Vom Nachttisch geräumt

Familienbande

Von Arno Widmann
14.10.2015. Eine doch gar zu saubere Familiengeschichte: "Familie de Maizière - Eine deutsche Geschichte" von Andreas Schumann.
Das Buch heißt "Familie de Maizière - eine deutsche Geschichte". Es beginnt am 3. Oktober 1569, als Philippe de Maizière, der Parteigänger Colignys, des Führers der protestantischen Hugenotten, in einer Schlacht gegen die katholischen Truppen des französischen Königs Karl IX. verletzt wird. Das ist nicht der erste de Maizière, von dem die Geschichte weiß. Andreas Schumann erwähnt einen Vorfahr, der im 14. Jahrhundert Mitglied des Thronrates von König Karl V. wird. Nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 und der damit einhergehenden umfassenden Entrechtung der Hugenotten sind die de Maizières mit Hunderttausenden anderer Glaubensgenossen aus Frankreich geflohen.

Sie finden in Preußen eine neue Bleibe. Für 150 Jahre verschwindet das "de" aus ihrem Namen. Mehr verrät Andreas Schumann nicht. Im Dunkeln bleibt auch, wie das "de" wieder dazu kam. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fügt Schumann den von ihm erwähnten Maizières wieder ein "de" hinzu. Aber lassen wir das. Denn schon auf Seite 29 von mehr als 380 Seiten bewegt diese "deutsche Geschichte" sich im Spätsommer 1918. In Wahrheit geht es also um ein knappes Jahrhundert de Maizière. Es ist das Jahrhundert Hitlers und Stalins. Auf Seite 100 ist auch das vorbei und so widmen sich zwei Drittel des Buches der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Protagonisten des Buches sind also Thomas de Maizière und sein Vater Ulrich, sowie Lothar de Maizière und dessen Vater Clemens. In Wahrheit also keine deutsche Geschichte, sondern deutsche Gegenwart. Darum vielleicht auch wirklich noch eine Aufgabe für einen kritisch die Quellen prüfenden Historiker. Autor Andreas Schumann bringt ganz andere Voraussetzungen für dieses Buch mit: Er war Pressesprecher des sächsischen Innenministeriums, als Thomas de Maizière diesem vorstand.

Man kann das dem hinteren Klappentext entnehmen. Man wundert sich dann nicht mehr über die Wohltemperiertheit dieser Erzählung, die ganz auf das Drama verzichtet, das doch in jeder Familiengeschichte liegt. Es gibt keine Jahrhunderte alte Familie ohne schwarze Schafe, ohne kleine und große Verbrecher, ohne Spieler und Hasardeure, ohne Mord und ohne Totschlag, ohne Drogen und ohne Vergewaltigungen. Das alles kommt Schumanns Familiengeschichte der de Maizières nicht vor. Dabei: Wozu ist Familie gut, wenn nicht dazu, die Strauchelnden so weit möglich aufzufangen? Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte von Aufstieg, Verfall und - eventuell - Wiederaufstieg. Wohltemperiert ist sie nicht zu haben.

Schon gar nicht im 20. Jahrhundert. Da spielen die Brüche sich oft in derselben Person ab. Clemens de Maizière (1906 - 1980) war NSDAP- und SA-Mitglied gewesen. Er wurde in der DDR Anwalt und Mitglied der Synode der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg. "Anwalt" war der Tarnname, unter dem er als Inoffizieller Mitarbeiter umfangreiche Dossiers für die Staatssicherheit anfertigte. Sein Bruder Ulrich de Maizière (1912-2006), war Generalinspekteur der Bundeswehr. Als die Mutter der beiden 1966 in Hannover beerdigt wird, treffen sich die Brüder. Clemens" Stasi-Bericht über dieses Treffen ist erhalten. Andreas Schumann zitiert daraus abfällige Äußerungen über Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger. Aber er meldet starke Zweifel an, ob Ulrich de Maizière Derartiges wirklich gesagt habe. Clemens" könne es auch gut erfunden haben. Das ist richtig. Denn Genaueres weiß man nicht und wird man wohl auch nicht in Erfahrung bringen.

