Vom Nachttisch geräumt

Bruder Sonne und Schwester Mond

Von Arno Widmann
11.05.2015. Die Armutsbewegung und der Blick auf den Muezzin in den Schriften Franziskus von Assisis
Auf Seite 282 beginnt der sogenannte Sonnengesang. Das heißt, da beginnen die einführenden Worte des Herausgebers. Dieter Berg erzählt, dass überliefert sei, Franz von Assisi habe den 33 Zeilen - so viel Jahre lebte Jesus, so viel Jahre also war Gott als sein Geschöpf auf Erden - langen Gesang im Winter 1224/1225, als er krank danieder lag, verfasst. Eingedenk des im dritten Buch Daniel berichteten Lobpreis Gottes und seiner Geschöpfe durch die drei Männer im Feuerofen. Wer als guter evangelischer Christ sich an den Gesang der drei Männer im Feuerofen nicht erinnern kann, der gehe ins Internet und vergleiche die Lutherbibel mit der Vulgata. Es gibt da gewaltige Unterschiede. Der Grund ist: die Vulgata übersetzt nicht aus dem hebräischen Urtext, sondern benutzt die Septuaginta, die griechische Übersetzung aus dem Alexandria des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts. In ihr finden sich die Preisgesänge der Männer im Feuerofen. Luther dagegen hält sich an das hebräische Original, in dem diese Zusätze fehlen. Die Gesänge der Männer im Feuerofen und andere Zutaten zum kanonischen Text hat Luther in die Apogryphen verwiesen. Dort findet der Leser seiner Übersetzung die ihm vertrauten Texte unter "Stücke zu Daniel".


Die drei Freunde im Feuerofen (Priscilla-Katakombe in Rom, 3. Jh.)

Doch zurück zum Sonnengesang des Franziskus. Er entstand also als Verarbeitung des Erlebnisses der Krankheit. "Das Erlebnis und die Dichtung" heißt die epochale Aufsatzsammlung Wilhelm Diltheys aus dem Jahre der ersten, der gescheiterten russischen Revolution, aus dem Jahre 1905. Die russische Revolution hat nichts mit Diltheys Essays über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin zu tun. Dass ich sie hier ins Spiel bringe, soll nur daran erinnern, dass der Zeitgeist nie nur einer ist. Er ist eine meist sehr flüchtige Verbindung weit auseinanderstrebender Elemente. Auch die Qualität eines Textes ist das Werk der Kraftanstrengung oder auch der Lässigkeit, mit der ein Autor Kunstfertigkeit und Lebenserfahrung zusammenbringt. Wenn die Lebenserfahrung sich im Text gar zu breit macht, dann kann es passieren, dass der Leser sich vom Text bedrängt fühlt wie vom stinkenden Nebenmann in der S-Bahn. Riecht der Text gar nicht, dann sagt der Leser womöglich: Der versteht sein Handwerk und klappt das Buch wieder zu. Denn in Wahrheit will er nicht das Geschick des Schreibers bewundern, sondern hineingezogen werden in ein Schicksal. Es gibt keine Rezepte und schon gar nicht gibt es solche, die es einem gestatten, nach ihnen Texte zu schreiben, die allen in jeder Lebenslage gefallen. Wenn Sie diesen hier lesen, werden Sie sagen: komm endlich zum Punkt! Wo bleibt der Heilige Franziskus, wo der Sonnengesang? Konzis ist der Nachttisch nie. Er folgt den Ellipsen der Abschweifung, den Versuchungen der Nebensätze. Ich vergaß noch Lukács zu erwähnen, für den Dilthey und die russische Revolution von 1905 zusammengehörten. Aber lassen wir das. Dass ein Gedicht nicht nur kunstfertig sein darf, sondern ein Erlebnis zum Ausdruck bringen muss, um ein großes Gedicht zu sein, das ist ein alter Topos. Aber auch ein alter Topos ist nicht einfach immer da. Er hat Geschichte, ist also mal tief im Brunnen und dann wieder ganz oben in der Hierarchie. Er folgt den Klimaschwankungen der Überzeugungen wie er sie zu bilden hilft.

Franziskus von Assisi lebte von 1181 oder 1182 bis 1226. Er war also etwas über vierzig als er den Sonnengesang schrieb. Es ist ein Preis-, ein Loblied: "Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen,/ zumal dem Herrn Bruder Sonne,/ welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest./ Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz:/ Von Dir Höchster ein Sinnbild." Und so geht es weiter durch Mond und Sterne, durch Wasser und Feuer, durch Früchte und Kräuter bis hin zu diesen Zeilen: "Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod". Das ist ein großartiger Kontrapunkt. Der mündet freilich in die Verheißung, dass der nicht das letzte Wort ist. In den wenigen Zeilen des Sonnengesangs bildet sich ein Chor aus allen Bestandteilen des Universums, ein kosmischer Urklang der Erlösung. Auch der Ungläubige liest diesen Text hingerissen.

Wer von seiner alten Liebe lässt und den Band zu lesen beginnt, der stößt zum Beispiel in einem Brief, den Franziskus wohl 1220 kurz nach der Rückkehr von seiner Orientreise schrieb, auf diese Sätze, die er an alle Bürgermeister und Konsuln, Richter und Statthalter auf der ganzen Welt richtet: "Und möget ihr doch unter dem euch anvertrauten Volk dem Herrn so große Ehre bereiten, dass an jedem Abend durch einen Herold oder sonst ein Zeichen dazu aufgerufen werde, Gott, dem allmächtigen Herrn Lobpreis und Dank zu erweisen." Der Ruf des Muezzin zum Gebet muss Franziskus sehr beeindruckt haben. Die Christenheit, so der Heilige Franz, hätte gut daran getan, diesen islamischen Brauch zu übernehmen. In der Hauptsache aber predigte Franziskus nicht nur die Armut, sondern er praktizierte sie auch. Keiner seiner Gefährten durfte Geld auch nur anfassen. In den italienischen Kommunen, durch die Bettelmönche zogen, hatte die Geldwirtschaft gerade das Kommando übernommen. Der Heilige Franz stemmte sich dieser Entwicklung entgegen. Wie viele damals. Aber er tat es nicht nur als gläubiger Christ, das waren die andern auch, sondern als ein Diener des Papstes. Seine Armut war auch ein Hinweis darauf, dass er dem Heiligen Vater nicht gefährlich werden wollte. Er häufte keine Macht an, nicht einmal Gegenmacht. Franziskus war der gemäßigte, der reformistische Flügel der Armutsbewegung. Man kann das alles in diesem kleinen Band sehr schön nachlesen.

Franziskus von Assisi: Sämtliche Schriften, Lateinisch/Deutsch, Reclam, Stuttgart 2014, hrsg. Von Dieter Berg, 379 Seiten, 9,80 Euro