Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
27.09.2002. Nikolaus von Kues' Traktat über den Frieden zwischen den Religionen, Nelly Arcans Roman "Hure", Durs Grünbeins Kinderalbum in Versen "Una storia vera".
Trinitätslehre

Seit dem 11. September vergangenen Jahres häufen sich die Gespräche zwischen Moslems, Christen und Juden. Keine evangelische Akademie, die glaubt, ohne eine derartige Veranstaltung auskommen zu können. Nach dem Fall von Konstantinopel (am 29. Mai 1453) setzte sich einer der bedeutendsten Kirchenpolitiker und Theologen der Geschichte des christlichen Abendlandes und inszenierte eine ähnliche Debatte. In seinem Kopf, auf seinem Schreibtisch. Nikolaus von Kues (1401 bis 1464) schrieb "Über den Frieden unter den Religionen". Es ist kein Traktat, sondern eine Folge von imaginären Gesprächen zwischen Christen, Juden, Moslems und Hindus, getragen vom Willen, Gemeinsames deutlich zu machen. Cusanus christianisiert, einer großen Tradition seiner Kirche folgend, dabei die anderen Religionen. Wenn die Seelen gewissermaßen von Natur aus christlich sind, so sind es auch die Religionen, so weit sie den Seelen Rechnung tragen. Wer von Göttern spricht, der spricht vom alleinigen Gott, seiner Göttlichkeit und ihren unterschiedlichen Aspekten. Darauf einigen sich die Kontrahenten sehr schnell. Einig sind sie sich auch bald in ihrer Kritik am Orakelwesen, das auch bei Cusanus - lange nach der antiken Aufklärung und lange vor der europäischen - als "Priesterbetrug" etikettiert und dementsprechend verachtet wird.

Schwierig aber und nicht recht zu versöhnen scheinen die Standpunkte in der Trinitätsfrage. Man versteht die Diskussion nicht so Recht, bis einem dämmert: Es geht dabei um mehr als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Es gibt Stellen, da merkt, wer Hegel gelesen hat, dass er - ohne es zu wissen - Hegel lesend Cusanus las: "Es dürfte jedermann einleuchten", sagt das als einer der Dialogpartner auftretende Göttliche Wort, "dass die göttliche Allmacht, die Gott ist, als solche in sich Einheit, Gleichheit mit sich selbst, also Identität, und das Band zwischen Einheit und Gleichheit einschließt." Dass er das Unverständlichste mit einem "es dürfte jedermann einleuchten" einleitete, macht den Charme nicht nur dieses Dialoges aus. Die Trinitätslehre, so begreift man nach und nach, erklärt uns das Sein selbst, nicht nur das eines bestimmten Gottes. Oder doch diesen, insofern er das Ganze ist und das Besondere und der Unterschied zwischen dem Ganzen und dem Besonderen. Es dämmert in dem Text auch eine weitergehende Lektüre der Trinitätstheologie auf: Sie macht klar, wie das Eineganze sich zu den von ihm sich vereinzelt habenden Teilen verhält. Sie bleiben in ihrer Unterschiedlichkeit eins.

Der Fremde ist nicht wirklich fremd, er ist Teil desselben Ganzen, zu dem auch ich gehöre. Die zerklüftete Menschheit ist trotz aller Gegensätze doch eine. Das hat das Christentum von und an Gott gelernt. Er diente als riesige Projektionsfläche, auf der die Menschen sich selbst erkennen konnten. Der erfahrene Kirchenpolitiker Cusanus scheint den Glauben vieler Intellektueller gehegt zu haben, mit den Ursachen wären die Folgen beseitigt. Dabei kümmert nichts und niemand sich darum, wenn ihm entzogen wird, was es oder ihn auf die Welt gebracht hat. Im Laufe weniger Lebensmonate hat man sich so fest ans Dasein gebunden, dass man sich aus ihm nicht durch ein paar geschickte Schläge gegen das, was einen hervorgebracht hat, vertreiben lässt. Auch die Feindschaft zwischen Menschen und Völkern ist ein autonomes System, das, erst einmal etabliert, bestens ohne Ursachen auskommt. Fallen bestimmte Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung des Systems aus, so werden neue herangeschafft. Fremdenhass zum Beispiel grassiert besonders stark dort, wo es so gut wie keine Fremden gibt. Wie aus dem einen Ganzen der Menschheit die vielen einander bekriegenden Teile hervorgingen und immer wieder hervorgehen, wie sie sich versöhnen und wieder eins werden können in ihrer Verschiedenheit - davon handelt im Spiegel der Trinitätslehre, also auf der Ebene äußerster, geradezu Heideggerscher Abstraktion die Trinitätstheologie in diesen Dialogen des Nikolaus von Kues.

