Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
01.11.2006. "Ist nicht äußerstes Misstrauen angebracht gegenüber dem Bild, das eine offenbar scheuklappendumme Zunft von unserer Geschichte malt?" Arno Widmann über deutsche Historiker, die hundert Jahre lang in der Monumenta Germaniae Historica eine deutsche Geschichte ohne deutsche Juden erzählten, Cees Nootebooms Pilgerfahrten zu Dichtergräbern, die Verwandlungskünste der Eva Hesse, die Verhexung der Massen durch freie Rede, den "Atlas der Körperwelten" von Pierluigi Diano und die Stimme Gottes bei Mozart.
Bis sie sich wurden

Cees Nooteboom ist ein Reisender, ein großer Reisender, also einer, der die Toten besucht. Zusammen mit seiner Ehefrau Simone Sassen ist er zu Dichtergräbern gefahren, zu solchen, die leicht zu finden sind, wie die von Brecht - auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof - und von Arthur Schnitzler auf dem Wiener Zentralfriedhof, aber auch zu dem Friedhof von Thiais: "Erst die weite Fahrt mit der Metro bis Endstation Villejuif, dann noch eine lange Busfahrt mit Linie 285 tief in die banlieue hinein. Marokkanische Restaurants, über den Eingängen gemalte Oasen und Palmen, sehr viel fröhlicher als alles andere, das man in dieser Umgebung zu sehen bekommt. Cimetiere de Thiais, dort muss Celan liegen und auch Joseph Roth, zwei Exilierte am Ende ihrer Reise. Die weiten, betonfarbenen Tore warten abweisend auf der anderen Seite des Boulevards. Wir haben kaum angefangen zu suchen, als schon eine junge schwarze Frau aus dem Friedhofsgebäude stürmt, auf Simones Kameras zeigt und verkündet, man dürfe hier auf keinen Fall fotografieren. Kurz darauf schickt sie zwei Rad fahrende Herren auf den Friedhof, ein seltsames Duo, das wir immer wieder hinter den Grabsteinen vorbeiziehen sehen, zwei auf uns angesetzte Spione."

Andere Gräber - wie die von Kawabata, von Robert Louis Stevenson oder von Bioy Casares - sind prächtige Anlagen, die nur auf Fotografen zu warten scheinen. Wenn ich mich nicht verzählt habe, wurden für diesen Band 83 Gräber fotografiert und - vielleicht sollte man so sagen - besprochen. Es sind vorwiegend s/w-Aufnahmen, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen zustande kamen. Die Texte stammen meist von Nooteboom. Mal sind es zierliche Verbeugungen vor großen Dichtern, mal zarte Erinnerungen und dann wieder ein kleiner Essay, der wie bei Borges den Verstorbenen ehrt durch ironische Imitation. In den Bemerkungen zu Susan Sontag steht: "Ihr Grab ist so, wie sie war, wenig zugänglich". Zu manchen Grabfotos hat Nooteboom nur einen Text des Begrabenen gestellt. Er wird bei Brodsky andere Gründe dafür gehabt haben als bei Ludwig Uhland.

Dass letzterer überhaupt aufgenommen wurde, schreibt der Leser nicht Nootebooms Begeisterung für den Dichter der Schwäbischen Kunde zu. Er wittert darin vielmehr eine Anspielung, als wollte Nooteboom einem Freund damit zuwinken. Freundschaft ist das große Thema dieses Buches. Nooteboom ist hoch begabt darin. Wer ist nicht gerührt, wenn er in dem kurzen Text über Emmanuel Bove ein Loblied auf Jan Siebelink findet, der 1983 einen "wunderbaren Artikel" über den französischen Autor geschrieben haben soll? Wie schön sind die Zeilen über Mary McCarthy, mit der er 27 Jahre lang befreundet gewesen war; dass er über Benn spricht, um an Freunde zu erinnern, die ihm Benns Gedichte vorgetragen haben und dass er nun, wann immer er Benn liest, ihn liest mit ihren Stimmen im Ohr! Nooteboom hat überall in seine Texte diese Freundschaftsvignetten untergebracht, Einlegearbeiten, die der flüchtige Leser leicht übersieht, die aber für den, dessen Auge erst einmal darauf gelenkt wurde, den Texten eine irritierende, gleichwohl einnehmende Intimität geben.

