11.05.2015. Fotografien von Andreas Schoelzel aus der Wendezeit - ein Kalender für das Jahr 2015
Es ist nicht zu verzeihen, jetzt erst auf diesen Kalender, der ja schon ab 1. Januar 2015 in Gebrauch sein könnte, hinzuweisen. Und dann auch noch auf das Januarblatt. Aber noch weniger zu verzeihen wäre, nachdem ich diese Aufnahme vom 3. Januar 1990 gesehen habe, nicht hinzuweisen. Die Aufnahme entstand am Rande des "Runden Tisches". In der Mitte steht alle überragend der 1952 in Cottbus geborene
Martin Gutzeit. Er hatte in der DDR den Wehrdienst verweigert, war Pastor geworden und Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der DDR. Seit 1993 ist er Berliner Landesbeauftragter für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR. Um ihn herum stehen
Ingrid Köppe und
Reinhard Schult vom
Neuen Forum,
Konrad Weiß von
Demokratie Jetzt und
Wolfgang Schnur vom
Demokratischen Aufbruch und
Ibrahim Böhme, SDP. Das Foto ist ein Schnappschuss und gleichzeitig ein Gemälde. Wolfgang Schnur und Ibrahim Böhme sind inzwischen beide als Mitarbeiter der Staatssicherheit bekannt. Gutzeit spricht aus der Höhe seiner Körpergröße aus einem weitmaschigen Pullover heraus mit Schnur. Der hält den Kopf geradeaus, hebt aber den Blick, zwar nicht bis zu Gutzeits Augen, aber doch immerhin bis zu dessen Lippen. Man hat den Eindruck, er will ihm nicht in die Augen sehen. Gutzeit blickt nach unten. Er sucht den Blickkontakt. Im Rücken Gutzeits steht im dunklen Dreiteiler mit weißem Stecktuch Ibrahim Böhme, der den Kopf leicht gesenkt, das Auge der Kamera sucht. Ein Schnappschuss, der die
Ikonographie des Judas zitiert.
Man kann diese Aufnahme, nach allem, was man heute weiß, nicht anders sehen. Fotografen zeigen mehr als sie sehen. Michelangelo Antonioni hat daraus seinen großartigen Film "Blow up" gemacht. Schoelzel dieses Foto. Schreibern gelingt das fast nie. Zu genau, müssen sie bedenken, was sie notieren. Nur die allerwenigsten können abbilden. Der Protokollsatz ist kein literarisches Genre. Der 1960 in Gifhorn in Niedersachsen geborene
Andreas Schoelzel arbeitet seit 1981 als Fotograf. Auf seiner Website kann man das vielleicht beste Foto, das jemals von Nina Hagen gemacht wurde (
1998 im Tempodrom), bestaunen oder ein paar großartige Heiner Müller-Porträts aus dem Jahre 1994. Leider habe ich dort dem Gutzeit-Böhme-Schnappschuss nicht gefunden. Den Kalender bekommt man vielleicht noch über:
www.schoelzel.net