Nikolaus von Kues: "Vom Frieden zwischen den Religionen". Aus dem Lateinischen von Klaus Berger und Christiane Nord, Insel-Verlag, Lateinisch - deutsch, 151 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-458-17137-1


Kommata

Nein, ein Roman ist das nicht. Es ist etwas viel Fesselnderes. Es ist eine Suada. Es gibt keine Story, keine Personen, die sich kennenlernen, verlieben, trennen, die streiten oder sich Geschichten erzählen. Es gibt nur eine einzige Stimme: die der "Hure". Die ist Literaturstudentin und sie muss alles, was sie tut, alles, was mit ihr geschieht, was sie mit sich geschehen lässt, in Literatur verwandeln. Sonst versteht sie es nicht. Sonst bleibt es ihr fremd. Gerade so als wäre es ihr nicht passiert. Sie benutzt Sprache wie andere ihren Verdauungsapparat und sie ihr Genital. Sie wirft rücksichtslos hinein, was ihr widerfährt. Sie bearbeitet es allerdings, das doch bestimmt auch langweilig und einfach nur öde ist, ruhelos so lange, bis aufgeregte, gehetzte, getriebene Sätze herauskommen, die den Leser nicht los lassen, wenn er nicht etwas dagegen hat, dass man ihm so eng auf den Leib rückt. Es sind endlose Perioden, die nicht ausschwingen, sondern herausgepresst werden in kurzen, erregten Stößen. Die Obszönität des Beschriebenen reicht bei weitem nicht an die der Beschreibungen heran. Es ist deren Atemlosigkeit, die dem Leser immer wieder den Atem raubt. Es macht nichts aus, dass die Erzählerin immer wieder Dummheiten sagt. Zum Beispiel: "Die Hure übernimmt die Fackel von allen, die zu alt oder zu hässlich sind, sie stellt ihren Körper anstelle derer zur Verfügung, die das Bedürfnis der Männer nach immer festerem, immer jüngerem Fleisch nicht mehr erfüllen können."

Wem jemals nachts von einer der Muttchennutten auf dem Kurfürstendamm "Hallo Süßer" zugerufen wurde, der weiß, dass der Markt weit diversifizierter ist als Nelly Arcans Erzählerin uns glauben machen möchte. Diese Schwächen spielen aber keine Rolle. Der Leser verfällt dennoch dem Rausch dieser von den Peitschen der Kommata vorangetriebenen Sätze. Bis er irgendwann nicht mehr kann und ermattet anhält. Vielleicht nimmt er dann das Buch nie wieder in die Hand. Denn er weiß, es wird so weiter gehen. Nichts wird ihn überraschen, nichts ihm begegnen, was er niemals vergessen wird. Es bleibt ihm der Rausch, die Atemlosigkeit der Erzählerin und die eigene. Wunderbar und doch gleichgültig wie eine Fahrt mit der Achterbahn.

