Vom Nachttisch geräumt

Schiffbruch mit Thoreau

Von Arno Widmann
20.06.2016. Auch dem besten Autor nimmt die Geschichte den Text aus der Hand. Und darum ist Henry David Thoreaus 150 Jahre alte Erzählung "Kap Cod" immer noch aktuell.
Henry David Thoreau ist bis heute ein vielgelesener Autor. Von seinen zahlreichen Büchern werden freilich nur zwei seit mehr als 150 Jahren von jeder Generation wieder neu entdeckt. Da ist zunächst "Walden. Oder das Leben in den Wäldern", ein Hymnus aufs einfache Leben, und "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", eine kleine Abhandlung, die seit 1849 immer wieder Anarchisten inspiriert oder aus angepassten Schulabgängern friedliche Staatsfeinde gemacht hat. In den letzten Jahren sind in verschiedenen deutschsprachigen Verlagen eine Reihe von Übersetzungen seiner anderen Schriften erschienen. Wir sind dabei, ihn endlich auch als Schriftsteller zu entdecken und nicht nur als beredten Propagandisten seiner Ansichten wahrzunehmen. So erschienen auch 2014 seine Aufzeichnungen über seinen Aufenthalt in Kap Cod in der sehr schönen Übersetzung von Klaus Bonn. Ilija Trojanow hat ein Vorwort dazu geschrieben, in dem er schildert, was er auf den Spuren Thoreaus dort vor ein paar Jahren sah.

Ich möchte nur ein paar Passagen aus dem ersten Kapitel zitieren. Es heißt "Das Schiffswrack". Man kann die Ruhe bewundern, mit der Thoreau erzählt, die Zeit, die er sich nimmt. Kein szenischer Einstieg, kein Knalleffekt, um die Leser hineinzuzerren in das Geschehen. Sondern eine ausgeruhte, nebensatzreiche Periode, die den Leser bedächtig schaukelt, wie man das mit Babies macht, die man lieber schlafen als schreien sieht: "Da ich mir einen besseren Eindruck als bisher vom Ozean verschaffen wollte, der, wie uns gesagt wird, mehr als zwei Drittel des Globus bedeckt, von dem aber ein Mensch, der ein paar Meilen entfernt im Landesinneren lebt, vielleicht nie auch nur eine Spur wahrnimmt, nicht mehr als von einer anderen Welt, besuchte ich Kap Cod im Oktober 1849, ein weiteres Mal im darauffolgenden Juni und Truro noch einmal im Juli 1855; das erste und das letzte Mal mit einem einzigen Gefährten, das zweite Mal allein."


Eward Hopper, Cornhill (Truro, Cape Cod) 1930

Unaufgeregter geht nicht, unspannender - denkt sich der eine oder der andere jetzt wohl - auch nicht. Nun ja: Über diesem Satz steht "Das Schiffswrack". Der Leser wird mit dem stotternden Motor dieses immer wieder neu ansetzenden Ungetüms in Bewegung gesetzt. Langsam, widerstrebend. So wird Spannung nicht - wie viele es heute mögen - hergestellt, sondern aufgebaut. Wer weiter liest, wird registrieren, wie die Geschichte Tempo aufnimmt, wie sie sich beschleunigt, dann wieder retardiert, wie geschickt Thoreau Beschreibung und Reflexion einander ins Wort fallen lässt. Er wird aber auch feststellen, dass die Kunstfertigkeit Thoreaus, so hoch sie entwickelt ist, nicht wirklich Herr des Geschehens bleibt. Auch dem besten Autor nimmt die Geschichte den Text aus der Hand. Die Geschichte, die der Leser mitbringt. Der Höhepunkt ist nicht mehr der, den der Autor gesetzt hat, sondern er liegt jetzt dort, wo die 150 Jahre alte Erzählung plötzlich mitten hinein in die Gegenwart des Lesers stößt. Am Strand von Cohasset liegen Reste der St. John, einer Brigg, die aus Irland kommend, zwei Tage zuvor vor der Küste des Kap Cod in einem Sturm untergegangen war.

"Die Leichen, die man geborgen hatte, sieben- oder achtundzwanzig insgesamt, waren dort zusammengetragen worden. Manche Leute nagelten rasch die Deckel zu, andere karrten die Kisten weg, und wieder andere hoben die Deckel an, die noch lose waren, und lugten unter die Tücher, denn jede Leiche war, mitsamt den Fetzen, die ihr noch anhingen, lose mit einem weißen Bettuch bedeckt worden. Ich sah keinerlei Anzeichen von Betrübnis, vielmehr war die Erledigung des Geschäfts so nüchtern, dass es berührend wirken konnte. ("I witnessed no signs of grief, but there was a sober dispatch of business which was affecting") Ein Mann suchte eine bestimmte Leiche zu identifizieren, und ein Leichenbestatter oder Zimmermann rief einem anderen etwas zu, um zu erfahren, in welche Kiste ein bestimmtes Kind hineingelegt worden war. Ich sah viele marmorkalte Füße und verfilzte Köpfe, als die Tücher hochgehoben wurden, und den fahlen, aufgedunsenen und verstümmelten Körper eines ertrunkenen Mädchens - das vermutlich die Absicht gehabt hatte, in den Dienst irgendeiner amerikanischen Familie zu treten -, an dem noch ein paar Fetzen Kleidung und eine vom Fleisch halb verdeckte Kette um den geschwollenen Hals hingen; das verkrümmte Wrack eines menschlichen Rumpfs, mit tiefen Wunden von den Felsen oder den Fischen, sodass Knochen und Muskeln entblößt waren, doch recht blutleer - nur rot und weiß - mit weit geöffneten Augen, jedoch glanzlos, Toten-Lichter; oder wie die Bullaugen eines gestrandeten Schiffs, mit Sand gefüllt."

Der Höhepunkt dieser Passage waren für mich nicht die Augen des toten Mädchens, sondern der Hinweis darauf, das es "vermutlich die Absicht gehabt hatte, in den Dienst irgendeiner amerikanischen Familie zu treten". Ich hatte mir zwar, wenn ich von den Flüchtlingsleichen an den griechischen und italienischen Küsten las oder hörte, Szenen ausgemalt, wie sie Thoreau schildert. Niemals aber hatte ich mir die Wünsche, für die die Menschen so teuer bezahlt hatten, so konkret vorgestellt. Sie wollten nach Europa, dachte ich mir. Mehr nicht. Thoreaus Genauigkeit ergriff mich. Sie zeigte mir auch, wie wenig Gebrauch ich von meiner Fähigkeit zur Empathie mache. Vielleicht ist Empathie ja mehr etwas für die Fantasie? Vielleicht verzichten wir lieber auf sie, wenn wir das Gefühl haben, sie hätte Konsequenzen für unser Handeln, für das wirkliche Leben?

Henry D. Thoreau: Kap Cod, aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Klaus Bonn, mit einem Essay von Ilija Trojanow, Residenz Verlag, Wien 2014, 319 Seiten, 24,90 Euro.
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