwerks zu suchen. Er geht - ganz zu Recht - davon aus, dass der Leser immer wieder abbrechen und neue Pfade einschlagen wird. Also einmal wird er zum Beispiel all die Stellen lesen über Sklaverei, dann über Sprachen, über "Justiz und Gerechtigkeit" oder "Männer und Frauen". Wir haben es schließlich nicht mit einem Buch zu tun, sondern mit unzusammenhängenden Beobachtungen, Reflexionen, Gesprächen, Eindrücken und manchmal auch Wasserflecken bei der Durchquerung des Orinoko. Mit letzterem kann diese Ausgabe natürlich nicht dienen. Aber Ottmar Ette erzählt sehr anschaulich von diesen ästhetischen Qualitäten der Originalhandschriften.
Alexander von Humboldt glaubte, entsetzt die Greuel einer vergangenen Zeit darzustellen. Wir erschrecken bei der Lektüre dieser Passagen in Humboldts Aufzeichnungen, weil wir uns kaum des Eindrucks erwehren können, dass er damit auch beschrieb, was an gesellschaftspolitischen Experimenten das zwanzigste Jahrhundert brachte. Jedenfalls wird uns klar, dass sie nichts Einmaliges waren, dass darum auch die Möglichkeit einer Wiederholung nicht so ausgeschlossen ist, wie wir das gern hätten.
Auch wenn Alexander von Humboldt über die Kolonien schreibt, ist er modern, moderner als das 19. Jahrhundert es dann wurde: "Die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische Vorstellung, denn dies ist die Idee von einem Land, das man einem anderen gegenüber tributpflichtig macht, von einem Land, das nur zu einem gewissen Grad von Wohlstand kommen muss, in welchem Gewerbefleiß und Aufklärung sich nur bis zu einem gewissen Punkt entfalten sollen. Denn jenseits dieses Punktes, folgt man den gängigen Ideen, würde das Mutterland weniger verdienen, jenseits dieser Mittelmäßigkeit würde die Kolonie zu stark und zu sehr befähigt, sich selbst zu erhalten und gar unabhängig zu werden."
Hier hört man, ohne dass sie eigens erwähnt werden müssen, die Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und seinen amerikanischen Kolonien. Deren Unabhängigkeitserklärung lag ja gerade erst 25 Jahre zurück. Sie hatte damals den Kolonialismus in Frage gestellt. Alexander von Humboldt fährt fort: "Je größer die Kolonien sind, je konsequenter die europäischen Regierungen in ihrer politischen Bösartigkeit vorgehen, desto mehr muss die Unmoral der Kolonien zunehmen. Man verfolgt seine eigene Sicherheit in der Uneinigkeit, man trennt die Kasten voneinander, man verstärkt ihren Hass und ihre Zwistigkeiten…"
Humboldt beendet diesen Abschnitt so: "Aus dieser Lage entsteht eine unvorstellbare Verwirrung der Ideen wie der Gefühle. Eine generelle revolutionäre Neigung, doch dieses Begehren beschränkt sich darauf, die Europäer zu verjagen, um dann untereinander Kriege zu führen." Die letzten sechs Worte werfen ein Schlaglicht auf die Weltgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind eine Einsicht in die postkoloniale Situation. Liest man Humboldts Aufzeichnungen, begreift man, dass man wissen konnte, wohin der Kolonialismus führen würde. Es genügte, die Augen offen zu halten und eins und zwei zusammen zu zählen. Aber damit waren die meisten überfordert. Und sind es noch heute.
Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen. Menschen - Kulturen - Geschichten. Aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg., aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Ottmar Ette, mit Originalzeichnungen Humboldts sowie historischen Landkarten und Zeittafeln, Manesse Verlag, München 2018, 395 Seiten, 45 Euro.