Man könnte also auf die Idee kommen, es handele sich um Freundschaften aus stilistischen Gründen. Aber das wären ganz sicher nicht die schlechtesten. Manchmal - wie zum Beispiel bei Borges, bei Wallace Stevens, bei Vallejo oder bei Wittgenstein - steht neben dem Foto ein Gedicht von Cees Nooteboom. So auch beim emigrierten und remigrierten Dichter Paul Hoffmann (1917-1999), der im Tübinger Hölderlinturm Lyrikseminare veranstaltete:

"Der Dichter des Lesens

Kam mir entgegen,
in meinem dunklen Gehäuse,
Leuchtspur,

in einem Turm
heiligen Wahnsinns,
dieser eine,

hörte mein Wort,
das ich nicht hörte,
hörte mein Fremdes,

stimmte mich,
mit dem feinsten Ohr für verborgene Töne,
stimmte mir zu.

Verbannter, hatte er,
in einem leeren Fremdland,
Wörter gesummt und geschliffen,

bis sie sich wurden.
Gewappnet kam er zurück,
zu ihrer früheren Schande,

ihrer vor Lügen
lautlos gewordenen,
ihrer verdorbenen Sprache,

die er aufliest und hegt,
mit Gedichten heilt,
sich wiedergewinnt.

Aus seiner Seele wächst Licht,
Schneelorbeer um seinen Kopf.
Glänzend bis du es, der Lehrer,

der Dichter des Lesens."

Cees Nooteboom: "Tumbas". Gräber von Dichtern und Denkern. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mit Fotografien von Simone Sassen, Schirmer/Mosel 2006. 244 Seiten, 135 Tafeln, davon 19 in Farbe, 39,80 Euro. ISBN 3829602669.


Märtyrer und Selbstmordattentäter

Der erste Band der Monumenta Germaniae Historica erschien September 1826. 2005 wurde der erste Band dieser Reihe veröffentlicht, der hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland sammelt. Es ist nicht so, dass man sich erst jetzt klar gemacht hätte, dass es ein Deutschland ohne Juden niemals gegeben hat. Es gibt seit mehr als einhundert Jahren Historiker, die darauf auch in umfangreichen Editionen hingewiesen haben. Aber die Monumenta Germaniae Historica stellten sich bis Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts taub. Es waren auch nicht etwa Inhaber deutscher Lehrstühle für deutsche Geschichte, denen diese systematische Lücke auffiel. Es war Benjamin Z. Kedar, Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, der den Vorschlag machte. Es dauerte dann noch fast ein Vierteljahrhundert bis 2001 die Monumenta Germaniae Historica eine förmliche Vereinbarung mit der Israelischen Akademie der Wissenschaften schloss, um die Edition der entsprechenden Quellen zu organisieren.

Wer das im Geleitwort zu dem ersten Band der Folge liest, hofft auf ein Buch, das uns erklärt, woran und an wem das Projekt Jahrzehnt um Jahrzehnt scheiterte. Man möchte auch wissen, ob es an deutschen Lehrstühlen für mittelalterliche Geschichte niemanden gibt, der hebräische Quellen erschließen, edieren kann. Ist nicht äußerstes Misstrauen angebracht gegenüber dem Bild, das eine offenbar scheuklappendumme Zunft von unserer Geschichte malt?

Eva Haverkamp, die Herausgeberin des ersten Bandes "Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs", studierte in Köln, Jerusalem und Konstanz. Heute unterrichtet sie in an der Rice University in Houston. Soviel zum Thema Exzellenz-Förderung. Das Buch bringt die hebräischen Texte und Übersetzungen über die Pogrome in Worms, Mainz, Köln, Niederrhein, Trier, Metz, Regensburg, Prag, Ungarn und Speyer. Es handelt sich im Wesentlichen um drei hebräische Berichte aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, deren frühesten uns vorliegenden Abschriften aus dem 14. Jahrhundert stammen. Eva Haverkamp hat das alles nicht nur sorgfältig kommentiert, sondern auch eine mehr als 240 Seiten lange Einleitung dazu verfasst, die nicht nur die Texte, ihre Varianten, ihre Abhängigkeiten von einander und die Zeiten über die sie schreiben und in denen sie entstanden, erschließt, sondern gerade dadurch auch so manche Debatte der Gegenwart sehr alt aussehen lässt.

