Vom Nachttisch geräumt

Der Galerist urbis et orbis

Von Arno Widmann
22.12.2016. Der Berliner Galerist Michael Schultz plauderte 2011 bis 2015 in einem täglichen Newsletter über Kunst, Künstler, Fußball, den Islam und Kokain bei Aldi.
Wir Journalisten wissen: Am Ende des Jahres haben wir sehr, sehr viel geschrieben. Es sind bei vielen 250 bis 300 Artikel. Sagen wir mal im Schnitt 3000 Anschläge. Das ist etwa so viel wie dieser einzige Nachttisch-Hinweis. Man kommt so leicht auf 900 000 Anschläge. Adornos Negative Dialektik hat etwa 960 000. Der Berliner Galerist Michael Schultz, geboren 1951 in Freudenstadt, hat es den Journalisten nachgetan. Zwischen dem 1. September 2011 und dem 14. August 2015 schickte er einen Daily Mail genannten Newsletter an Freunde und Kollegen und natürlich an die von ihm vertretenen Künstler. Zu seinem 65. Geburtstag hat er sich ein Geschenk gemacht, diese Emails ausgedruckt und bei Braus zu einem Buch machen lassen. Herausgekommen ist ein Trumm von - überschlagstechnisch gezählt - deutlich mehr als drei Millionen Anschlägen.

Die alte Regel "nulla dies sine linea" ist ganz offensichtlich extrem effektiv. Das Buch ist das Buch eines Welterklärers. Schultz mag uns Kunst-Ahnungslosen von der Kunst erzählen. Seinen Künstlern und Mitarbeitern erzählt er von Gott und der Welt. Er sagt ihnen, was er von Pegida und was er von der AfD hält, was von Frau Merkel und was von Schröder und Putin. Er hat den Mut, den Blogs ein Personenverzeichnis beizufügen. Ich weiß nicht, was die anderen von ihm vertretenen Künstler davon halten, dass dort niemand öfter auftaucht als SEO, nicht etwa die Suchmaschinenoptimierung, sondern die in Berlin lebende, südkoreanische Meisterschülerin von Baselitz. Angela Merkel wird fast gleich häufig erwähnt wie Rebecca Raue, die Meisterschülerin von Rebecca Horn. Und Uli Hoeneß toppt deutlich Ai Weiwei. Aber auch wer sich für den Yoktokosmos der Berliner Tageszeitungskunstkritik interessiert, kommt auf seine Kosten: Nicola Kuhn vom Tagesspiegel wird zwei Mal, Ingeborg Ruthe von der Berliner Zeitung drei Mal erwähnt.


SEO, Distanz ist ein Gefühl (Distance is an emotion), 2016

Aus lauter kleinen - nicht immer so winzigen - Stücken setzt sich dann über die Jahre doch ein Riesenpanorama zusammen. Schultz hat Galerien in Berlin, Peking und Seoul. Ich habe das nicht überprüft. Schultz hat auf der einen Seite junge Künstler, mit denen kein Geld zu verdienen ist, aber vielleicht einmal zu verdienen sein wird. Auf der anderen Seite besorgt er chinesischen und koreanischen Sammlern und Museen zum Beispiel Beuys, Penck, Rauschenberg und Richter. Er ist auf allen großen Messen vertreten. Eine halbe Million Euro gibt er allein dafür im Jahr aus. Er kommt in manchen Jahren auf mehr als 350 000 Flugkilometer. Am 29. Februar 2012 schreibt der Sechzigjährige: "Während meiner sechstägigen Reise habe ich insgesamt rund 24 000 Flugkilometer zurückgelegt, achtmal den Flieger gewechselt, fünfmal den Koffer ein- und ausgepackt, in vier verschiedenen Betten geschlafen und mich in drei Zeitzonen bewegt. Dazwischen habe ich an 13 Meetings teilgenommen, vier Ausstellungen besucht; eine Ausstellung eröffnet und vier Künstler in ihren Ateliers besucht."

