Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
09.01.2006. Wolfgang Kohlhaases Drehbuch "Sommer vorm Balkon", Martin Bucers Schriften zum Abendmahlsstreit, Roy Stuarts Pornofotos für die Besserverdienenden, Bora Cosics Gedichte aus Charlottenburg, Uwe Timms Roman über Benno Ohnesorg und ein Bildband über Mimese.
Nicht einmal Liebe

Gebrauchsanweisungen kann ich nicht lesen. Es gibt viele Gründe dafür. Die meisten sind in einem Idiom geschrieben, das mit der Sprache, die wir sprechen offensichtlich verwandt ist, aber doch nur so entfernt, dass das Mittelhochdeutsche leichter verständlich ist. Aber selbst mit denen, bei denen ich jedes Wort und jeden Satz verstehe, kann ich nichts anfangen. Ich lese sie, aber ich kann sie nicht übersetzen ins wirkliche Leben. Ich lese sie als Text, eben gerade nicht als Gebrauchsanweisung. Ganz ähnlich ergeht es mir - so habe ich jetzt gelernt - auch mit Drehbüchern. Wolfgang Kohlhaases Drehbuch zu Andreas Dresens mehrfach ausgezeichnetem Film "Sommer vorm Balkon" habe ich nicht verstanden. Ich mag die witzigen Wendungen darin, die Einfälle, ich liebe die Melancholie und mich begeistert der skeptische Blick auf das Zusammenleben der Geschlechter, aber ich sehe keinen Film vor mir. Wahrscheinlich muss man Drehbücher lesen lernen. Wie können Schauspieler, Produzenten, Agenten sonst feststellen, welches Drehbuch sie reizt und welches nicht?

Ich mag Kohlhaases frühere Filme. Die meisten, die sie gesehen haben, mögen sie. Ich mag Kohlhaases Erzählungen sehr. Leider sind sie schon lange nicht mehr lieferbar. (Seine Erzählung "Erfindung einer Sprache" ist vor kurzem für 880,- Euro in einer Schmuckkassette mit fünf signierten Originallithographien von Bernhard Heisig in einer Auflage von 100 Exemplaren bei Faber und Faber erschienen und schon vergriffen.) Aber ich bin blind und taub, was dieses Drehbuch angeht. Ein Drehbuch ist offenbar etwas ganz anderes als eine Erzählung. Ganz andere Knöpfe und Schalter unserer Fantasie werden angesprochen. Es gibt ganz offensichtlich die verschiedensten Arten von Lesen. Ob ich Drehbuch-lesen noch lernen kann? Oder sind die dafür bestimmten Zellen wegen mangelnder Nutzung unwiederbringlich abgestorben? Sind die entsprechenden Lernfenster geschlossen?

Dem Drehbuch sind Gespräche beigefügt, die Regine Sylvester mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, mit den Hauptdarstellerinnen Inka Friedrich und Nadja Uhl, mit dem Hauptdarsteller Andreas Schmidt und dem Regisseur Andreas Dresen geführt hat. Es sind kluge Unterhaltungen über "Sommer vorm Balkon", über die Filmerei allgemein und über das vertrackte Verhältnis von Film und Wirklichkeit. Wolfgang Kohlhaases Antwort auf Regine Sylvesters Frage "Stehen Ihnen beim Schreiben Ihre Figuren vor Augen?" erklärt mir ein gut Stück meiner Schwierigkeiten. Offenbar handelt es sich tatsächlich nicht um eine private Marotte, sondern um die notwendige Konsequenz der spezifischen Kunstform des Drehbuchs. Kohlhaases Antwort ist so klar wie er immer ist: "Nein. Es handelt sich immer um Finden und Erfinden. Was ich finde, bindet sich zunächst an die Bezugsperson. Aber man verbessert ja, hoffentlich, was man gefunden hat, durch Erfindung. Zum Finden gehört Gewissenhaftigkeit, zum Erfinden braucht man Mut. Wenn ich etwas erfinde, entsteht eine andere Figur. Aber die stelle ich mir nicht gleich in aller Körperlichkeit vor. Eher Haltungen und Tonlagen. Man kann dann so oder so besetzen." Ecos offenes Kunstwerk - hier ist es.