Die Judenverfolgungen zwischen April und Juni 1096 spielten sich gewissermaßen auf dem Weg ins Heilige Land ab. Ihr Ziel war nicht nur, die "Mörder Christi" zu schlagen, sondern auch Geldbeschaffung. Der antijüdische Affekt vieler kleiner und größerer Kreuzfahrer traf sich mit dem scheinbar hehren Ziel des Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen. Manche Zugführer der bewaffneten Pilgerfahrten bedrohten jüdische Gemeinden der Städte, durch die sie zogen. Die sollten zahlen oder sterben. Schutzgelderpressung im Namen Christi. Man ging oft einen Schritt weiter und verlangte Briefe, in denen eine jüdische Gemeinde der anderen auftrug, den christlichen Herren den Weg mit Gold zu pflastern.

Pogrome hatte es immer wieder gegeben. Diese waren etwas Neues. Sie waren ideologisch motivierte Mordtaten, eingebettet in ein Weltverbesserungsprogramm. Die historische Forschung war lange geneigt, darin ein entlastendes Argument zu sehen. Wir wissen heute nur zu genau, dass die Verbindung von Raub- und Mordlust mit der Vorstellung, sie dienten der Beglückung der Menschheit, weit entfernt davon, sie zu humanisieren, ihre Wucht vielmehr um ein Vielfaches verstärkt. Den jüdischen Opfern war das schon damals schnell klar. Die deutschen Gemeinden erreichten noch vor den Kreuzfahrern die Warnungen ihrer französischen Brudergemeinden vor diesen. Die Berichte machen freilich deutlich, wie wenig man auch damals mit solchen Warnungen anzufangen wusste. Man glaubte, es werde schon nicht so schlimm kommen.

Nur zu oft kam es noch schlimmer. Die überlieferten Texte sind keine Augenzeugenberichte. Es sind zwanzig Jahre oder ein halbes Jahrhundert später entstandene Versuche, sich klar zu werden über das Geschehene. Es sind Versuche der Überlebenden und der Juden gebliebenen, mit den Metzeleien und den hundertfachen Zwangstaufen fertig zu werden. Im Hintergrund steht die Frage, ob das der Vorschein des Endes des europäischen Judentums war oder ob es nach diesem Geschehen ein neues jüdisches Leben geben kann. Man erkennt unschwer die Ähnlichkeit zur Situation nach dem Holocaust. Die Infragestellung der Berechtigung der eigenen Existenz schon einfach darum, weil man überlebt hat, ist keine Erfindung einer Post-Holocaust-Psychologie, sondern spielt in den Berichten des 12. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.

Das Wort "Bericht" ist nicht so zu verstehen, wie wir es heute begreifen. Hier steht das Allgemeinste neben dem unwichtigsten Detail. Die Arbeit des Historikers besteht bei Texten wie diesen weniger in der unlösbaren Aufgabe, herauszufinden, wie es wirklich gewesen ist, als vielmehr sich darüber klar zu werden, was die Absichten des Autors oder der Autoren waren. Ein Satz, der gleich am Anfang von Eva Haverkamps Einführung in die Edition steht, sei hier an das Ende dieses viel zu kurzen Hinweises gesetzt - als ein Beitrag zum Dialog der Kulturen: "Der Märtyrertod von Männern und Frauen jeden Alters, die Bereitschaft der Selbstopferung als Akt der 'Heiligung des göttlichen Namens', der auch den 'Selbstmord', die Tötung anderer und sogar die 'Opferung' der Kinder mit einschloss, kreierte das typisch aschkenasische Bild eines Märtyrers und wurde in der Folgezeit zum freilich umstrittenen Ideal erhoben."

"Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs". Herausgegeben von Eva Haverkamp. Band 1 der Reihe Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland innerhalb der Monumenta Germaniae Historica. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2005. 626 Seiten, 130 Euro. ISBN 3775213015.


Der Trost der Kunst?

Eva Hesse, 1936 in Hamburg geboren, 1970 in New York gestorben, Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, galt zu Lebzeiten als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Danach schien sie eine Weile aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Seit ein paar Jahren wächst wieder das Interesse an ihr und ihren Arbeiten. Weniger an ihren Gemälden als an ihren rätselhaften "Skulpturen". Viele davon sind von der Künstlerin ausdrücklich nicht benannt worden. Ein aufgehängtes Rad durch das ein Seil gehängt ist oder die Schnüre, die von der Decke hängen wie ein Netz, das die Fischerleute noch auseinander filzen müssen. Eva Hesse entwickelte - sehr zum Ärger von Museen und Konservatoren - eine Leidenschaft für sich auflösende Materialien. Die scheinbare Beliebigkeit ihrer Arrangements, diese "Wie-Zufälligkeit" vieler ihrer Installationen steht in einem irritierenden Kontrast nicht nur zu ihrer oft ganz altmodischen Schönheit, sondern auch zu dem im Betrachter geweckten Gefühl von Kraft und Bedeutung.