Wer das Buch nutzt, um im Internet noch ein wenig mehr über die Protagonisten zu erfahren, der gerät in ein Dickicht von Beziehungen, bei dem er nicht weiß, wo er einem Gerücht aufsitzt und wo er auf eine kaum thematisierte Wahrheit stößt. Der im Westen aufgewachsene Leser hat bald das Gefühl, in der DDR kannte jeder jeden, und wer etwas zu sagen hatte, der sagte es auch der Stasi. Clemens de Maizière, Stasi-Deckname u.a. "Anwalt", sein Sohn Lothar de Maizière - Stasi-Deckname "Czerni". Der Vater hatte mitgeholfen bei der Abtrennung der evangelischen Kirche der DDR von der der Bundesrepublik. Pfarrer Horst Kasner, der Vater von Angela Merkel, gehört zu jenen, die den Begriff "Kirche im Sozialismus" - also nicht gegen den Sozialismus - geprägt haben sollen. Er arbeitete eng zusammen mit Wolfgang Schnur - IM Torsten - und Clemens de Maizière.

Wikipedia schreibt: "Der Verhandlungspartner von Clemens de Maizière, Wolfgang Schnur und Horst Kasner in der DDR-Regierung war von 1979 bis 1988 der damalige Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi." Die Vorstellung, jeder IM sei per se, also ohne ein Verbrechen zu begehen, ein Verbrecher gewesen, ist natürlich nur dann haltbar, wenn man das IM-Dasein selbst als Verbrechen ansieht. Das setzt voraus, dass ein DDR-Bürger nicht davon ausgehen konnte, dass er von Stasi-Spitzeln umgeben war. Dass in einem sozialistischen Land Anwälte mit der Staatssicherheit zu tun hatten, scheint mir selbstverständlich, dasselbe gilt für Journalisten und nahezu jeden größeren Betrieb. Im Matthäusevangelium sagt Jesus: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Das hätte Erich Mielke (1907 - 2000), von 1957 bis 1989 Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, auch gerne gesagt. Aber immerhin: Die Stasi war dabei, wenn zwanzig oder dreißig, in wessen Namen auch immer, versammelt waren.

Ein großer Reiz des Buches liegt in den Nebenfiguren. Sie erlauben einen Blick auf die wirkliche Lage der Protagonisten, darauf, wogegen sie sich entschieden, als sie sich für ihren Weg entschieden. Da ist zum Beispiel Sabine de Maizière, die zwanzigjährige Schwester von Lothar de Maizière, die kurz vor Mauerbau in Berlin die Grenze überschreitet und von dort nach Westdeutschland zu Freunden ihrer Eltern geht. Oder die Tochter Cornelia des Generalinspekteurs der Bundeswehr und Schwester von Minister Thomas de Maizière wird für ein paar Jahre Mitglied des Sozialistischen Büros. Sie und ihre Cousine Dorothee sind die treibende Kraft bei der Organisation der alljährlichen Familientreffen der de Maizières seit Anfang der 80er Jahre in Ostberlin.

Dort traf Lothar de Maizière, später der letzte Ministerpräsident der DDR, auf seinen Onkel Ulrich de Maizière. Es soll bei diesen Treffen musiziert und gegessen worden sein, Politik habe keine Rolle gespielt. Aber man wüsste doch gerne, wie sie keine Rolle gespielt hat. Andreas Schumann bricht seine Erzählung immer wieder ab. Zum Beispiel vermisst man in dem Buch eine Einschätzung der Tätigkeit von Andreas de Maizière im Vorstand der Commerzbank und was aus den Geldwäsche-Vorwürfen von 2005 geworden ist. Aber natürlich ist schon allein die Vorstellung, dass der Bundesinnenminister sich familiär zwischen Commerzbank und Sozialistischem Büro bewegt, reizvoll und könnte Stoff für schöne Boulevardkomödien sein oder auch für ernstere Naturen ein Grund zur Hoffnung, dass in unserer Gesellschaft Gespräche noch möglich sein könnten. Sie finden in einer Familie mit Immigrationshintergrund statt. Über die ich gerne mehr, viel mehr erfahren würde. Aber jetzt erst einmal sei Andreas Schumann gedankt für diesen - aller diplomatischen Finesse zum Trotz - gelungenen Appetizer.

Andreas Schumann: Familie de Maizière - Eine deutsche Geschichte, Orell Füssli, Zürich 2014, 383 Seiten, 24,95 Euro.