Andreas Schmidt erzählt von seinem Vater, einem Alkoholiker, bei und von dem er gelernt hat: "Es gibt keine Freunde, keine Verwandten, keine Moral, wenn man so suchtabhängig ist. Nicht einmal Liebe, die der Liebe zur Flasche nicht unterliegt." Von Nadja Uhl finden sich in dem Interview mit ihr wunderbare Aphorismen. So sagt sie über ihre Rolle: "Nike sehnt sich nach Ordnung. Der Bruch ist in ihr drin." Jetzt habe ich den Film gesehen. Er ist großartig. Er ist von einer sanften Schwere, von einer ernsten Leichtigkeit, die man nur selten findet. Es ist der Glücksfall eines ganz und gar jugendlichen Alterswerkes.

Wolfgang Kohlhaase: "Sommer vorm Balkon". Aufbau-Verlag, Berlin 2005, 188 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 12,95 Euro. ISBN 3746621895.


Zürich, 30 April 1538

Manches liest man, weil man es nicht versteht. Man liest es noch einmal in der Hoffnung, es jetzt doch zu verstehen. Am Ende legt man es beiseite und hat nicht das Gefühl, nein, man weiß, dass man es weniger versteht als zuvor. Martin Bucers Abendmahlsschriften aus den Jahren 1529 bis 1541 gehören eindeutig in diese Kategorie. Wer sie liest in der Hoffnung, er wisse danach besser Bescheid, worum der Streit damals ging - vielleicht gar mit dem Hintergedanken, ein klitzekleinwenig auch besser zu verstehen, worum der Streit heute (man betrachte nur die jüngsten Ausführungen des Papstes dazu im Osservatore Romano) geht -, der wird enttäuscht werden.

Der Abendmahlsstreit und der Fanatismus, mit dem er immer wieder einhergeht, gehört zu den Rätseln des Abendlandes. Der Leser aber wird fasziniert sein von dem Geschick, mit dem Martin Bucer versucht, den Fallstricken, die die Kollision von Verstand und Überlieferung jedem aufmerksamen Leser legt, zu entgehen. Bei den meisten hier abgedruckten Texten handelt es sich um Gutachten. Bucer wurde gefragt, ob die eine oder die andere Ansicht korrekt sei, und er hat geantwortet. So war zum Beispiel eine der naheliegenden Fragen, wo der Leib Christi, der doch gen Himmel gefahren ist, nun sei, wenn er beim Abendmahl genossen werde.

Wer alles nur metaphorisch nimmt, der kann leicht antworten. Wer aber von der Realität des Leibes Christi ausgeht, der muss erklären, warum derselbe Leib, als Jesus lebte, immer nur an einem Ort war, nach seinem Tode aber überall sein kann. Theologische Haarspaltereien, sagt die Vernunft. Aber wer sagt, dass Gott Mensch wurde, der entgeht ihnen nicht. Damals nicht und heute nicht. Bucers Antwort ist so schlitzohrig, das man sie sich gerne auf der Zunge zergehen lässt. Man muss dazu freilich ein wenig aus der deutschen Einheitsrechtschreibung heraus und sich Zeit nehmen, um sich einzulesen: "Er ist gen himel gefaren zum Vatter, haltet sich in der glori des Vatters, faret nitt hinab wider in das irdisch thun, weder sichbarlich noch unsichbarlich; er hatt die welt verlaßen. Die weil aber dise himlische herligkeit, in deren der herr ist und bleibt, kein oug gesehen, kein or gehört, auch ins menschen hertz nitt kommen mag, so wüßten wir von der eigenschafft, wie der heerr imm himel ist, nüt weiters zu sagen, dann das er inn einem göttlichen säligen thun und wesen ist, das allen menschlichen verstand ubertrifft. Dann ist er uber alle himel gefaren, Epheser 4,10, und derhalben, weil wir kein schrifft haben von der Localitet, das ist: rümlicher begreiffung eines ort, so wellen wir auch davon nichs setzen."