Es liegt eine merkwürdige Magie in ein paar an die Wand gestellten Fiberglasröhren oder in, wenn man das so sagen darf, Latexleinwänden. Kunststoffe werden unter Hesses Händen zu Natur. Sie wollte die Polyethylene der Industrie entreißen, sie humanisieren. Sie wusste, dass das auch bedeutete, den Menschen als Kunststoff zu begreifen. Die heute so heftig geführte Debatte um die Mensch-Maschine-Synthese wurde in den sechziger Jahren mit der Einbeziehung der Kunststoffe in die künstlerische Praxis vorgedacht und vorgemacht. Die Zusammenführung von organischer und anorganischer Chemie im Kunstwerk faszinierte damals sehr viele junge Künstler.

Vieles von dem, was wir heute unter "Beuys" abhandeln, waren in Wahrheit von zahlreichen Altersgenossen praktizierte Suchbewegungen. Das Umschlagen von äußerster Künstlichkeit, fortgeschrittenster Technologie in eine bewusst schamanische Magie lässt sich auch am Werk von Eva Hesse beobachten. Die 1944 in Michelstadt geborene Rebecca Horn hatte Ende der 60er Jahre auch sehr viel mit Polyesther gearbeitet und dabei ihre Lungen so sehr vergiftet, dass sie zu einem langen Sanatoriumsaufenthalt gezwungen war. Danach arbeitete sie mehr mit Stoffen und Federn. Jemand sollte einmal die Geschichte der Kunststoffe in der Kunst schreiben.

"Encountering Eva Hesse" bietet neben zahlreichen Abbildungen, die nahezu das ganze Werk zeigen, eine Reihe von Beiträgen, die gleichermaßen mit der Entstehungs- wie mit der Rezeptionsgeschichte von Eva Hesses Arbeiten vertraut machen. Das Interview mit Doug Johns, ihrem - er war freilich mehr als das - Techniker, erhellt zum Beispiel den Weg von der Skizze bis zur fertigen Fiberglasinstallation. Ein eigener Beitrag beschäftigt sich mit Hesses späten Fenster-Gouachen.

Zum Schönen an diesem Buch gehört, dass es offen ist. Es werden verschiedene Blicke auf Eva Hesses Werk geboten und dem Leser und Betrachter steht es frei, sich für den einen oder den anderen oder für keinen davon zu entscheiden. Zum Beispiel wird Eva Hesses Entscheidung, Materialien mit einem frühen Verfallsdatum zu nutzen von Griselda Pollock damit in Zusammenhang gebracht, dass Hesses in Deutschland zurückgebliebene Verwandtschaft von den Nazis vergast wurde. Doug Johns dagegen meint, Eva Hesse habe die vierte Dimension - die Zeit - mit in die bildende Kunst hinein nehmen wollen.

Man neigt dazu, Johns Recht zu geben, denn tatsächlich ging es ja sehr vielen Künstlern in jenen Jahren exakt darum. Aber, sowie man die Frage nach dem Warum? stellt, bekommt die Erklärung von Pollock wieder stärkeres Gewicht. Schließlich gehörte zu den prägenden Kindheitseindrücken jener Generation, dass alles zerstört wird, dass nichts bestehen bleibt. Das galt allerdings für Opfer und Täter. Man wird vielleicht auch daran denken müssen, dass die Wahl vergänglicher Materialien auf etwas Versöhnliches deutet. Der Tod gerade nicht als gewalttätiger, plötzlicher Eingriff auf ausgesuchte Ziele, sondern als ein langsames, schleichendes Vergehen, das jedem widerfährt. Darin liegt doch etwas Tröstliches.

"Encountering Eva Hesse". Herausgegeben von Griselda Pollock und Vanessa Corby. Englisch. Prestel Verlag, München 2006. 265 Seiten, 120 farbige Abbildungen, 59 Euro. ISBN: 3791333097.