Man kann diese Aufzeichnungen nicht lesen wie einen Roman. Man muss sie langsam Stück für Stück lesen und man muss zurück- und vorblättern. Ette bietet seinen Lesern nach einem kurzen Vorwort einen "Leseparcours" an, in dem er uns erklärt, wir täten gut daran, uns einen eigenen Weg durch diesen kleinen Ausschnitt des Gesamtwerks zu suchen. Er geht - ganz zu Recht - davon aus, dass der Leser immer wieder abbrechen und neue Pfade einschlagen wird. Also einmal wird er zum Beispiel all die Stellen lesen über Sklaverei, dann über Sprachen, über "Justiz und Gerechtigkeit" oder "Männer und Frauen". Wir haben es schließlich nicht mit einem Buch zu tun, sondern mit unzusammenhängenden Beobachtungen, Reflexionen, Gesprächen, Eindrücken und manchmal auch Wasserflecken bei der Durchquerung des Orinoko. Mit letzterem kann diese Ausgabe natürlich nicht dienen. Aber Ottmar Ette erzählt sehr anschaulich von diesen ästhetischen Qualitäten der Originalhandschriften.
Alexander von Humboldt glaubte, entsetzt die Greuel einer vergangenen Zeit darzustellen. Wir erschrecken bei der Lektüre dieser Passagen in Humboldts Aufzeichnungen, weil wir uns kaum des Eindrucks erwehren können, dass er damit auch beschrieb, was an gesellschaftspolitischen Experimenten das zwanzigste Jahrhundert brachte. Jedenfalls wird uns klar, dass sie nichts Einmaliges waren, dass darum auch die Möglichkeit einer Wiederholung nicht so ausgeschlossen ist, wie wir das gern hätten.
Auch wenn Alexander von Humboldt über die Kolonien schreibt, ist er modern, moderner als das 19. Jahrhundert es dann wurde: "Die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische Vorstellung, denn dies ist die Idee von einem Land, das man einem anderen gegenüber tributpflichtig macht, von einem Land, das nur zu einem gewissen Grad von Wohlstand kommen muss, in welchem Gewerbefleiß und Aufklärung sich nur bis zu einem gewissen Punkt entfalten sollen. Denn jenseits dieses Punktes, folgt man den gängigen Ideen, würde das Mutterland weniger verdienen, jenseits dieser Mittelmäßigkeit würde die Kolonie zu stark und zu sehr befähigt, sich selbst zu erhalten und gar unabhängig zu werden."
Hier hört man, ohne dass sie eigens erwähnt werden müssen, die Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und seinen amerikanischen Kolonien. Deren Unabhängigkeitserklärung lag ja gerade erst 25 Jahre zurück. Sie hatte damals den Kolonialismus in Frage gestellt. Alexander von Humboldt fährt fort: "Je größer die Kolonien sind, je konsequenter die europäischen Regierungen in ihrer politischen Bösartigkeit vorgehen, desto mehr muss die Unmoral der Kolonien zunehmen. Man verfolgt seine eigene Sicherheit in der Uneinigkeit, man trennt die Kasten voneinander, man verstärkt ihren Hass und ihre Zwistigkeiten…"
Humboldt beendet diesen Abschnitt so: "Aus dieser Lage entsteht eine unvorstellbare Verwirrung der Ideen wie der Gefühle. Eine generelle revolutionäre Neigung, doch dieses Begehren beschränkt sich darauf, die Europäer zu verjagen, um dann untereinander Kriege zu führen." Die letzten sechs Worte werfen ein Schlaglicht auf die Weltgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind eine Einsicht in die postkoloniale Situation. Liest man Humboldts Aufzeichnungen, begreift man, dass man wissen konnte, wohin der Kolonialismus führen würde. Es genügte, die Augen offen zu halten und eins und zwei zusammen zu zählen. Aber damit waren die meisten überfordert. Und sind es noch heute.
Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen. Menschen - Kulturen - Geschichten. Aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hrsg., aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Ottmar Ette, mit Originalzeichnungen Humboldts sowie historischen Landkarten und Zeittafeln, Manesse Verlag, München 2018, 395 Seiten, 45 Euro.
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