"Rümlicher", so klärt eine Fußnote den Leser auf, heißt "räumlicher". Bucer umschifft das von den Zürcher Glaubensgenossen aufgestellte Problem. Da man nicht wisse, was "über alle Himmel" bedeute, könne man nicht ausschließen, dass das auch "auf der Erde" bedeute. Jedenfalls solle man darüber keinen Streit anfangen und schon gar nicht sich wegen dieser Frage von den Glaubensbrüdern trennen. Interessant ist auch, dass Bucer sich dem sachlichen Problem nicht stellt, sondern auf die Schrift verweist.

Es macht den Reiz dieses Textes aus, dass er eine Auseinandersetzung zwischen Zürcher Predigern und Martin Bucer zusammenfasst, die am 30 April 1538 tatsächlich stattgefunden hatte. Man liest den Dialog voller Spannung. Die Zürcher lassen sich nicht abspeisen. Sie fragen nach. Sie versuchen Bucer festzulegen. Es gibt Momente, da denkt man an ein Kreuzverhör. Am Ende aber scheinen sich beide Parteien einig zu werden. Dass sie es in Wahrheit nicht wurden, das lehrt uns die Reformationsgeschichte.

Man liest diese fast fünfhundert Jahre alte Auseinandersetzung auch gerührt. Man bekommt eine Ahnung davon, wie schwer es ist, einen klaren Gedanken festzuhalten, wenn alle sich darin einig sind, dass er gerade in seiner Klarheit falsch sein muss. Der klare Gedanke der Zürcher ist: Wenn Jesus einen Leib hatte wie alle Menschen, dann können wir ihn beim Abendmahl nicht zu uns nehmen. Sie plädierten darum dafür, dass man das Abendmahl so verstehe, dass man Christi Leib im Geiste zu sich nehme. Sie formulierten das so: "Reden wir denn nitt recht, so wir sagen: 'Der herr ist leiblich imm himel, aber durch sein krafft und geist bei uns auff erden'?" Bucer aber geht auch hier nicht ein auf die Logik des Arguments, sondern sagt: Man kann von den göttlichen Dingen nicht klarer reden als der Herr selbst, und der hat gesagt: "Ich (nit mein krafft oder geist) wil mitten under euch und bei euch sein bis zu end der welt."

Da ist sie wieder die Autorität der Schrift. Sie habe befreiend gewirkt, brachten uns unsere lutherischen Religionslehrer bei. Offenbar war sie aber schon von Anfang an ein Mittel, den Verstand zum Schweigen zu bringen.

Martin Bucers: "Abendmahlsschriften 1529-1541". Deutsche Schriften: Band 8. Bearbeitet von Stephen E. Buckwalter. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2004. 515 Seiten, gebunden, 128 Euro. ISBN 3579048945. Bestellen.


Aus der Pasing-Epoche des Sex-Business

Von der Pornografie sagt man gerne, sie sei billig und schmutzig. Etwas, mit dem abzugeben die eigenen Geschmacksnerven zu verfeinert sind. Von Hans-Jürgen Syberberg gibt es einen sehr schönen, dieses Klischee exzellent bedienenden Film: "Sex-Business made in Pasing". Da wird klar, mit wie wenig Aufwand an Geld und Intelligenz sehr viel Geld gemacht werden und auch noch die intelligentesten Männer zufriedengestellt werden können. Das gab es immer und wird es immer geben. Daneben gibt es die teure Pornografie. Sie ist nicht sauber, aber clean. Sie wird aufwändigst hergestellt. Sie ist nicht billiger als ein Werbefilm und dass sie jemals ihre Kosten wieder einspielt, ist kaum vorstellbar.