Freie Rede freier Menschen

Mein Schweizer Onkel pflegte auch in der Öffentlichkeit, in Restaurants, in Zügen, auf der Straße sehr laut zu sprechen. Er verteidigte diese Angewohnheit gegen die Einwände seines sich genierenden Sohnes: "Ich bin ein freier Bürger. Ich darf sagen, was ich will und wie ich es will. Ich habe nichts zu verbergen. Jeder kann es hören." Zunächst hatte ich nur den Stolz, das Knorrige darin bemerkt. Viele Jahre später - er war längst gestorben - erst erkannte ich, dass mein Onkel der Öffentlichkeit, den anderen Bürgern, das Recht zugestand, über ihn, seine Lage und seine Gedanken Bescheid zu wissen. Er redete frei, weil er unfrei war. Das Recht auf freie Meinungsäußerung war bei ihm zu einer Pflicht geworden.

Der Bürger hatte dem Bürger transparent zu sein. Jedes Haus ein Glashaus, jeder des anderen Tugendwächter. Das fällt mir ein bei der Lektüre der Beiträge in dem von Ineke Sluiter und Ralph M. Rosen herausgegebenen Band über "Free Speech in Classical Antiquity". Man wird davon ausgehen müssen, dass es schon in der Affenhorde einen Kampf darum gibt, wer etwas zu sagen hat.

Die Geschichte der Menschheit gar ist ganz wesentlich ein Kampf um das Rederecht. Man denke nur an das berühmte paulinische Schweigegebot für Frauen in der Kirche. Die Beiträge des umfangreichen Bandes beschäftigen sich mit einer Fülle von Einzelfragen. Es wird eingegangen zum Beispiel auf die Bedeutungsgeschichte der griechischen Parrhesia oder der Unterscheidung von Libertas und Licentia bei der Beurteilung römischer Satiren. Man liest über den Sophisten Gorgias, der 427 vor Christi Geburt nach Athen kam und die Bürger der Stadt mit seinen Auftritten überwältigte. Er muss gewirkt haben wie heute evangelikale Massenprediger in den USA es tun. Gorgias nutzte die freie Rede nicht nur als ein Massenmedium; er begriff es auch als solches und setzte es ein, wie noch keiner verstanden hatte es einzusetzen.

Es ist möglich, sagte Gorgias, die Menschheit durchs bloße Reden zu zwingen, das eine zu tun und das andere zu lassen. Man kann durchs Reden die Menschen verhexen, so dass sie nicht mehr verantwortlich gemacht werden können für ihr Tun. Wir lernen, dass die antike Tradition an dieser Stelle die Redefreiheit eingeschränkt wissen wollte. Wer die Instrumente seiner Beredsamkeit nutzt, um die Anderen zu entmündigen, der verwirkt das Recht auf freie Meinungsäußerung. So hoch schätzen wir heute das Wort nicht. Es gibt freilich auch bei uns immer mal wieder Situationen, in denen wir ahnen können, vor welcher Macht die Athener sich schützen wollten. Man denke nur an die Rede, mit der Oskar Lafontaine Rudolf Scharping entthronte.

Die klassische athenische demokratische Propaganda hat immer daran festgehalten, dass die freie Rede nicht nur ein Recht des freien Bürgers ist, sondern vor allem eine Methode, um nach Abwägung der Argumente die vernünftigsten Entscheidungen treffen zu können. Ein Einzelner kann das nicht tun. Je weiter der Kreis derer, die sich äußern können, desto wahrscheinlicher, dass auch wirklich alle Gesichtspunkte in die Entscheidung mit einbezogen werden. Je mehr Übung die Bürger in der Abwägung der Argumente haben, desto weiter bringen sie es in dieser Kunst. Dem Einwand der Konservativen, Demokratie setze klügere Menschen voraus, als die Natur sie uns zur Verfügung stelle, antworten die Demokraten mit dem Argument, Demokratie setze Klugheit nicht voraus, sondern ermögliche sie.

Die freie Meinungsäußerung entwickelt auch den Mut der Bürger. Sie sind, so Demosthenes 338 vor Christus, auch die Mutigeren im Kampf. Nicht nur, weil sie auf den Volksversammlungen gelernt haben, für sich und ihre Ansichten einzustehen. Sondern vor allem, und da erkenne ich meinen Onkel, den Schweizer Demokraten, als einen späten Nachfahren des Demosthenes, weil sie davon ausgehen müssen, dass jede Feigheit öffentlich gemacht werden wird. Ihre Angst davor, ihre Scham macht sie zu Helden. Wer, geführt von den Autoren dieses Bandes, die antiken Demokraten genauer liest, dem wird bald auffallen, dass sie dem demos, dem Volk, sehr viel Honig ums Maul schmieren. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass die so großartig klingende Demokratietheorie ganz wesentlich auch der Suggestion dient, der Verhexung der Massen. Man nimmt den Menschen ihre Urteilskraft, indem man sie lobt. Eine einfache, aber wohl ewig wirksame Methode.