Nelly Arcan: "Hure". Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, C.H. Beck Verlag, 191 Seiten, 19.90 Euro, ISBN 3-406-49318-1


Verliebt

Durs Grünbein hat eine Tochter bekommen. Er hat wie viele Eltern vom ersten Tag an Buch geführt über ihr Leben. Es ist ein Gedichtband geworden. Einunddreißig, wenn ich mich nicht verzählt habe, und alle sind sie Zeugnisse einer eigentümlichen Verwirrung, die die meisten Eltern erfasst. Alles ist wunderbar an diesem Kind. Wie es lacht, wie es weint, wie es furzt, wie es sich aufrichtet und wie es sich fallen lässt. Das Kind gibt dem Erwachsenen die Möglichkeit die Welt frisch zu sehen. Er hat die Chance zu begreifen, dass nichts selbstverständlich ist, dass alles erarbeitet werden muss, dass aber Arbeit und Lust so nahe bei einander liegen können, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Mit dem Finger das treffen können, was man treffen will, ist jede Anstrengung wert, aber die Anstrengung selbst scheint dem Körper, der sich darin erfährt, ein Vergnügen. Durs Grünbein hat das alles beobachtet und aufgeschrieben in Versen, bei denen sich Lachen auf Wachen und Kind auf Hyazinth reimen.

Es hat Leser gegeben, die sich daran störten, dass Grünbein gar zu Gelehrtes einfällt zu seinem Baby. Oh, sie sind dumm, diese Leser. Sie kleben immer noch auf dem Leim, auf den sie in der Schulzeit platziert wurden. Was ist das Schönste zum Beispiel an dieser Stelle: "All dieses Kichern, Sichzieren, Beleidigttun, Aufstöhnen ist/ So unfassbar wie die Laus auf der Leber, das Wetter, der jüngste Tag./ Das Deuten überlässt er den Seinen, dieser winzige Expressionist./ Und so geht es, ein Leben lang. Verstehn wird ihn nur, wer ihn mag."

Die "Laus auf der Leber", sicher, sie ist auch hübsch, aber großartig, wirklich ein Knaller ist "dieser winzige Expressionist". Der sprengt die Geschichte und er erhellt nicht nur das Baby, sondern auch den Expressionismus. Das Kind klärt den Dichter auf und nicht etwa er es. Durs Grünbein stülpt dem Kind nicht den Expressionismus über, sondern das Kind macht ihm klar, was es mit dem Expressionismus auf sich hat. Leider gibt es unschöne Fehler in dem kleinen Bändchen. Im Italienischen sagt man nicht "bona sera", sondern "buona sera" und die Champagnerwitwe heißt nicht etwa "Cliquot", sondern "Clicquot". Es ist schade, dass einer der bedeutendsten deutschen Dichter sich offenbar nur so selten eine Flasche Champagner leisten kann, dass er so ungenaue Erinnerungen an das Etikett hat. Ich dachte freilich, festangestellte Lektoren des Suhrkamp-Insel-Verlages wüssten, schon um mit den Trinkern unter den Romanciers mithalten zu können, besser Bescheid. Wie schön, dass das Internet keine Layoutgrenzen kennt. Ich zitiere einfach zum Schluß mein Lieblingsgedicht aus Grünbeins "Gesang vom Kindchen":

"Früher Blues
Manchmal, wenn sie heftig weint,
Rinnen ihr die Tränen bis ins Ohr.
Unergründlich, was sie da verneint,
Doch es bricht aus ihr hervor.

Was denn, sind das bloße Launen?
Klagt so eine, die nie hungern muß?
Nirgends Mangel, weich wie Daunen,
Jederzeit stillt sie die Mutterbrust.

Hat sie Angst, man ließe sie allein
Wie am Strand das Robbenjunge?
Woran denkt sie, wenn sie greint,
Zitternd mit geschwollner Zunge?

Pausenlos geht das. Fermaten
Dehnen ihren Schrei. Verrenkt,
Zeigt ihr Körper nackt den Vertebraten
Wie vom Dasein selbst gekränkt.

Wozu ist das gut, Natur, sag dus.
Schreit das Ich so, unser aller Es?
Steigt aus solcher Dissonanz der Blues,
Und es hört sich an wie SOS?"

Durs Grünbein: "Una Storia Vera - Ein Kinderalbum in Versen". Insel Verlag, 44 Seiten, 11,80 Euro, ISBN 3-458-19237-9