Das steht auf Seite sieben, und ich bin schon in Ehrfurcht erstarrt. Ich hatte ihn bisher beneidet. Er hat mit Kunst zu tun, kommt viel rum und verdient bestimmt sehr gut - das waren so meine Gedanken. Diese kleine Notiz vom Februar 2012 hat den Schultz-Ausschnitt meines Weltbildes umgestürzt. Der Neid ist weg. Jetzt mache ich mir Sorgen um ihn. Es fällt mir nicht leicht, diese Mails zu lesen. Nein, falsch. Es fällt mir nicht leicht, das Buch zu lesen oder auch nur in ihm. Die Mails hätte ich verschlungen. Es ist ein fröhliches Name-Dropping, eine Aufzählung dessen, was er sah und was er sagte. Es wird selten darin nachgedacht. Aber natürlich freut es mich, dass auch er bei der Biennale 2011 in Venedig begeistert war von der Gegenüberstellung Polke - Tintoretto. Wenn ich es jetzt lese, erinnere ich mich wieder daran. Und freue mich. Wo also ist das Problem? Michael Schultz schreibt Sätze wie "mir ist die Nachhaltigkeit meiner Arbeit wichtig" oder "… die sich mit überzeugenden Arbeiten im prominenten Feld bestens positionierten".

So etwas stört Sie nicht? Dann haben Sie es gut. Sie können ganz unbeschwert lesen, was einer der bekanntesten Galeristen Deutschlands treibt, was ihn bewegt. Sie werden den Kunstbetrieb ein wenig besser verstehen und vielleicht eine Ahnung davon bekommen, warum er ganz anders funktioniert als andere Märkte und doch auch wieder exakt gleich. Da Sie das Buch sowieso nicht mit ins Bett nehmen können, legen Sie es auf den Schreibtisch neben Ihren Laptop und schlagen Sie nach, wenn Sie etwas nicht wissen. Ich schlug zum Beispiel "Bong-Chae Son" nach. Schultz notiert, dass er immer alles, das er von ihm hatte, auch verkaufen konnte. Kein Wunder, dachte ich, als ich die riesigen, dennoch zarten Baumbilder des Koreaners sah. Bong-Chae Son arbeitet mit alten koreanischen Traditionen und mit westlichen Formaten gleichzeitig. Er ist Repräsentant einer sehr dekorativen Weltkunst. Wer auf die Website der Galerie Michael Schultz geht, stößt dort auf ein "Migrants" genanntes Baumbild von Bong-Chae Son, das er kaufen könnte. "Preis auf Anfrage" heißt es.


Bong-Chae Son, Migrants, 2012

Als am 19. März 2013 es in Berlin noch immer schneit, meint ein Kollege zu Schultz, die Bilder des Frühjahrs werden wohl eher finster ausfallen. Das Wetter mache ja alle so trübsinnig. Schultz glaubt nicht daran. Er setzt darauf, "dass die ernsthaften Kunstproduzenten sich ihre eigene Wirklichkeit auf die Leinwände projizieren und diese hat in der Regel mit der tatsächlichen  Wahrnehmung nichts zu tun." Eine heitere Kontroverse, die an ein immer wieder heftig umstrittenes Problem rührt: Wie viel Wirklichkeit ist in der Kunst? Zum Beispiel wüsste ich gerne, das steht aber nicht auf der Website der Galerie, ob die "Migrants" von Bong-Chae Son so heißen, weil die Bäume im Bild stehen, als wären sie auf der Flucht oder ob es auch 'fremde' Bäume sind, eingewanderte also?

