Vom Nachttisch geräumt

Schweizer Riegel

Von Arno Widmann
20.06.2016. Eine Taktik- geschichte des Fußballs, interessant auch für Nicht-Fans: Tobias Eschers "Vom Libero zur Doppelsechs".
Vielleicht sagt all denen, die jetzt vor den Fernsehern sitzen und Fußball gucken, Tobias Eschers "Vom Libero zur Doppelsechs" nichts Neues. Aber wer vor mehr als 50 Jahren zum letzten Mal Fußball gespielt und noch im Ohr hat, wie sein Klassenkamerad ihm zurief "Arno, gib ab! Zu mir! Zu mir!" und wie der dann das Tor schoss, das genau so gut ich hätte schießen können und wie der sich dafür bejubeln ließ, der wird Eschers Buch lieben. Escher schreibt "Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs". Es heißt, der Teufel stecke im Detail. Das ist eine Umschreibung für die Erfahrung, dass alles interessant wird, wenn man sich darauf einlässt. Es sind die Einzelheiten, die auch den bezirzen, den der erste Eindruck nicht überwältigen konnte.

Eschers Fußballgeschichte ist keine von Torschützen und Helden, von großartigen Paraden und Dribblern. Es ist eine Geschichte von Raum und Zeit. Wie verteilt man elf Spieler - zehn um genau zu sein, denn über den Torhüter darf man nicht frei verfügen - über den Raum des Spielfeldes und mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten über die Zeit des Spieles? Wie viele Spieler sind in der Verteidigung? Wie viele im Mittelfeld? Wie viele im Angriff? So entstehen jene "Telefonnummern", wie sie Pep Guardiola verächtlich nannte, also zum Beispiel 2-3-5 oder 4-2-3-1. Diese Aufstellungsreihen sagen, das betont Escher, noch nicht viel. Klar wird einem die Taktik eines Spieles, einer Mannschaft erst, wenn man begreift, auf welche Spielzüge sie sich stützt: Geht sie mit weiten Pässen über die Außenflügel oder kämpft sie sich im Mittelfeld mit einer Folge von Doppelpässen in Einzelgefechten durch? Geht sie nach vorn oder versucht sie möglichst lange den Ball zu halten? Der Zuschauer mag letzteres nicht. Aber es kann sehr effektiv sein, wenn es der Mannschaft gelingt, darin keinen Selbstzweck zu sehen, sondern die Möglichkeit, Überraschungsangriffe aufs gegnerische Tor zu starten.


Bild aus dem besprochen Band

Die Fußball-Enthusiasten wissen das alles. Aber kennen sie auch den Fürther Flachpass? Wer erinnert sich noch an das italienische Catenaccio? Von letzterem war seit Anfang der 60er Jahre die Rede. "Mauerfußball" nennt man diese Taktik auch. Man überlässt dem Gegner die Initiative und versucht den eigenen Strafraum dicht zu machen. Erfunden wurde dieses Verfahren für die Europameisterschaft 1938 in Frankreich. Nicht von einem Italiener, sondern vom Trainer der Schweizer Fußballnationalmannschaft. Karl Rappan wusste, dass seine Elf keine Chance hatte gegen die aus den besten Spielern Deutschlands und Österreichs zusammengestellte und von Sepp Herberger trainierte Mannschaft des neuen Großdeutschland. Also entwickelte er eine Taktik, die die überragenden spielerischen Qualitäten der deutschen Mannschaft leerlaufen lassen sollte. Er erfand den "Schweizer Riegel" und den "Ausputzer" gleich hinzu: 1-3-3-3. Der Ausputzer stand noch hinter den Verteidigern. Er bewachte keine Angreifer. Er bewachte den Raum. "Mit diesem System gelang Rappan sein größter Triumph. Die Schweizer schalteten die hochfavorisierten Deutschen aus. Herbergers nicht eingespielte Truppe fand kein Mittel gegen den Schweizer Riegel. Das erste Aufeinandertreffen endete mit einem 1:1. Da zu jener Zeit das Elfmeterschießen noch nicht erfunden war, setzte die Fifa ein Wiederholungsspiel an. Die Schweiz gewann sensationell mit 4:2."

Eschers Taktikgeschichte bietet immer auch einen Blick über das Fußballfeld hinaus. So verschweigt er nicht, dass Rapan Österreicher war und als einziger die deutsche Mannschaft mit Hitlergruß willkommen hieß. Nazideutschland bot ihm den Posten des Nationaltrainers ab. Rapan lehnte ab. Erst nach dem Krieg wanderte der Schweizer Riegel über die Alpen. Dort wurde er zum italienischen Catenaccio.

Taktikgeschichte ist auch Mentalitätsgeschichte. Das geht gleich zu Beginn los. Der moderne Fußball ist eine englische Erfindung. Fußballgeschichte ist Immigrations- und Integrationsgeschichte. Er galt als undeutsch und gebärdete sich darum besonders deutsch, um hier anzukommen. Alle englischen Begriffe wurden ins Deutsche übersetzt. In Österreich und in der Schweiz war das nicht nötig. Der deutsche Fußball ging auch eine enge Symbiose mit dem Militär ein. Der wahre Siegeszug des Fußballs war der erste Weltkrieg. "Die immer wieder festgefahrenen Frontlinien sorgten dafür, dass Soldaten, die nicht gerade Wache standen, viel Freizeit hatten, die sie mit Sport füllten. Hinter jeder Frontlinie hob das Militär zahllose Fußballplätze aus dem Boden. Bevölkerungsschichten, die vorher kaum mit dem Fußball in Kontakt kamen, traten plötzlich jeden Tag gegen den Ball." Es ist eine Lust, Tobias Escher zu lesen. Aber wem sage ich das? Außer mir kennen ihn schon alle. Er zählt zu den bekanntesten Sportjournalisten Deutschlands, schreibt z.B. für "11 Freunde" und macht fürs ZDF Taktikanalysen. Er ist Mitbegründer des Taktikblogs "Spielverlagerung.de".

Tobias Escher, Vom Libero zur Doppelsechs, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2016, 303 Seiten mit jeder Menge Diagrammen, 12,99 Euro.