"Free speech in classical antiquity". Edited by Ineke Sluiter & Ralph M. Rosen. Brill, Leiden 2004. 450 Seiten, 120 Euro. ISBN: 9004139257.


Ein Zauberbuch

Manchmal liest man ein Buch und wünscht sich ein Kind dazu, dem man das Buch schenken könnte, ein Kind oder doch jedenfalls jemanden, der sich mit der Begeisterungsfähigkeit eines Kindes auf dieses Buch stürzte, es mit großen Augen immer wieder zur Hand nähme, um es Stück für Stück durch alle Schwierigkeiten hindurch zu erobern, es sich einzuverleiben und von ihm aus auszuziehen, sich klar zu werden über den Rest der Welt. Pierluigi Dianos "Atlas der Körperwelt" ist ein solches Buch.

Auseinanderfaltbare Seiten zeigen den menschlichen Körper. Zelle, Blut, Skelett, Atmung, Verdauung usw. Sehr übersichtlich vorgestellt mit allen Finessen modernster Technik. Eine erste Schautafel führt sie vor, die "Verfahren zur Darstellung des menschlichen Körpers". Fünfzehn sind es, von der Positronen-Emissions-Tomografie über die Lichtmikroskopie bis zur Plastination. Das staunende Kind liest dann, dass der menschliche Körper aus etwa 100 Billionen Zellen besteht, und das Kind wird sich das merken. Es wird diese Information aufnehmen in seine Vorstellung von dem, was viel und was wenig ist. Es wird sich nicht einzwängen lassen in den Schein jener Normalität, in der wir aufgewachsen sind, in dem eine Milliarde bereits eine unvorstellbare Summe ist. Es begreift spätestens, wenn es liest, dass auf und im menschlichen Körper 10 bis 100 Billionen Bakterien leben, dass der Mensch eben nicht das Maß aller Dinge ist. Vielleicht kommt dem Kind der kühne, seine Eltern schreckende Gedanke, dass der Mensch nichts als eine Wiese ist, die Bakterien angelegt haben, um immer frische Nahrung zu bekommen.

Es spielt keine Rolle, ob die Gedanken des Kindes, das immer wieder dieses Buch aufschlägt, alle vernünftig sind. Es sind Gedanken, die es hinausführen aus der Enge seiner behüteten Existenz, indem sie es mitten hineinführen in seinen Körper. Das ist das Erschreckende, das zugleich das Befreiende ist. Das Kind liest, dass jede Sekunde in seinem Leib, also auch während es diese Seiten betrachtet, rund zwei Millionen rote Blutkörperchen neu gebildet und ebenso viele zerstört werden. Das Kind liest weiter und erfährt, dass auch die Knochen ständig ausgetauscht werden, die Nervenzellen auch. Es fragt sich: Wer bin ich? In diesem millionenfachen Wechsel? Das Buch stellt diese Fragen nicht, geschweige denn, dass es sie beantwortete. Aber gerade das macht es zu einem Zauberbuch.

Pierluigi Diano: "Atlas der Körperwelt". Frederking & Thaler, München 2006. 184 Seiten, 6 Altarfalze, 22 Octavius-Ausklapptafeln, 50 Euro. ISBN: 3894056711. ()


Vertriebenenverbände des Numinosen

Wer aus aktuellem Anlass zum "Mozart Handbuch" greift, den Idomeneo-Artikel darin aufschlägt und nachliest, was Silke Leopold über die Oper schreibt, der wird noch einmal verzweifelt fragen, ob sie denn nicht alle verrückt sind, die Körting, Flierl und Harms? Idomeneo, so schreibt Silke Leopold, sei "ein Geniestreich, ein singuläres Ereignis in der Geschichte der Oper, ein schöpferischer Ausbruch gleichsam vulkanischen Ausmaßes". Und so etwas absetzen, weil ein Innensenator oder einer seiner Beamten glaubt vermuten zu dürfen, eine Szene darin könne einen Verrückten oder zwei oder drei dazu bringen, ihren antiabendländischen Feldzug, von dem außer den Herren Huntington und Wehler wenig Menschen etwas gehört haben, auf die Deutsche Oper Berlin auszudehnen?

