Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
11.07.2002. Wolf Singers Essays zur Hirnforschung, zwei Fotobände von Camilo Jose Vergara, Ved Mehtas Buch "All for Love" - ein Rückblick auf die wichtigsten Frauen in seinem Leben -, der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Adorno.
Lektor gesucht!

"Der Tod eines Kritikers" erregt größte Aufmerksamkeit. Er findet nur in einem Roman statt. Die tatsächliche Ermordung des Lektors dagegen scheint niemanden aufzuregen. Wolf Singer, Direktor am Max Planck Institut für Hinforschung in Frankfurt/Main, hielt 1998 einen Vortrag über "50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft". Jetzt wurde er wieder abgedruckt in des Professors Essaysammlung "Der Beobachter im Gehirn".

Es ist ein - um mich höflich auszudrücken - auffällig ungenau formulierter Vortrag, der dringend ein Lektorat nötig und um der interessanten Ausführungen willen auch verdient gehabt hätte. Das hat nicht stattgefunden. So bleibt jetzt zum Beispiel stehen, dass am Tier sich ausschließlich sensorische oder motorische Leistungen studieren lassen, während "Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Aufmerksamkeit und Intentionen" "den Menschen ausmachen". Wolf Singer hat das sicher nicht so gemeint. Aber so steht es da. Der inzwischen längst ermordete Lektor hätte das gesehen, den Autor auf seine - um mich wieder höflich auszudrücken - missverständliche Formulierung hingewiesen, und wir wären nicht mit einem Blick auf Tier- und Menschheit wie aus den Tagen Descartes' traktiert worden.

Wolf Singer bringt auch Helmut Kuhn ins Gespräch, den es sicher gibt, der aber mit der Theorie vom Paradigmenwechsel nichts zu tun hat. Die wurde in einem 1962 erschienenen Klassiker der Wissenschaftstheorie "The structure of scientific revolutions" von Thomas S. Kuhn vorgelegt. Wer das Buch auf deutsch lesen möchte, der kann es bestellen beim Suhrkamp Verlag. Dort erschien es als Band 25 in eben der Reihe - stw -, deren Band 1571 Wolf Singers "Der Beobachter im Gehirn" ist.

Soviel zur Ermordung des Lektors. Der Suhrkamp-Verlag hat sich nicht vermittelnd zwischen Autor und Leser gestellt, sondern den Zugang zu den Gedanken Singers erschwert. Kann man Singer nicht dazu gewinnen, auf 150 Seiten die zentralen Erkenntnisse seiner Forschung vorzustellen? Wenn dann ein Lektor sich noch einmal 14 Tage darüber her machte, wir hätten ein Buch und keine Kopienmappe und es wäre ein kluges, ein großes Buch. Der Leser, der sich durch die zahlreichen Wiederholungen, die unscharfen Formulierungen, das unbeholfene Deutsch Singers hindurch quält, sieht dieses Buch immer wieder vor sich wie einen lockenden Kontinent, den zu betreten ihn aber der hindert, der vorgibt ihn dorthin zu bringen.

Die Theorie von den Lernfenstern - wir müssen bestimmte Fähigkeiten, zum Beispiel das Sehen, in einer bestimmten Entwicklungsphase gelernt haben, sonst lernen wir es nimmer - kommt in fast jedem der Aufsätze vor. Nirgends wird sie systematisch entwickelt. Die Synchronisationshypothese ist so zentral für Singers Blick auf das Funktionieren unseres Gehirns - warum nimmt er sich nicht Zeit für sie und uns und sich, sie klar zu machen? Dass das Gehirn für Singer kein Filtersystem ist für von Außen in es eindringende Reize, sondern Millionen miteinander kommunizierender, aktiver, gewissermaßen Hypothesen entwickelnder, überprüfender, bestätigender und verwerfender Instanzen, haben wir verstanden, aber warum hat Wolf Singer uns nicht klarer gemacht, wie er und seine Kollegen zu dieser Sicht der Dinge, zu diesem Paradigmenwechsel, gekommen sind?
Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn - Essays zur Hirnforschung, Suhrkamp Verlag, 238 Seiten, 11 Euro ISBN 3-518-29171-8


Wanderfalken

1995 veröffentlichte Camilo Jose Vergara, ein amerikanischer Soziologe und Fotograf seinen Band "The New American Ghetto" (mehr zur Ausstellung 1996 hier, Bilder hier). Eine Bestandsaufnahme, die immer wieder dem deplorablen status quo ältere Aufnahmen entgegenhält. Das Buch zerstört den Mythos vom Fortschritt. Es macht klar, dass auch in den USA nicht immer alles besser wurde. Der Fotograf Vergara hört auf den Soziologen Vergara, der wiederum sich von den Bewohnern sagen lässt, wie sie sich fühlen in "ihrem" Ghetto. So stehen einander gegenüber auch die Tristesse der Fotografien und der unausrottbare Optimismus der Spezies Mensch, die sich nicht unterkriegen lassen will. Nicht von der ersten und schon gar nicht von der zweiten Natur. 1999 legte Vergara "American Ruins" vor.