Man betrachte den bei Taschen erschienenen Band von "The Fourth Body" von Roy Stuart und sehe sich die beiliegende 68-minütige DVD an. Das ist eine extreme finanzielle und ästhetische Anstrengung zur sexuellen Stimulation. Die Absurdität des hier gebotenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses wird sonst nur bei l'art pour l'art erreicht. Allerdings ist interessant, dass die Kopulation selbst nur sehr selten gezeigt wird, und dass sie, wo das geschieht, sich nicht auf der Höhe der ästhetischen Raffinesse etwa des Titelbildes bewegt. Wahrscheinlich liegt das in der Natur der Sache. Direkt ist eben das Gegenteil von raffiniert.

Der Band möchte offensichtlich die unterschiedlichsten Geschmäcker befriedigen. Die lächelnde Nackte auf einer Wiese mit Kühen im weich gezeichneten Hintergrund erinnert an Bilder aus der Pasing-Epoche des Sex-Business. Nur sind bei Stuart Gesicht und Körper der Frau wesentlich plastischer ausgeleuchtet. So kunstvoll wirr sieht Haar nur aus, wenn sich ein Stylist stundenlang darum gekümmert hat. Der muskulöse Schwarze, der sein weißes Muscleshirt hoch zieht, um seinen Bauch zu zeigen und seine rote Hose hinunterzieht, um seinen nicht erigierten, aber deutlich erregten Penis vorzuführen, wendet sich an eine gänzlich andere Zielgruppe. Das auf einer Kirchentreppe schmusende sehr junge Paar - das Kleid des Mädchens lässt Beine und Scham sehen - bedient wieder andere Gelüste.

Das Tattoo-Studio ist - dem Klischee folgend - deutlich härter. Während der eine Mann die junge Frau tätowiert, fasst der andere ihr in die Scheide. Ein anderes Foto zeigt eine in einer winzigen Badewanne knieende Frau, der ein Mann Sperma in den Mund spritzt. Natürlich fehlt es nicht an erigierten Penissen vor Frauen, die ehrfurchsvoll vor ihnen knien und voller Demut zum Manne aufblicken. Einander küssende Frauenmünder gibt es und Frauen, die voller Andacht Zehen in ihre Münder stecken. Demütige und demütigende Frauen und Männer gibt es, gefesselte und fesselnde. Fast alles in satten Farben und großartig ausgeleuchtet. Ein Buch über Rituale. Für die Besserverdienenden.

Für die ist auch der riesige Bildband mit vor allem s/w Aufnahmen von Pamela Anderson. Aber hier werden keine Rituale vorgeführt, sondern hier wird ein Fetisch gefeiert. Es gab eine Zeit, da malten Männer wie Alberto Vargas Männerfantasien. Heute werden Frauen zu Männerfantasien operiert. Der Traum wird Wirklichkeit. Er tritt einem dann als Albtraum gegenüber. Der äußerste Schrecken ist die realisierte Utopie, haben uns die Kritiker des Kommunismus seit Orwell beigebracht. Ein ganz ähnliches Schreckenskabinett bietet "Pam: American Icon von Sante D'Orazio". Auch der Kommunismus hat sich Jahrzehnte lang einer glühenden, nach Millionen zählenden Anhängerschaft erfreut. Warum soll Pam es da schlechter haben? Und wie auch die politische Utopie niemandem aufgezwungen, sondern begeistert von den Unterworfenen selbst praktiziert wurde, so werfen sich auch Frauen wie Pamela Anderson begeistert selbst auf die Operationstische und machen das Bild, das andere sich von ihr machen, zu ihrem eigenen.

Roy Stuart: "The Fourth Body". Taschen Verlag, Köln 2005, Hardcover + DVD, 238 x 302 mm, 280 Seiten mit zahlreichen s/W und farbigen Abbildungen, gebunden, 29,99 Euro. ISBN 3822825573. Bestellen.
"Pam. American Icon". Fotos von Sante D'Orazio. Schirmer/Mosel, München 2005. Format: 33,7 x 42 Zentimeter, 39 Farb- und Duotone-Aufnahmen, 96 Seiten, gebunden, 98 Euro. ISBN 3829601875. Bestellen.


