Vom Nachttisch geräumt

Von Nero bis Romeo

Von Arno Widmann
20.06.2016. Heldensoprane - das waren Kastraten, die Muskeln, Mut und Virilität mit Frauenstimmen ausdrückten. Thomas Seedorf erzählt ihre Geschichte.
Im 17. und 18. Jahrhundert beherrschten Kastraten die Opernbühnen Europas. Sie spielten die Helden. Es war die Zeit der Heldensoprane. Der Heldentenor war noch nicht geboren. Thomas Seedorf hat eine kleine, hilfreiche Einführung geschrieben in diese Welt einer Schönheit, die uns ganz und gar fremd geworden war, bis wir sie vor ein paar Jahrzehnten wiederentdeckten. Nicht ganz. Ein Altus oder ein Countertenor sind keine Kastraten. Aber sie vermitteln doch eine Ahnung davon, worin die Schönheit, der Sex Appeal dieser Stimmen lag. Seedorf weist darauf hin, dass die Kastration physische Voraussetzungen schuf, die mit Stimmtechnik allein nicht zu erreichen sind. Der Kastrat konnte seine Bruststimme deutlich höher führen als ein nicht-kastrierter Mann das kann. Das führt dazu, dass auch die hohen Töne kräftig und raumfüllend kommen. Dank ihres oft hypertrophen Körperbaus - da "sich bei ihnen im Unterschied zum normalen körperlichen Reifungsprozess die Epiphysen- oder Wachstumsfugen nicht schlossen, sodass die Knochen länger als üblich weiterwachsen konnten" - hatten die Kastraten oft auch besonders große Lungen. Viele von ihnen waren berühmt dafür, besonders lange Töne oder Koloraturen aussingen zu können. Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele kastrierte Knaben tatsächlich eine Sängerlaufbahn einschlagen konnten. Schließlich diente der Eingriff ja nur dazu, eine Stimmlage zu erreichen. Damit war noch lange nicht gesagt, dass der junge Mann auch singen konnte.


Aufnahme des letzten europäischen Kastraten Alessandro Moreschi (1858-1922). Bei dieser Aufnahme von Paolo Tostis "Ideale" 1902 war Moreschi 44 Jahre alt.

Der italienische Aufklärer Lodovico Antonio Muratori schrieb 1706, als an allen Opernbühnen die Kastraten regierten: "Die Hauptrollen werden von Sopranen dargestellt, so dass die Helden keine männliche, kräftige Stimme haben, sondern mit einer weichen, weiblichen sprechen." Muratori zeigt dem heutigen Leser, dass auch damals die Stimmlage der Helden auf einige Verwunderung stieß. Seedorf zählt auf, was von der Musikwissenschaft alles als Begründung für den Zauber des Kastratenklanges herangezogen wurde. Aber er macht auch deutlich, dass ein Sprung in die eigenartige Ästhetik nötig war, um ihre Schönheit zu erkennen.

Die Auffassung, dass das Schöne das Natürliche sein soll, ist alles andere als natürlich. Es sind bestimmte Epochen, die gegen die Raffinesse der herrschenden Schönheit eine einklagen, die ohne Verstümmelung auskommt. Man wird den Reiz des Heldensopran nicht verstehen, wenn man nicht auch den des Verbotenen, des Anstößigen darin erkennt. Es geht gerade darum, die Geschlechtergrenzen zu überspielen. Nicht im Mittelfeld, sondern an den Extremen. Nicht der muskelarme Intellektuelle - Don Bartolo ist ein Bass - singt in weiblichen Höhen, sondern der muskelbepackte Held. Man stelle sich vor, Wolfgang Petersen hätte in seinem Film "Troja", den von Brad Pitt gespielten Achill mit der Stimme von Mariah Carey ausgestattet! Transgender ist nichts Neues. Queer hat es immer wieder gegeben. Die Geschlechtsrollen werden mühsam erlernt. Einer antiken Überzeugung nach ist nur weise, wer als Mann und als Frau gelebt hat. Das wird alles hineinspielen in die bewundernde Anhimmelung, die den Kastraten fast 150 Jahre lang entgegengebracht wurde. Man darf nicht vergessen: Schon Achill hatte sich in Frauenkleidern versteckt und Alexander war gerade mal zwanzig Jahre alt, als er begann, der Große zu werden. Auch Siegfried, wenn es ihn denn jemals gegeben haben sollte, war ganz sicher kein Heldentenor à la Lauritz Melchior.


Philippe Jaroussky und Danielle De Niese in Monteverdis "L'Incoronazione di Poppea" von Monteverdi

Am Ende freilich waren es nicht mehr die Heldensoprane, sondern die Liebesopfer, die von Kastraten gesungen wurden. Jetzt fand hier die Verschmelzung von Mann und Frau statt: "Geradezu zelebriert wird diese Annäherung in Zwiegesängen, in denen die Stimmen der geliebten Frau und des Helden in engem Abstand zu einander geführt werden und einander umschlingen, vom Schlussduett Poppeas und Nerones in Claudio Monteverdis 'L'incoronazione di Poppea' ('Pur ti miro') von 1642 bis hin zur stimmlichen Vereinigung Giuliettas und Romeos in Bellinis 'I Capuleti e i Montecchi' ('Sì, fuggire') von 1830." Letzteres ist die Vereinigung eines Soprans mit einem Mezzosopran, beide von Frauen gesungen. Romeo ist eine als Mann verkleidete Sängerin. Mehr als einhundert Jahre lang war in allen Besetzungslisten europäischer Opern mit "Primo soprano" ein Kastrat gemeint. Das war nun vorbei. Endgültig. Hoffen wir, die Feinde der Verstümmelung.

Thomas Seedorf: Heldensoprane - Die Stimmen der eroi in der italienischen Oper von Monteverdi bis Bellini, Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 88 Seiten, 12,90.