Hier geht es nicht um Lebenszusammenhänge, sondern um Architektur. Von der viktorianischen Neugotik des Brush Parks in Detroit standen 1987 noch ganze Ensembles. 1997 wurde eines seiner letzten Häuser zerstört. Ein weiteres Stück des von dem deutschen Architekten Erich Mendelsohn 1926 so begeistert beschriebenen Amerika war zerstört. Vergara ist der unerbittliche Chronist dieser Vernichtung. "American Ruins" ist ein Nekrolog auf das Amerika, dessen Glanz und architektonische Arroganz Generationen begeisterte. Es war die Zeit einer selbstbewussten Moderne, der die Weltgeschichte und ihre Formen nichts war als eine Plunderkiste, aus der man sich souverän wie ein verwöhntes Kind bediente. Es war auch die Zeit der ersten Wolkenkratzer, eine Zeit, in der Fabrikhallen gebaut wurden, die Kathedralen glichen.

Vergara hat das alles gesammelt über Jahrzehnte. Er hat immer wieder dieselben Häuser aufgesucht, sie fotografiert, sich notiert, wer darin wohnte. Seine Bücher bringen nur kleine Ausschnitte aus Sammlungen, die einmal zu den großen Schätzen der Archäologie der amerikanischen Städte des 20. Jahrhunderts gehören werden. In "American Ruins" zeigt uns Vergara, dass die Heutigen in der vergangenen Pracht hausen wie die Römer des Mittelalters in den Palästen des antiken Rom. Wir wissen einen prächtigen, mit rosa und gelben Stuckdecken geschmückten Theatersaal nur noch als Parkplatz zu nutzen. Ein anderes Foto zeigt einen alten Wolkenkratzer, auf dessen Dach zwischen zu Schrott gewordenen Antennen und Mikrowellensendern Wanderfalken nisten. Mitten in Detroit. Das alles sehen die scharfen Augen Vergaras und wir können es sehen durch ihn.
Camilo Jose Vergara, The New American Ghetto, Rutgers University Press, 235 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Fotos ISBN 0-8135-2331-1
Camilo Jose Vergara, American Ruins, The Monacelli Press, 224 Seiten, zahlreiche farbige Fotos ISBN 1-58093-056-5

Hier gibt es eine Tour durch die "fabulous ruins of Detroit". Die Fotos sind allerdings nicht von Vergara


Netzhaut

Neun Kapitel hat das Buch. Sie handeln von Gigi, Vanessa, Lola, Kilty und Dr. Bak. Der Titel des Buches lautet "All for Love". Es ist Ved Mehtas Rückblick auf die wichtigsten Frauen seines Lebens und auf seinen Psychoanalytiker, der ihm beim Umgang mit jenen half. Es ist ein sehr heiteres Buch. Von jener Heiterkeit freilich, in der immer wieder der Unterschied zwischen Weinen und Lachen aufgehoben ist. Man wird süchtig nach dem sanften Klang dieser Erzählung, im dem die einsamsten, die verzweifeltsten Nächte nichts sind als Kapitel einer sich immer weiter entfaltenden menschlichen Komödie, die den Leser auf sein eigenes Leben blicken lehrt, als sei auch das nichts als eine bitter-süße Kaminerzählung, ein anmutiges Rondo, das durch die ungeschickten Stolperschritte der Wirklichkeit angenehm aufgeraut wird, so dass die Versöhnungen, die Momente des Glücks nur desto schöner sind.

Kitsch also. Es gibt keine Kunst, die nicht auch Kitsch wäre. Wer den Kitsch fürchtet, der fürchtet die Kunst, der fürchtet ihre verklärende Kraft, der fürchtet, worin sie der Religion am nächsten kommt: der fürchtet ihren Trost. Ved Mehta (homepage) ist blind. Er setzt ein Gutteil seines schriftstellerischen Ehrgeizes darein, den Leser das nicht spüren, nicht einmal ahnen zu lassen. Es fehlt also nicht an Beschreibungen der Frauen, der Zimmer und der Orte und Landschaften, die er passiert. Das hat, weiß man erst einmal um Mehtas Blindheit, etwas Gespenstisches. Völlig verrückt wird die Sache, wenn man sieht, wie schön zum Beispiel Gigi - von ihr gibt es ein Foto in dem Buch - war. Womit hat er ihre Schönheit gesehen? Wie ihren Reiz wahrgenommen?