Readymades unseres Alltags

Bora Cosic wurde 1932 in Zagreb geboren. Seit 1992 lebt er in Berlin. Die in "Irenas Zimmer" gesammelten Gedichte "spielen" meist in Berlin. In der Wilmersdorfer- oder der Schlüterstraße zum Beispiel. Das gibt ihnen für den, der auch in Charlottenburg wohnt, etwas täuschend Vertrautes. Er glaubt, sich darin wieder zu erkennen.

So dauert es, zumal wenn der Meister sich hinter anderen Meistern versteckt, ein paar Verse länger, bis der Leser unverwechselbar Bora Cosic entdeckt.

Zum Beispiel in "In Unordnung":

"Von dem hohen Balkon jenes schwarzen Gebäudes
an der Ecke Wilmersdorfer Straße
winkt mir Felicia Bauer zu
macht mir zweideutige Zeichen
Kafka ist will sie sagen
im Sanatorium
der Frühling ist in voller Blüte
der Schnee geht zu Grunde
Döblin hatscht in seine Ordination
in der Schlüter-Straße neben dem Kino
die Welt besteht aus Anachronismen
bald im April 1932
werde auch ich geboren
das zwanzigste Jahrhundert wird voller Schrecken
Kriege Abschlachtungen und intellektueller
Zweifel sein
wohin und weshalb
es ist leichter in Meran zu sterben
wenn dir der Mechanismus der Lunge versagt
und die Gemeindebehörden
der Staat die Erdkugel
dir die Luftzufuhr ausschalten."

Das ist ein Gedicht aus lauter undichterischen Worten. So etwas wie "Der Frühling ist in voller Blüte" geht doch nun wirklich nicht, hätte unser Deutschlehrer gesagt. Das sei ein Gemeinplatz, ein Dichter hätte uns ein Detail geliefert, etwas, das den Frühling riechen, sehen, schmecken lässt. Und nun gar: "Gemeindebehörden"! Alles ist vertraut in Cosics Gedichten und wenn dann "Wilmensdorfer Straße" statt "Wilmersdorfer Straße" steht, dann weiß der Cosic-Leser, das ist ein Druckfehler seines in Bozen beheimateten Verlages. Und dass Döblin "hatscht" rechnet der des Serbischen unkundige Leser dem leider im Dezember 2005 verstorbenen grandiosen Übersetzer und Schriftsteller Milo Dor zu. Cosics Kunst besteht ja gerade darin, auf alles Künstliche zu verzichten. Er arbeitet mit den Readymades unseres Alltags. Selbst Cosics Pointe scheut auch nur den geringsten Eindruck von Pathos. Aber gerade dadurch bewirkt er raffinierte Schönheiten.

"In der Schlüter-Straße neben dem Kino" heißt es in dem Gedicht. Der anschließende Satz "Die Welt besteht aus Anachronismen" ist ein Lehrer Lämpel-Satz. Er hebt gewissermaßen den Zeigefinger und sagt uns: Als Döblin hier lebte, gab es hier kein Kino. Ich weiß nicht, wann Cosics Gedicht entstand. Jedenfalls gibt es heute das legendäre Schlüter-Kino so wenig wie zu Döblins Zeiten. Nach jahrelangen Kämpfen hatte der Hausbesitzer es geschafft, das Kino zu vertreiben. Es dauerte wieder Jahre, bis er einen neuen Mieter fand. Inzwischen ist der dritte oder vierte glücklose Laden darin. Diese Geschichte nimmt dem Wort "Anachronismus" alles Studienrätliche und gibt ihm eine schillernde Schönheit. Die eher noch dadurch gewinnt, dass wir nicht wissen, ob sie von Cosic gewollt wurde oder ob die Zeit sie seinem Text hinzufügte. So selbstverständlich können Natur- und Kunstschönes in einander übergehen.

