Vom Nachttisch geräumt

Der Heilige Christophorus

Von Arno Widmann
17.03.2016. Cees Nootebooms Reise zu Hieronymus Bosch lehrt uns, dass Europa nicht existiert.
Wir Leser sind untreue Gesellen. Dachte ich vor ein paar Monaten. Wie lange habe ich nichts mehr von Cees Nooteboom gelesen. Ich las ihn gerne: seine Gedichte, seine Romane, seine Reisebeschreibungen, seine Essays. Und jetzt komme ich schon ein paar Jahre ohne ihn aus. So dachte ich. Ich wollte etwas darüber schreiben, dass wir nicht vor den Verlagshäusern demonstrieren, um etwas Neues zu lesen zu bekommen von den Autoren, die wir lieben. Wir Leser sind von gar zu vornehmer Zurückhaltung. Wir sollten uns ein wenig abgucken von den kreischenden Teenagern, die von ihrer Boygroup Zugabe nach Zugabe verlangen.

Jetzt ist wieder etwas erschienen von Cees Nooteboom: "Reisen zu Hieronymus Bosch - Eine düstere Vorahnung". Es ist ein kurzer Text in einem sehr schönen Bildband mit vielen Detailaufnahmen aus Boschs Gemälden. Es ist wieder der leichte, leicht melancholische Nooteboom-Sound, dieses angedeutete Wissen um die Vergeblichkeit all unserer Bemühungen und die Schönheit, die darin steckt, dass wir sie - gewissermaßen wider besseres Wissen - auf uns nehmen. Er sieht davon etwas in Hieronymus Bosch. Er führt es uns aber vor allem an der Vergeblichkeit seiner Reise zu Hieronymus Bosch vor. Er löst keines der Geheimnisse dieses Malers. Er kann keine der Figuren erklären. Ja, er schreckt davor zurück, die Erklärungen, die er in dieser oder jener dicken oder auch nicht ganz so umfangreichen Abhandlung über Hieronymus Bosch findet, zu referieren.

Stattdessen geht er ganz nahe heran an die Wimmelbilder und beschreibt, was er sieht. Da dieser Essay im Auftrag des Prado entsteht, darf er ran an die Bilder, wie sonst nur die Restauratoren. Er schürt den Neid des Lesers und ist doch in seiner Hilflosigkeit, was die Entschlüsselungen der Bedeutungen der Boschschen Bilderwelt angeht, ganz solidarisch mit ihm. Es gibt Stellen in dem kleinen Essay, da beobachtet man, wie der Erzähler aus Nooteboom ausbricht und wie er ihn zurückpfeift.



Und dann gibt es das Postskriptum 4. Es weitet dem Leser Augen, Verstand und Herz. Nooteboom sitzt zu Hause an seinem Schreibtisch und versucht aufzuschreiben, was er gesehen hat auf seiner Reise zu Hieronymus Bosch. Der hartnäckige Zeitungsleser, der Nooteboom ist, stößt am 2. September 2015 auf der Titelseite von El Paìs auf ein Foto. Das zeigt einen türkischen Polizisten an der ägäischen Küste, der ein ertrunkenes syrisches Kind trägt. Vor Nooteboom liegt eines seiner Bosch-Bücher, darin Boschs Heiliger Christophorus aus dem Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. Nooteboom schreibt: "Ein heidnischer Riese, Reprobus, findet ein Kind am Ufer eines Flusses und erkennt, dass es ans andere Ufer hinüber will. Er hebt es auf seine Schultern und watet durch das Wasser. Im Fluss wird das Kind schwerer und schwerer, bis er es kaum noch tragen kann. Als sie drüben ankommen, ist der Riese erschöpft.

Das Kind war Christus, und seit dieser Zeit heißt der Mann Christophorus, er ist der Schutzpatron aller Reisenden. In dem Gemälde hat der Heilige die gleiche Körperhaltung wie der Soldat an der türkischen Küste. Leicht vorgebeugt trägt er das Kind äußerst vorsichtig zum Ufer, wo es in Sicherheit sein wird. Auf dem Bild ist sein Kopf nach rechts gewandt, ebenso wie der Kopf des Mannes auf dem Zeitungsfoto nach rechts, uns zugewandt ist. Er geht, als sei auch dieses Kind zu schwer; und das ist es auch, wegen des Gewichts des Todes. Das Kind war zu schwer für Europa, weil Europa nicht existiert. Es konnte dieses Kind nicht tragen."

Cees Nooteboom: Reisen zu Hieronymus Bosch - Eine düstere Vorahnung, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Schirmer/Mosel, München 2016, 77 Seiten, 69 farbige Abbildungen, 29,80 Euro.