Natürlich geht es nicht nur um Kunst in Schultz' Mails. Wie käme sonst Angela Merkel zu so vielen Auftritten? Aber er hat auch ganz andere Ereignisse auf dem Schirm: Am 31. März 2014 teilt er seinen Lesern mit: "Wer derzeit seinem Näschen was Gutes tun will, sollte kistenweise Bananen kaufen. Bevorzugt bei Aldi, denn dort wurde seit Jahresbeginn bereits in fünf Filialen unter Bananen verstecktes Kokain entdeckt. Zuletzt wurden in einem sächsischen Supermarkt 20 Kilo reinstes Nasenpulver zwischen den Südfrüchten gefunden. Woher das kommt und für wen die Lieferungen bestimmt sind, stellt die Fahnder vor große Rätsel. Die Kreativität der Schmuggler kennt keine Grenzen. Erst vor kurzem wurde Koks per Briefträger an die Poststelle des Vatikans geliefert." Wer bei Google nachschlägt, dem fällt auf, dass die Meldung vom Koks in den Aldi-Bananen schon vom Januar 2014 war, Schultz den Kunden seiner Daily News also Monate alte Dönekes berichtet.

Für den googelnden Leser ist freilich interessant, dass im Mai 2015 wieder Koks in Aldi-Bananen-Kisten entdeckt wurde. Diesmal nicht mehr wie 2014 140 Kilo, sondern 386! Ich bin so fixiert auf Schokolade, dass diese Koks-Geschichte völlig an mir vorbeiging. Wenn man nicht gerade Arzt ist oder Mitglied einer der staatlichen oder der selbsternannten Verfolgungsbehörden - von letzteren gibt es freilich jede Menge mehr, als ich gut finde -, dann ist einem doch kaum etwas so fremd wie die Süchte der anderen. Ein Beleg dafür scheinen mir die Erfolge der Meinungsforschung. Ich spreche nicht von ihrer Trefferquote, sondern von der Selbstverständlichkeit, mit der jedes Unternehmen davon ausgeht, seine Kunden nicht zu kennen. Man gibt lieber stattliche Summen für deren Befragung durch die einschlägigen Institute aus, als sich auf die eigene Einschätzung oder gar auf die der Mitarbeiter zu verlassen.

Was ist ein Galerist? Das ist eine Frage, die nur ein homo sapiens stellen kann. Für den ist es selbstverständlich, dass es von jeder Spezies nur einen Vertreter gibt. Er schließt von seiner eigenen Einzigartigkeit auf die der anderen. Bei andern Spezies geht es aber ungleich vielfältiger zu: denken Sie nur an die ach so unterschiedlichen Hundevariationen. Jedenfalls scheint mir sicher, dass es auch die unterschiedlichsten Spielarten von Galeristen gibt. Womöglich sogar Bulldoggen. Falls Michael Schultz davon etwas haben sollte, in seinem Buch ist es nicht zu finden. Er erinnert ein wenig an einen Schäferhund, der seine Herde behütet, indem er sie umkreist. Er ist dabei urbi et orbi. Anders als der Hund, der ja auch nur ein Gehilfe des Schäfers ist, sorgt der Galerist dafür, dass immer wieder neue Schafe in die Herde aufgenommen werden. Meist sind es - das entnimmt der Laie der Selbstdarstellung des Galeristen - schutzbedürftige Lämmer, die besser nicht, kaum beginnen sie das erste Geld zu verdienen, den Galeristen, der sie aufgebaut hat, wechseln. Schultz ist inzwischen aber auch der Vater, der weiß, dass die Kinder, flügge geworden, das Nest verlassen müssen, das sie genährt hat. Er weiß das, aber es tut weh. Nicht nur dem Vater, sondern auch dem Konto des Galeristen. Es ist dieser Konflikt, der dem Buch eine Spannung gibt, der auch der Laie, der nicht Kunst-Süchtige, beim Lesen darin immer wieder - manchmal lachend - erliegt.

Michael Schultz: (Un)zensiert - 1000 Bekenntnisse über Kunst, Künstler, über Gott, den Islam, über Sex, Fussball und die Tragödien unserer Zeit, Edition Braus, 629 zweispaltige Seiten, mit vielen farbigen Fotos (besonders schön das, auf dem Nordkoreas Diktator Kim Jong-Un der Basketball-Legende Dennis Rodman wohl gerade Basketball erklärt),  48 Euro