Mehta spricht nicht mehr von Gerüchen und Geräuschen als andere Autoren. Wir sehen vor uns, wovon er schreibt. Er lässt uns sehen, was er - bilden wir uns ein - nicht sehen kann. Es ist Zauberei. Aber hat Flaubert Madame Bovary gesehen? Literarische Ansichten entstehen im Kopf, sie sind zwar von Außen eingedrungen, bilden sich aber auf keiner Netzhaut ab. Ein Großteil des Werkes von Ved Mehta ist autobiografisch, essayistisch. Es ist als helfe ihm die Blindheit, die Wirklichkeit selbst literarisch zu erleben, als brauche er darum ihre Fiktionalisierung nicht. Er erlebt sie schon immer als Fiktion.
Ved Mehta, All for Love - A Personal History of Desire and Disappointment - 342 Seiten, 14,99 engl. Pfund, Granta Books ISBN 1 86207 439 9


Dämonisch erleichtert

Wer als junger Mann nach Frankfurt ging, um beim von ihm bewunderten Adorno zu studieren, wer sich seine Bewunderung in all den inzwischen vergangenen Jahren nicht hat nehmen lassen, nicht von den Lästerzungen und nicht von der eigenen, sich gerne für Intelligenz haltenden Dummheit, der wird den Briefwechsel zwischen Adorno und Thomas Mann mit sehr gemischten Gefühlen lesen.

Von Thomas Mann aus gesehen - und der Briefwechsel gibt uns die Möglichkeit zu dieser Perspektive - hat Adorno etwas penibel Verklemmtes, etwas von höherer, freilich Schwindel erregend höherer Buchhalterei. Man lese nur seinen Brief vom 28. April 1952, in dem er dem mit seinem Felix Krull hadernden Autor ermutigen möchte, doch weiterzumachen und sich nicht täuschen zu lassen, von dessen bürgerlicher Abkunft aus der Jugendzeit des inzwischen durch den Josephsroman, den Doktor Faustus in so ganz andere intellektuelle und literarische Sphären aufgestiegenen Autors. Adorno erinnert gelehrt daran, dass es auch andere Werke gibt, in deren Fortgang die Autoren deren Anfänge soweit hinter sich ließen, dass man mit Recht sagen könnte, dass sie und die Leser sie vergaßen. Wer erinnert sich am Ende von Faust II noch an die Wette?

Das mag Thomas Mann gefallen haben. Schließlich war es kein inferiorer Vergleich. Aber er wusste natürlich auch, dass Goethe nahezu sechzig Jahre am Faust gearbeitet hatte. Thomas Mann starb drei Jahre nach diesem Brief. Auch Adornos zweites Beispiel war nicht klüger. Er erinnerte Thomas Mann daran, dass Siegfrieds Tod mit dem Reigen der Rheintöchter nichts mehr zu tun hatte. Aber Thomas Mann wusste auch, dass zwischen beiden Werken mehr als ein Vierteljahrhundert lag. Adorno sagte Thomas Mann nichts Neues. Er bestätigte nur mit nahezu tödlicher Präzision dessen Ängste. So klug Adorno damals war, er war noch jung und wusste noch nichts vom Schwinden der Kräfte. Er kannte noch nicht das Gefühl: das konnte ich einmal. Jetzt kann ich es nicht mehr.

Adorno hatte Thomas Mann in der Emigration kennen gelernt, war in Kalifornien dessen musikologischer Berater für den "Doktor Faustus" gewesen und blieb mit ihm in losem Kontakt. Adornos wichtigster Brief stammt vom 28. Dezember 1949. Darin schildert er dem noch in den USA lebenden Thomas Mann die Lage in Deutschland: "Die extreme Beobachtung an den Nürnberger Prozessen: dass die unsägliche Schuld gleichsam ins Wesenlose zerrinnt, wiederholt sich bis in die unscheinbarste Alltäglichkeit hinein. Drastischer Ausdruck dessen: ich habe, außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen, und das keineswegs in dem ironischen Sinn, dass keiner es gewesen sein will, sondern in dem weit unheimlicheren, dass sie glauben, es nicht gewesen zu sein; dass sie es ganz und gar verdrängen; ja dass sie, möchte man zuweilen spekulieren, insofern es wirklich nicht 'waren', als angesichts des den Menschen entfremdeten Unwesens der Diktatur diese nie in dem Sinne zugeeignet wurde wie ein bürgerliches System, sondern fremd zugleich und toleriert, als eine böse Chance und Hoffnung, außerhalb der Identifikation blieb ... was es jetzt dämonisch erleichtert, an eben der Stelle ein gutes Gewissen zu haben, wo das schlechte sitzt."

Das ist so gespenstisch genau, dass man es sofort glaubt. Bis man sich klarmacht, dass man es auch darum glaubt, weil es mit größter Intensität auch beschreibt, was man bei vielen einst wortstarken Propagandisten des DDR-Systems heute beobachtet. Wer wissen möchte, was Schreiben ist, der muss die vier Seiten zur Montage-Technik lesen, die Thomas Mann in seinem berühmten Brief vom 30. Dezember 1945 erklärt. Ach, das ganze Buch soll man lesen.
Theodor W. Adorno, Thomas Mann: Briefwechsel 1943-1955, 179 Seiten, Suhrkamp Verlag ISBN 3-518-58316-6