Bora Cosic: "Irenas Zimmer". Gedichte. Aus dem Serbischen von Milo Dor. Folio-Verlag, Wien, Bozen 2005. 127 Seiten, broschiert, 19,50 Euro. ISBN 3852563070. Bestellen.


Fahre nun hin schwerdröhnender Laster

Uwe Timm hat ein bewegendes Buch über Benno Ohnesorg geschrieben. Ohnesorg ist jener Student, der am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin vor der Deutschen Oper von einem Polizisten in Zivil erschossen wurde. Dieser Tod und die anschließenden Versuche der Polizei, die Tat zu vertuschen, trugen nicht unerheblich zur Radikalisierung der Studentenbewegung bei. Jeder, der zwischen 1940 und 1950 geboren ist, kennt das Foto, das den tot auf dem Pflaster ausgestreckten jungen Mann und die neben ihm knieende, seinen Kopf stützende junge Frau zeigt. (Foto). Der Schriftsteller Uwe Timm - Jahrgang 1940 - der 2003 in "Die Geschichte meines Bruders" die Geschichte eines Mitglieds der Waffen SS erzählte, kannte mehr von Benno Ohnesorg als dieses Foto. Er war mit ihm befreundet gewesen. Sie hatten sich 1961 in Braunschweig kennen gelernt, in einem Abendgymnasium. Benno Ohnesorg war Dekorateur, Uwe Timm Kürschner. Beide waren gierig nach Literatur und Kunst.

Timms Buch handelt von diesem Hunger nach Wissen und Schönheit. Es ist die Geschichte zweier zwanzigjähriger Männer, die Nächte über Büchern oder über Gesprächen über Bücher verbringen. Sie schreiben beide. Es sind erste tastende Versuche. Sie lesen einander vor, was sie geschrieben haben. Sie wollen lernen, besser zu schreiben. Sie versuchen zu begreifen, wie ein Text schön wird. Sie wollen, dass alles schön wird. Nein, sie wollen nicht, dass es schön wird. Aufregend, lebendig und wahr soll es sein. Sie sind hungrig aufs Leben. Benno Ohnesorg ist scheu und schüchtern dabei. Er geht nicht mit zu den nächtlichen Parties, zu denen Uwe Timm ihn mitnehmen möchte. Er wartet mehr, als dass er sucht. Timm schreibt: "1961 liebte weder der Freund noch ich, wir hatten beide noch nicht gefunden, was in der Literatur vorgesprochen (ich lese auch jetzt beim Abschreiben wieder wie beim ersten Lesen: "versprochen") war, in Gedichten, Romanen und von uns in unschuldiger Distanz, aber voller Erwartung angelesen war. Wir lagen im Kennel, dem Bad unten am Fluß, lagen auf der Wiese, lasen uns abwechselnd aus der Odyssee in der Voßschen Übertragung vor und konnten nach dem sechsten Tag in recht frei variierten Hexametern reden: Fahre nun hin schwerdröhnender Laster in wechselvollem Getriebe."

Ich mag, dass es sechs Tage sind. Das ist so vermessen, aber so unschuldig dabei, weil ich nicht glauben kann, dass Uwe Timm klar ist, dass er sechs Tage gesagt und damit die ganze Schöpfung eingeschlossen hat in diesen kleinen, ironischen Lernprozess. Uwe Timm erzählt die Geschichte seines Freundes, die ja auch seine eigene ist, mit einer beneidenswerten Zärtlichkeit. Er mag diese jungen Männer. Er mag ihre Unschuld. Selbst da, wo ihm Zweifel kommen könnten an ihrer Wahrhaftigkeit, nimmt er die jungen Männer, also auch sich, großherzig auf, ein Vater seiner selbst. Das ist eine nicht so falsche Definition des Erzählers. Der Erzähler schämt sich nicht für das, was seine Geschöpfe tun. Das Erzählen ist eine Möglichkeit, der eigenen Geschichte unverschämt zu begegnen. Man muss sie nicht fälschen dafür. Man kann die Dinge und die Menschen stehen und gehen lassen wie sie sind. Man kann ihnen die Freiheit geben, die sie im Leben nicht haben, die man ihnen im Leben nicht geben konnte und die man im Leben nicht bekam. In einer Erzählung kann jeder den Platz, den Raum und die Zeit haben, die er braucht. Auch einer, der im Alter von 27 Jahren durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet wurde.