Man lernt noch viel anderes auf den wenigen Seiten dieses Handbuchartikels. Zum Beispiel, dass sich der Theaterkomponist Mozart darüber Gedanken machte, wie lange ein Liebesduett dauern dürfe. Es könnte leicht der Moment kommen, so der junge Kompositeur an seinen Vater, dass es "für die andern acteurs, die so hir stehen müssen sehr genant" werden würde. "Um keine andere Szene des Idomeneo hat Mozart sich so viele Gedanken gemacht, wie um die Stimme Gottes und von keiner anderen sind mehr Versionen bekannt", schreibt Silke Leopold. Womit wir wieder mitten im aktuellen Streit sind. Es geht bei den Divergenzen zwischen Islam und Christentum ganz wesentlich um die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. So menschlich wie der Christ möchte der Moslem Gott nicht fassen. Die Vorstellung, dass der Einzige einen Sohn habe, ist aberwitzig und dass der auf der Erde herum gelaufen sei wie einer von uns, ist Blasphemie.

Wenn Silke Leopold schreibt, Mozart habe in Idomeneo das Göttliche als "Abwesenheit von Leidenschaft" charakterisiert, so verweist das darauf, dass Mozart mehr die abgrundtiefe Differenz zwischen Göttlichem und Menschlichem betonen wollte als ihre christliche Versöhnung im Gottessohn. Zu lange darf Gott nicht reden, wenn man ihm die Göttlichkeit abnehmen soll, meint der Theatermacher in einem Brief an seinen Vater: "die Stimme muss schreckbar seyn - sie muss eindringen - man muss glauben, es sey wirklich so - wie kann sie das bewirken, wenn die Rede zu lang ist, durch welche Länge die Zuhörer immer mehr von dessen Nichtigkeit überzeugt werden?" Liest man diese Zeilen und denkt an die Theologen, die die Weltgeschichte als ein Drama begreifen, das Gott und in dem Gott mit uns spielt, dann könnte einem die Idee kommen, dass der Einfall, es gebe keinen Gott, die Einsicht also in seine Nichtigkeit, etwas mit seinen gar zu großartigen Auftritten zu tun haben könnte. Zu dem Pfarrerssohn Nietzsche hat er ganz offenbar zu viel geredet und möglicherweise tun die Kirchen, diese Vertriebenenverbände des Numinosen, dem mehr Abbruch, als dass sie es förderten.

Diese Gedanken führen nur scheinbar weit weg von Mozart. Wer weiter im Mozart-Handbuch blättert, wird merken, wie zentral für Mozart etwas ist, das wir, Kinder des amerikanischen Jahrhunderts, als Streben nach Glück fassen. Es ist der Nachfolger dessen, was Gläubige früher als das Sein-bei-Gott begriffen. Kaum jemand hatte so klar wie Mozart den Trieb danach erkannt und so klar auch, dass er nicht erfüllbar ist. Es gibt nur Augenblicke, keinen Zustand des Glücks. Jeder Versuch, diesen Augenblick verweilen zu lassen, überführt ihn - wie die gar zu lange Anwesenheit Gottes - der Nichtigkeit. Daher rührt die Genanz der Betrachter gar zu langer Liebesszenen. Man ist nicht ausgeschlossen, weil die beiden schon für sich so selig sind. Man ist auch ausgeschlossen, weil man weiß - das bringt der Standpunkt des Beobachters mit sich -, dass diese Seligkeit von kurzer Dauer sein wird, dass die beiden schon bald selber nicht mehr wissen werden, was sie aneinander fanden. "Cosi fan tutte" ist so gesehen eine theologische und eine erkenntnistheoretische Abhandlung. Eine, die übrigens in Guiness-Buch verdächtiger Zeit geschrieben wurde: Nach dem 29. August 1789 erhielt Mozart den Auftrag, am 26. Januar 1790 war nach nur fünf Tagen Proben Uraufführung in Wien.

"Mozart Handbuch". Herausgegeben von Silke Leopold unter Mitarbeit von Jutta Schmoll-Barthel und Sara Jeffe. Verlage Bärenreiter, Metzler, Kassel, Stuttgart 2005. 719 zweispaltige Seiten, 79,95 Euro. ISBN: 3476020770. ()