Vom Nachttisch geräumt

Fernsehstuben

Von Arno Widmann
01.11.2015. Mörder, Räuber, Gentlemanverbrecher und die ganze Zeit über fast nur ein Kommissar: Renate Stürickow über "Verbrechen in Berlin".
Auf dem Schutzumschlag steht, die Autorin sei "die führende Historikerin des Berliner Verbrechens." Das kann ich nicht beurteilen. Aber lesenswert sind die 32 Kriminalfälle zwischen 1897 und 1965 allemal. Ein sehr ausgewogenes Buch. Je 50 Seiten für die Verbrechen des Kaiserreiches, der Weimarer Republik, der Nazizeit und für die Nachkriegszeit. Im letzten Kapitel spielt dann allerdings die DDR keine Rolle. Das Buch ist reich illustriert, kleine, sehr übersichtliche Kapitel, die auch Leser, deren kriminalistisches Interesse sich in Grenzen hält, mit interessanten Informationen versorgen.

Die Geburtsstunde von Aktenzeichen XY ungelöst war der 20. Oktober 1967. Der Geburtsort der Sendung war das ZDF in Mainz. Die Idee mag sogar Eduard Zimmermann gehabt haben. Aber es gab Vorläufer. Der früheste ging zurück auf die Idee eines im Buch leider ungenannt bleibenden jungen Kriminalassistenten des legendären Berliner Kommissar Ernst Gennat - er war das Vorbild gewesen für den Kommissar in Fritz Langs "M - Eine Stadt sucht einen Mörder". Er meinte, ein Fahndungsaufruf im Fernsehen sei doch einmal etwas anderes. Da es noch keine Privatanschlüsse gab, wurde in Zeitungen auf die Übertragung hingewiesen. In einer hieß es: "Mördermantel im Fernseher. Neues Hilfsmittel der Polizei. Zum ersten Mal in der Kriminalgeschichte wird die modernste technische Errungenschaft - der Fernsehsender - in den Dienst der Aufklärung eines Kapitalverbrechens gestellt werden. Die Mordkommission des Berliner Polizeipräsidiums zeigt am Montag um 20 Uhr in allen Fernsehstuben Berlins den Mantel des Verbrechers, der am Mittwoch, den 12. V. M. den Droschkenchauffeur Herbert Taubel zwischen Nikolassee und Schwanenwerder erschossen hat."

Die Berliner überfüllten am Abend des 7. November 1938 - auf das Datum geht die Autorin leider mit keiner Bemerkung ein - die Fernsehstuben. Schon am nächsten Tag konnte der Taximörder - mit so einem Fall beginnt die Kriminalgeschichte des Fernsehens! - verhaftet werden.


Moderne Tatortermittlung um 1926. Bild: RBB, aus einer Sendung über den Kommissar Ernst Gennat

Natürlich fehlt nicht die die Zeitgenossen so intensiv beschäftigende "Steglitzer Schülertragödie". In einer Wohnung der Steglitzer Albrechtstraße findet die Polizei, informiert von einer 16-jährigen Schülerin, deren schwerverletzten 18-jährigen Bruder und dessen erschossenen 19-jährigen Freund. Neben dem Verletzten kniet der 19-jährige Paul Krantz mit einer Pistole in der Hand. Die 16-jährige erklärt ihn für den Mörder auch ihres auf der Fahrt ins Krankenhaus sterbenden Bruders. Der Fall schreit geradezu nach Erklärung. Siegfried Kracauer hat eine: "Die Jugend wird in einer Umwelt groß, die ihr kaum eine bündige Richtschnur für den Alltag gewährt. Wichtige Traditionen sind abgefallen, ohne dass sich neue gebildet hätten; die Maßstäbe, an denen die Folge der kleinen Handlungen zu messen wäre, sind in Verwirrung geraten; die Lebenshaltung der mittleren und führenden Schichten ist nicht dazu geeignet, ein Vorbild zu sein."

Man sieht sehr schön: Das soziologische Besteck ist viel zu grob für den Einzelfall. Könnte Kracauer eine Statistik vorweisen, die zeigt, dass Dramen wie dieses sich in diesen Jahren signifikant häufiger ereigneten als zu anderen Zeiten, man könnte Kracauers Überlegungen vielleicht eine Viertelsekunde lang ernst nehmen. So aber fragt man sich, wann jemals in der Weltgeschichte die führenden Schichten ein Vorbild, ein sittlich moralisches Vorbild gar, gewesen sein sollen. Das Genre des bürgerlichen Trauerspiels - zu Kracauers Zeiten auch in Deutschland schon mehr als 150 Jahre alt - lebt doch gerade davon, dass sie es nicht sind.

Besteht Jugend nicht gerade darin, dass es für sie keine "bündige Richtschnur" gibt? Ist für das, was in der Albrechtstraße passierte, nicht wichtiger als der Wertezerfall die Tatsache, dass man damals Feuerwaffen in Warenhäusern kaufen konnte, dass es kaum einen bürgerlichen oder antibürgerlichen Haushalt gab, in dem es keinen Revolver, keine Pistole gab? Das Ergebnis des Sensationsprozesses war übrigens ein Freispruch für Paul Krantz. Die beiden Toten hatten einen Selbstmörderpakt geschlossen. Es gibt Abschiedsbriefe. Man kann das alles detailliert bei Stürickow nachlesen. Es gibt auch die Memoiren des Paul Krantz. Der wurde zum Schriftsteller Ernst Erich Noth. Er emigrierte nach Frankreich, in die USA, kam zurück nach Deutschland. 1983 starb er.

Stürickow verschafft Einblicke in die Gutachtertätigkeit des Sexualforschers Magnus Hirschfeld, sie erzählt davon, wie die SA im Mai 1934 mal eben einen jüdischen Fabrikanten entführt, um die Organisationskasse aufzufüllen. Sie erzählt auch von einem Geldbriefträgermörder, der ein Stück über einen Geldbriefträgermörder schrieb, das mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Auf einem Foto sieht man die spätere Justizministerin der DDR, Hilde Benjamin, als junge Juristin mit Bubikopf die mutmaßlichen Horst-Wessel-Mörder verteidigen. Ihre Schwester hielt übrigens eine Weile den Weltrekord im Kugelstoßen. Ob ihr Schwager Walter Benjamin wohl eine der Prozess-Sitzungen besuchte?

Regina Stürickow: Verbrechen in Berlin - 32 historische Kriminalfälle 1890 - 1960, Elsengold Verlag, Berlin 2014, 208 Seiten, 120 s/w Abbildungen, 24,95 Euro