Uwe Timm: "Der Freund und der Fremde". Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 176 Seiten, gebunden, 16,90 Euro. ISBN 3462036092. Bestellen.


Tödliche Falle

Ein eigentümlicher Bildband. Sonst geht es darum, dass die Bilder einen überwältigen, dass die Botschaft einen anspringt, so dass man keine Chance mehr hat, vor ihrem Angriff zu fliehen. Hier aber ist es so: Wenn einem nichts auffällt, hat man ein besonders gelungenes Foto vor sich. Der Fotograf Art Wolfe und die Zoologin Barbara Sleeper zeigen uns die "Kunst der Tarnung". Es ist ein großartiges Buch. Das liegt nicht so sehr an den Aufnahmen von Insekten, die nicht nur so aussehen wie ein Ast, sondern auch noch "wandelnder Ast" heißen, die also Form und Farbe ihrer kleinen ökologischen Nische perfekt angenommen haben. Nein, wirklich verblüffend ist zum Beispiel die Aufnahme einiger hellgrüner Sträucher, bei der es Minuten braucht, bis man den braun-weiß gefleckten Hirsch dahinter entdeckt. Es ist der in Indien und Sri Lanka beheimatete Axishirsch, der in Rudeln von etwa dreißig Tieren durch Graslandschaften und Wälder streift.

Auch ein sitzender Gepard ist kaum zu sehen. Man fängt sofort an, mit dem Buch zu spielen. Man benutzt es als Test, blättert Seite für Seite und freut sich, dass man die Tiere entdeckt. Tut man es nicht, blickt man nach unten, liest, was sich da vor den Augen des Betrachters versteckt, und sucht wieder. Bei der Orchideenmantis hat mir das auch nicht geholfen. Ich sah zwar, wo das Tier sein musste, aber ich hätte nicht sagen können, wo die Orchidee endete und wo die tödliche Gottesanbeterin begann. Dann las ich die Erläuterung am Ende des Buches: "Was wie ein friedvolles Bild anmutet, ist in Wahrheit eine tödliche Falle. Die Fangarme gleichsam in Bethaltung lauert das Fleisch fressende Insekt bewegungslos darauf, dass ein schmackhaftes Opfer sich ihm naht. Dann schlägt die Orchideenmantis blitzschnell zu, greift das unglückliche Beutetier und frisst es bei lebendigem Leibe. Mimese ist nicht auf das Tierreich beschränkt. Viele Pflanzen benutzen die Kunst der Täuschung, um ahnungslose Insekten zur Bestäubung anzulocken. Rund die Hälfte aller Orchideenarten setzt zu diesem Zweck die eine oder die andere Art von Mimese ein. Übrigens dürfte auch die Orchideenmantis zur Kreuzbestäubung der Blüten beitragen, wenn sie von einer Blüte zur nächsten wandert."

Wer nach diesen Zeilen zurückkehrt zur Aufnahme, dessen Blick hat sich geschärft. Aus Angst, könnte man denken.

Art Wolfe: "Kunst der Tarnung". Fotos: Art Wolfe, Texte: Barbara Sleeper, Übersetzung: Eva Dempewolf. Frederking & Thaler, München 2005. Format: 34,0 x 30,5 cm, 144 Seiten, ca. 100 Farbfotos, gebunden mit Schutzumschlag, 39,90 Euro. ISBN 3894056568. Bestellen.